»Trägst du mich in meinen Sessel, Friedrich?«
Er nickte und nahm sie auf die Arme, während sie sich an seinem Hals festhielt; eine Frau, die so mächtig war, daß sie mitten im Winter ein warmes und regengepeitschtes Sumpfgebiet um sich herum erzwingen konnte, und doch mußte sie sich von ihm in ihren Sessel tragen lassen, von ihm, Friedrich, einem ganz gewöhnlichen Mann, den sie liebte – einem Mann, der nicht mit der Gabe gesegnet war.
»Du hast meine Frage nicht beantwortet, Althea.«
Ihre Arme schlossen sich fester um seinen Hals.
»Einer dieser vier beschützenden Steine«, sagte sie leise, »bin ich.«
Friedrich musterte mit großen Augen noch einmal die Huldigung mit den darauf verstreuten Steinen. Sein Unterkiefer klappte herunter, als er sah, daß einer der vier Steine zu Asche zerfallen war.
Sie brauchte gar nicht hinzusehen. »Einer der anderen war meine Schwester«, erklärte Althea. Er spürte, wie sie in seinen Armen vor Kummer zu schluchzen begann. »Jetzt sind es nur noch drei.«
15
Jennsen wich dem Menschenstrom aus, der sich die von Süden kommende Straße heraufwälzte. Zum Schutz vor dem Wind dicht an Sebastian gedrängt, spielte sie kurz mit dem Gedanken, sich einfach irgendwo am Straßenrand auf dem hart gefrorenen Boden einzurollen und schlafen zu legen. Ihr knurrte der Magen vor Hunger.
Als Rusty zur Seite hin ausbrach, faßte Jennsen die Zügel enger, dicht an der Trense. Betty – Augen, Ohren und Schwanz in Alarmbereitschaft – schmiegte sich schutzsuchend eng an Jennsens Unterschenkel. Die fußlahme Ziege bekundete ihren Unmut über die vorüberströmenden Menschenmassen gelegentlich mit einem beleidigten Schnauben, sobald Jennsen ihr darauf aber den dicken Bauch tätschelte, begann sie sogleich aufs Heftigste mit ihrem aufgerichteten Schwanz zu wedeln. Sie schaute hoch zu Jennsen, ließ ihre Zunge vorschnellen, um Rusty kurz die Nüstern abzuschlecken, dann legte sie sich zu Jennsens Füßen nieder.
Den Arm schützend um Jennsens Schultern gelegt, unterzog Sebastian die Wagen, Karren und Menschen, die auf ihrem Weg in den Palast des Volkes an ihnen vorüberzogen, einer kritischen Musterung. Das Rattern der vorüberrollenden Wagen, das Lachen und die Gespräche der Leute, das Scharren der Füße und das Hufgeklapper, das alles verschmolz zu einem unablässigen Klangbrei, dem nur das Klirren von Metall und das Knarren der Wagenachsen einen gewissen Rhythmus verlieh. Die von der ständigen Bewegung aufgewirbelten Staubwolken trugen sowohl Essendüfte als auch die Ausdünstungen von Mensch und Tier heran und hinterließen einen staubigen Geschmack auf Jennsens Zunge.
»Was denkt Ihr?«, fragte Sebastian mit gesenkter Stimme.
Das kalte Sonnenlicht tauchte die fernen, senkrecht in die Höhe ragenden Felsklippen des mächtigen Bergplateaus in ein glühendes, lavendelfarbenes Licht. Schon die Klippen selbst erhoben sich, so schien es, mehrere tausend Fuß hoch über der Azrith-Ebene, doch was von Menschenhand auf ihnen errichtet worden war, ragte noch weit höher in den Himmel. Ein Meer von Dächern hinter eindrucksvollen Mauern verband sich zu einem gewaltigen Bauwerk, einer hoch oben auf dem Plateau errichteten Stadt. Die tief stehende Wintersonne verlieh den emporstrebenden Marmormauern und Säulen einen warmen Glanz.
Als ihre Mutter sie von hier fortgebracht hatte, war Jennsen noch klein gewesen. Ihre Kindheitserinnerungen an das Leben hier hatten ihr Empfindungsvermögen als Erwachsene nicht auf die tatsächliche Pracht des Palastes vorbereiten können. Stattlich und stolz erhob sich das Herzstück D’Haras in seiner ganzen Herrlichkeit über einer kargen Landschaft.
Jennsen wischte sich mit der Hand übers Gesicht und verschloß wegen ihrer hämmernden Kopfschmerzen kurz die Augen. Es war eine schwierige und beschwerliche Reise gewesen, Jeden Abend nach dem Haltmachen war Sebastian im Schutz der Dunkelheit auf Erkundung gegangen, während sie damit begonnen hatte, das Lager aufzuschlagen, mehrmals war er überstürzt zurückgekehrt, mit der erschreckenden Nachricht, ihre Verfolger seien im Begriff, sie einzukreisen. Obwohl sie völlig erschöpft war und ihr vor lauter Verzweiflung die Tränen kamen, hatten sie dann wieder zusammenpacken und ihre Flucht fortsetzen müssen ...
