Oba lernte gern etwas Neues hinzu. Oba war gerade damit beschäftigt, ein schmackhaftes Mittagsmahl aus Eiern zu verspeisen – gebraten über der Feuerstelle, die er für sich zu bauen begonnen hatte –, als er einen Wagen auf den Holzplatz rollen hörte. Mittlerweile war es über eine Woche her, daß seine heimtückische Mutter ihr boshaftes kleines Lästermaul zum letzten Mal aufgemacht hatte.
Oba ging zur Tür, öffnete sie einen spaltweit, spähte hinaus und erblickte den hinteren Teil eines Wagens, der dicht beim Haus hielt. Ein Mann kletterte herunter.
Es war Mr. Tuchmann, der regelmäßig kam, um Wolle anzuliefern. In letzter Zeit hatten so viele neue Dinge seine Aufmerksamkeit in Anspruch genommen, daß er Mr. Tuchmann völlig vergessen hatte. Oba blickte kurz hinüber in die Ecke, um zu sehen, wie viel Garn seine Mutter gesponnen hatte, Viel war es nicht. Seitlich daneben lag ballenweise Wolle, die darauf wartete, zu Garn versponnen zu werden. Sie hätte wenigstens noch ihre Arbeit erledigen können, bevor sie anfing, nichts als Scherereien zu machen.
Oba wußte nicht was er tun sollte. Mr. Tuchmann war ein schlanker, hoch gewachsener Mann mit einer großen Nase und ebensolchen Ohren. Sein Haar war bereits leicht ergraut und ebenso kraus wie die Wolle, mit der er handelte. Er war erst kürzlich Witwer geworden. Oba wußte, daß seine Mutter von Mr. Tuchmann ziemlich angetan gewesen war, vielleicht wäre er im Stande gewesen, ihr ein wenig von der giftigen Bissigkeit zu nehmen, sie ein wenig milder zu stimmen. Eine interessante Theorie.
»Tag, Oba.« Seine Augen – Augen, die Oba stets als seltsam klar empfunden hatte – linsten durch den Spalt und wanderten suchend durchs Haus. »Ist deine Mutter in der Nähe?«
Oba, der sich ein wenig gestört fühlte, stand da, den Teller mit der Eierspeise in der Hand, und überlegte krampfhaft, was er tun, was er darauf erwidern sollte. Mr. Tuchmanns Blick fiel auf den offenen Kamin.
Oba wurde hinter der Tür zunehmend mulmig, er ermahnte sich, daß er ein neuer Mann war, ein bedeutender Mann. Bedeutende Männer ließen sich nicht einfach verunsichern, sondern ergriffen stattdessen die Gelegenheit beim Schopf und lieferten einen Beweis für ihre Größe.
»Mama?« Oba stellte seinen Teller ab und blickte kurz hinüber zum Kamin. »Oh, sie muß hier irgendwo sein.«
Eine Zeit lang musterte der kraushaarige Mr. Tuchmann Obas Feixen mit versteinerter Miene. Boshaft, voller Heimtücke.
»Hast du schon von Lathea gehört? Was man in ihrem Haus gefunden hat?«
»Lathea?« Oba saugte sich einen Eierrest aus den Zähnen. »Die ist doch tot. Was kann man schon bei ihr gefunden haben?«
»Oder präziser ausgedrückt, was man nicht bei ihr gefunden hat. Geld nämlich. Lathea hatte Geld, das wußte jeder. Aber in ihrem Haus hat man keins gefunden.«
Oba zuckte mit den Achseln. »Muß wohl verbrannt sein, geschmolzen.«
Mr. Tuchmann brummte skeptisch. »Vielleicht, vielleicht auch nicht. Es gibt Leute, die behaupten, es sei womöglich schon vor Ausbruch des Feuers nicht mehr da gewesen.«
Oba war empört, daß manche Leute einfach an allem herumzumeckern hatten. Konnten sie sich nicht um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern, diese Wichtigtuer?
»Ich werde Mama ausrichten, daß Ihr hier wart.«
»Ich brauche dringend das Garn, das sie gesponnen hat. außerdem habe ich eine neue Ladung Wolle für sie. Jetzt muß ich weiter, es warten ja noch andere auf mich.«
Der Mann hatte eine ganze Schar von Frauen, die für ihn Wolle verspannen. Gönnte er ihnen denn nie eine Verschnaufpause?
»Nun, ich fürchte, Mama ist nicht dazu gekommen ...«
Mr. Tuchmann starrte wieder auf den Kamin, noch unverwandter diesmal. Der Ausdruck seines Gesichts war mehr als bloße Neugier, er grenzte an Verärgerung. Der Webereibesitzer, daran gewöhnt, Menschen herumzukommandieren – und zwar stets in einer solchen Unverblümtheit, daß Oba sich in seiner Nähe unbehaglich fühlte – trat durch die Tür ins Haus und stellte sich, den Blick noch immer nicht vom Kamin lassend, mitten in den Raum. Er hob den Arm und zeigte.
