»Ganz am oberen Ende?«, fragte Sebastian die Frau.
Sie nickte. »Ihr wißt schon, ganz oben, wo der Palast anfängt. Ich selbst gehe nie so weit hinauf.«
»Und wo verkauft Ihr dann Eure Wurst?«
»Ach, ich habe meinen Pferdekarren, also bleibe ich unten an der Straße und verkaufe sie an die Leute auf dem Weg vom und zum Palast. Man wird Euch nicht erlauben, Eure Pferde mit hinaufzunehmen, falls Ihr die Absicht haben solltet, nach Altheas Mann zu suchen. Eure Ziege übrigens auch nicht. Im Inneren des Felsens gibt es Pferderampen für die Soldaten sowie alle Personen in offizieller Mission, aber Karren mit Vorräten und Ähnlichem benutzen meist die Steilwandstraße an der Ostseite. Sie lassen nicht einfach jeden mit seinem Pferd hinaufreiten.«
»Nun«, meinte Jennsen, »wenn wir hinaufgehen wollen, um Altheas Mann zu suchen, werden wir sie wohl in einem Stall unterstellen müssen.«
»Friedrich kommt nicht oft hierher, und selbst wenn er hier ist, könnt Ihr von Glück reden, falls Ihr ihn erwischt. Aber es wäre schon am besten, mit ihm zu reden.«
Jennsen schluckte den nächsten Mund voll Wurst hinunter. »Wißt Ihr vielleicht, ob er heute hier ist oder an welchen Tagen er in den Palast kommt?«
»Tut mir leid, meine Liebe, aber das weiß ich nicht.« Die Frau schlang sich einen viel zu großen Schal um den Kopf und befestigte ihn mit einem Knoten unter ihrem Kinn. »Ab und zu sehe ich ihn, einoder zweimal habe ich ihm Wurst verkauft, die er nach Hause zu seiner Frau mitgenommen hat.«
Jennsen schaute hinauf zu dem bedrohlich aufragenden Palast des Volkes. »Schätze, dann werden wir uns wohl selbst auf die Suche machen müssen.« Sie hatten den Palast noch nicht einmal betreten, und schon verspürte Jennsen rasendes Herzklopfen. Als sie Sebastians Finger über seinen Umhang streichen und das Heft seines Schwertes berühren sah, konnte sie sich nicht länger zurückhalten und strich ebenfalls mit dem Unterarm über ihre Taille, um sich des beruhigenden Vorhandenseins des Messers unter ihrem Umhang zu vergewissern. Jennsen hoffte, sich nicht lange im Palast aufhalten zu müssen. Sobald sie herausgefunden hatten, wo Althea lebte, würden sie sich auf den Weg dorthin machen – je eher, desto besser.
Sie hatte Sebastian auf dem Weg zum Palast des Volkes über seine Heimat ausgefragt, und er hatte ihr erzählt, die Imperiale Ordnung leiste in der Alten Welt heldenhaften Widerstand gegen die Invasoren des Lord Rahl. Gerade sie verstand nur zu gut. was es hieß, diesen Mann zu fürchten, schließlich ließ genau diese Furcht sie zögern, den Palast des Volkes zu betreten.
Soeben verließ eine wohlgeordnete Soldatenkolonne in Kettenpanzern und dunkler Lederrüstung den Palast und kam ihnen entgegen. Ihre Waffen – Schwerter, Streitäxte und Lanzen – blinkten gefährlich in der morgendlichen Sonne. Jennsen hielt den Blick gesenkt und gab sich Mühe, die Soldaten nicht anzustarren. Sie befürchtete, sie könnten sie aufgrund ihrer äußeren Erscheinung in der Menge wiedererkennen, so als trüge sie ein leuchtendes Mal, das allein sie zu sehen im Stande wären. Aus Angst, es könnte ungewollt Aufmerksamkeit erregen, ließ sie die Kapuze ihres Umhangs hochgeschlagen, um ihr rotes Haar darunter zu verbergen.
Je näher sie den gewaltigen, auf das Plateau führenden Portalen kamen, desto dichter wurde das Gedränge. Wer eben erst eingetroffen war, ließ sich nieder, wo immer er ein Plätzchen fand. Trotz der Kälte schienen die Menschen überall guter Dinge zu sein und gingen munter daran, ihre Waren auszulegen, bei vielen liefen die Geschäfte bereits überaus lebhaft.
Die d’Haranischen Soldaten schienen allgegenwärtig zu sein, ausnahmslos hoch gewachsene, kräftige Männer, die alle die gleiche ordentliche Uniform aus Leder, Kettenpanzer und Wolle trugen. Sie alle waren mit einem Schwert bewaffnet, die meisten führten aber noch weitere Waffen mit – Streitaxt, Morgenstern oder irgendwelche Messer. Obwohl die Soldaten auf der Hut und wachsam waren, schienen sie die Kaufleute weder zu behelligen noch anderweitig deren Geschäfte zu behindern.