»Ich denke«, antwortete sie schließlich, »daß wir aus einem ganz bestimmten Grund hierher gekommen sind und dies ein denkbar ungeeigneter Augenblick wäre, den Mut zu verlieren.«
»Es ist die letzte Gelegenheit, den Mut zu verlieren.«
Sie musterte seine Augen nur für einen kurzen Moment, dann gab sie ihre Antwort, indem sie sich wieder in den zäh dahinfließenden Menschenstrom einreihte. Betty war sogleich auf den Beinen und betrachtete, eng an Jennsens linkes Bein geschmiegt, verwundert all die fremden Menschen. Sebastian drängte sich an ihre andere Seite.
Eine ältere Frau auf einem Lastkarren neben ihnen schaute zu Jennsen hinunter. »Wollt Ihr Eure Ziege vielleicht verkaufen, junge Frau?«
Jennsen, Bettys Strick und Rustys Zügel fest in einer Hand, mit der anderen die Kapuze ihres Umhangs gegen eine Bö des kalten Windes festhaltend, lehnte lächelnd, aber mit entschiedenem Kopfschütteln ab. Als die Frau auf dem pferdegezogenen Karren enttäuscht zurücklächelte und Anstalten machte, weiterzufahren, bemerkte Jennsen ein Schild am Karren, das den Verkauf von Würsten verkündete.
»Madam? Seid Ihr heute hier, um Eure Würstchen zu verkaufen?«
Die Frau langte hinter sich, schob einen Deckel zur Seite und langte mit ihrer Hand in einen fest in Decken und Lumpen gehüllten Kübel. Als sie sie wieder herauszog, hielt sie einen dicken Wurstring in der Hand.
»Heute Morgen ganz frisch gemacht. Könnte ich Euch vielleicht dafür begeistern? Kostet gerade mal einen Silberpfennig, und den ist sie allemal wert.«
Als Jennsen daraufhin lebhaft nickte, reichte Sebastian der Frau die verlangte Münze. Er schnitt den Ring in zwei Teile und gab einen davon Jennsen. Die Wurst war herrlich warm. Jennsen nahm sich kaum die Zeit zum Kauen und schlang rasch einige Bissen hinunter; es war eine Wohltat, ihrem nagenden Hunger ein wenig von seiner Schärfe zu nehmen. Erst als die Bissen unten waren, begann sie den Geschmack bewußt zu genießen.
»Schmeckt köstlich«, rief sie der Frau zu. Die Wurstverkäuferin schmunzelte; das Kompliment schien sie nicht sonderlich zu überraschen. Auf gleicher Höhe neben dem Karren hergehend, fragte Jennsen, »Kennt Ihr vielleicht eine Frau namens Althea?«
Während Sebastian einen verstohlenen Blick über die in Hörweite gehenden Leute schweifen ließ, beugte sich die Frau, keineswegs schockiert über die Frage, hinunter zu Jennsen.
»Dann seid Ihr also wegen einer Weissagung hergekommen?«
Sie war sich zwar nicht völlig sicher, trotzdem fand Jennsen es nicht übermäßig schwer zu erraten, was die Frau meinte. »Ja, ganz recht. Wißt Ihr vielleicht, wo ich sie finden kann?«
»Nun, meine Liebe, die Frau selbst kenne ich nicht, aber von ihrem Mann, Friedrich, habe ich schon gehört. Er kommt in den Palast, um seine vergoldeten Schnitzereien zu verkaufen.«
Offenbar waren viele der Menschen, die sich die Straße hinaufschoben, gekommen, um ihre Waren feilzubieten. Jennsen erinnerte sich noch schwach an ihre frühen Kindertage, damals waren die Menschen jeden Tag in Scharen herbeigeströmt, um alles Mögliche feilzubieten, von Lebensmitteln bis hin zu Schmuck. In vielen Ortschaften in der Umgebung von Jennsens späterem Zuhause gab es einen Markttag, der Palast des Volkes dagegen war eine Stadt, in der jeden Tag Waren umgeschlagen wurden. Sie erinnerte sich, wie ihre Mutter sie zu den Verkaufsständen mitgenommen hatte, um Lebensmittel einzukaufen, und einmal sogar Stoff für ein Kleid.
»Wißt Ihr denn auch, wo wir diesen Friedrich finden können, oder sonst jemanden, der den Weg kennt?«
Die Frau deutete nach vorn, Richtung Palast. »Friedrich betreibt einen kleinen Stand auf dem Marktplatz, ganz am oberen Ende der Straße. Wie ich gehört habe, braucht man eine Einladung, wenn man Althea besuchen will. Ich würde Euch raten, Euch an Friedrich zu wenden.«