»Was ... was ist das? Gütiger Schöpfer...«
Oba folgte seinem Arm mit dem Blick – zum neuen Kamin, den er gerade vor der Trennwand zwischen Haus und Scheune errichtete. Er fand sein Werk recht gut gelungen – es war sauber und robust ausgeführt. Obwohl der Schornstein noch nicht bis zur vollen Höhe reichte, war er bereits in Gebrauch.
In diesem Moment bemerkte Oba, worauf Mr. Tuchmann tatsächlich zeigte.
Auf den Unterkieferknochen seiner Mutter.
Na, wenn das keine Überraschung war. Oba hatte nicht mit Besuch gerechnet, schon gar nicht mit herumschnüffelnden Besuchern.
Wenn Mr. Tuchmann auszuplaudern begann, was er im Kamin gesehen hatte, würden gewiß Fragen gestellt werden. Jeder würde sich bemüßigt sehen, seine Nase in die Angelegenheit zu stecken und herauszufinden, wem der Knochen gehört haben mochte. Wahrscheinlich würden die Leute anfangen, sich wegen seiner Mutter aufzuregen, wie sie es bereits im Fall der Hexenmeisterin taten.
So weit durfte es Oba, ein neuer Mensch und Mann der Tat, wohl kaum kommen lassen. Oba war ein bedeutender Mann, und bedeutende Männer schritten zur Tat, gingen die Probleme an, so wie sie sich ergaben, rasch, effektiv und ohne Zögern.
Oba packte Mr. Tuchmann im Genick und setzte seinem Rückzug ein Ende. Der Mann wehrte sich nach Leibeskräften, hatte aber trotz seiner Körpergröße und Drahtigkeit Obas Kraft und Schnelligkeit nichts entgegenzusetzen.
Vor Anstrengung ächzend, rammte Oba Mr. Tuchmann sein Messer in den Leib. Der Mund des Mannes klaffte auf, und seine stets so klaren, interessierten Augen weiteten sich ebenfalls, erfüllt von einem Ausdruck des Entsetzens.
Oba folgte dem verhaßten Mr. Tuchmann hinunter zum Boden. Die beiden hatten viel zu erledigen, aber harte Arbeit hatte Oba noch nie gescheut. Zuallererst galt es, sich dieses widerspenstigen kraushaarigen Schnüfflers zu entledigen, danach war die Frage seines Wagens zu klären. Wahrscheinlich würden irgendwelche Leute auftauchen, um nach ihm zu suchen. Obas Leben begann kompliziert zu werden.
Im Grunde hatte Oba überhaupt nichts gegen Mr. Tuchmann – trotz seines unverschämten und rechthaberischen Gebarens. Schuld war allein diese widerwärtige Hexenmeisterin, die noch stets alles daransetzte, ihm das Leben zur Hölle zu machen. Wahrscheinlich hatte sie aus dem Jenseits in der Unterwelt erst ihrer Mutter und dann Mr. Tuchmann eine Nachricht zukommen lassen, dieses Miststück.
Und das alles nur, weil er jetzt ein bedeutender Mann war, daran bestand für ihn kein Zweifel.
Vermutlich war es an der Zeit, Verschiedenes zu ändern. Oba konnte unmöglich hier bleiben und zulassen, daß ständig irgendwelche Leute vorbeischauten und ihm mit ihrer Fragerei den Nerv töteten. Er war ohnehin viel zu bedeutend, um sich länger an diesem nichtswürdigen Ort aufzuhalten.
Ächzend unternahm Mr. Tuchmann einen aussichtslosen Fluchtversuch. Höchste Zeit, befand Oba, daß dieser erbärmliche Witwer sich beim Hüter der Unterwelt zu seiner geisteskranken Mutter und der widerwärtigen Hexenmeisterin gesellte.
Nun endlich war der Augenblick gekommen, Oba konnte sein bedeutendes Leben als neuer Mensch selbst in die Hände nehmen und sich an interessantere Orte begeben.
Im selben Moment, als ihm klar wurde, daß er die Scheune nie wieder würde betreten, nie wieder den gefrorenen Misthaufen würde sehen müssen, den er – der unablässigen Nörgelei seiner Mutter zum Trotz – nicht mit der Schaufel hatte entfernen können, fiel ihm ein, daß er im Handumdrehen damit hätte fertig sein können, wenn er stattdessen die Breithacke benutzt hätte. Also, wenn das kein Ding war.
14
Mit einer spielerischen, gleichwohl makellos präzisen Drehung seines Handgelenks nahm Friedrich Gilder ein Stück Blattgold auf die feinen Härchen seiner Bürste und trug es auf. Das Gold, so leicht, daß es auf dem zartesten Lufthauch zu schweben vermochte, schmiegte sich wie durch Magie auf den Gipsgrund. Konzentriert über seine Werkbank gebeugt, benutzte Friedrich einen Bausch aus Schafwolle, um behutsam – sie dabei auf etwaige Fehler untersuchend – über die frisch vergoldete Oberfläche der kleinen, stilisierten Schnitzerei eines Vogels zu reiben.