Winkend wünschte die Wurstverkäuferin Sebastian und Jennsen noch viel Glück, dann lenkte sie ihren Karren von der Straße herunter auf einen freien Platz, neben drei Männern, die gerade dabei waren, Weinfässer auf einen niedrigen Tisch zu stapeln. Die drei, alle mit dem gleichen markanten Kinn, den gleichen breiten Schultern und den gleichen blonden Haaren, waren offensichtlich Brüder.
»Gebt acht bei wem Ihr Eure Tiere laßt«, rief sie Jennsen und Sebastian noch hinterher.
Viele, die ihre Verkaufsstände unten in der Ebene aufgebaut hatten, besaßen Tiere und schienen keine übermäßigen Schwierigkeiten zu haben, ihre Geschäfte gleich an Ort und Stelle zu betreiben, statt bis hinauf zum Palast zu ziehen. Wieder andere, wie die Frau mit dem Karren, kamen her, um selbst hergestellte Speisen zu verkaufen, und da es hier unten genügend Kundschaft gab, sahen sie keinerlei Notwendigkeit, sich ins Innere des Palastes zu begeben.
All diese Eindrücke nahm Sebastian in sich auf, ohne es sich anmerken zu lassen. Sie glaubte seinem Blick anzusehen, daß er insgeheim die Truppenstärke zählte. Andere mochten vielleicht denken, daß er sich, von der Vielfalt der zum Verkauf stehenden Waren angelockt, einfach nur bei den Händlern umsah, aber Jennsen bemerkte, daß sein Blick weiter ging, bis hinauf zu den gewaltigen Portalen zwischen den hohen steinernen Säulen.
»Was sollen wir mit den Pferden machen?«, fragte sie. »Und mit Betty?«
Sebastian deutete auf eines der Gehege, in dem angepflockte Pferde standen. »Wir werden sie irgendwo zurücklassen müssen.«
Mit dem Kinn wies sie auf die heruntergekommenen Kerle, die das Gehege für die Tiere bewachten; sie waren eifrig in eine Würfelpartie vertieft.
»Meint Ihr wirklich, wir können unsere Tiere solchen Burschen anvertrauen? Nach allem, was wir wissen, könnten es doch Diebe sein. Vielleicht wäre es besser, Ihr bleibt hier bei den Pferden, während ich mich auf die Suche nach Altheas Ehemann mache.«
Sebastian ließ von seiner Begutachtung der Soldaten am Eingangsportal ab und wandte sich zu ihr um. »Ich halte es für keine gute Idee, sich an einem solchen Ort zu trennen, Jennsen. Außerdem möchte ich nicht, daß Ihr allein in den Palast geht.«
Sie versuchte die Besorgnis in seinen Augen abzuschätzen. »Und wenn wir Schwierigkeiten bekommen? Glaubt Ihr wirklich, wir können uns unseren Weg freikämpfen?«
»Nein. Ihr werdet schon Euren Kopf gebrauchen müssen – haltet Eure Gedanken zusammen. Ich habe Euch bis hierher gebracht, ich werde Euch auch jetzt nicht im Stich lassen und Euch allein dort hineingehen lassen.«
»Und wenn sie uns mit Waffengewalt drohen?«
»Sollte es tatsächlich so weit kommen, werden wir uns an einem Ort wie diesem mit Kämpfen auch nicht retten können. Viel wichtiger ist, den Menschen Angst zu machen, sie dazu zu bringen, zweimal darüber nachzudenken, wie gefährlich man sein könnte, damit man erst gar nicht in die Verlegenheit kommt, kämpfen zu müssen. Man muß sie einschüchtern.«
»Ich bin in diesen Dingen nicht sonderlich bewandert.«
Er lachte kurz auf. »Ihr beherrscht es ziemlich gut. Bei mir habt Ihr es doch auch geschafft, am ersten Abend, als Ihr die Huldigung gezeichnet habt.«
»Aber das wart schließlich Ihr, außerdem war meine Mutter dabei. An einem Ort mit so vielen Menschen ist das etwas ganz anderes.«
»Im Gasthaus hat es ebenfalls funktioniert, als Ihr der Wirtin Euer rotes Haar gezeigt habt. Euer Auftritt hat ihr die Zunge gelöst. Des weiteren habt Ihr die Männer mit nichts als Eurem Auftreten und einem Blick in Schach gehalten. Ihr ganz allein habt den Männern eine solche Angst eingeflößt, daß sie Euch in Ruhe gelassen haben.«
So hatte sie das noch nie gesehen. In ihren Augen war es eher eine Verzweiflungstat gewesen denn ein bewußtes Täuschungsmanöver.
Als Betty ihren Kopf an Jennsens Bein rieb, strich sie der Ziege gedankenverloren übers Ohr. während sie beobachtete, wie die Männer ihre Würfelpartie unterbrachen, um einigen Reisenden die Pferde abzunehmen. Die Grobheit, mit der die Kerle die Pferde behandelten, gefiel ihr überhaupt nicht.