Nach kurzem Zögern reichte sie ihm ihrerseits die Hand; sie war überrascht, wie ungewöhnlich warm sich seine Hand anfühlte.
»Wollt Ihr mir Euren Namen nicht verraten?«
»Ich bin Jennsen Daggett.«
»Jennsen.« Der Klang entlockte ihm ein wohlgefälliges Lächeln.
Sie spürte, wie sie abermals errötete. Anstatt Notiz davon zu nehmen, machte er sich umgehend an die Arbeit, indem er den Soldaten unter den Armen packte und zog, doch ließ sich der Körper mit jedem kräftigen Ruck nur ein winziges Stück bewegen. Jennsen half ihm, und gemeinsam schleiften sie den Toten, der ihr im Tod ebenso bedrohlich erschien, wie er es vermutlich lebend gewesen wäre, über das Geröll.
Sebastian wälzte ihn herum; erst jetzt gewahrte Jennsen, daß er unter seinem Rucksack ein kurzes Schwert über die Schulter geschnallt trug. In den Waffengurt an seiner Hüfte war hinten im Kreuz eine sichelförmige Streitaxt eingehakt. Jennsens Unruhe wuchs, als sie sah, wie schwer bewaffnet der Soldat gewesen war. Reguläre Truppen führten nicht so viele Waffen mit und besaßen auch nicht ein solches Messer.
Sebastian streifte ihm die Tragegurte des Rucksacks über die Arme, schnallte das Kurzschwert los und legte es zur Seite; dann löste er den Waffengurt und warf ihn auf das Schwert.
»Der Rucksack enthalt keinerlei ungewöhnliche Dinge«, meinte er nach einer kurzen Untersuchung und legte ihn zu den anderen Sachen. Dann ging Sebastian daran, die Taschen des Toten zu filzen. Jennsen wollte schon fragen, was er sich da erlaube, als ihr wieder einfiel, daß sie sich genauso verhalten hatte. Um einiges aufgebrachter reagierte sie allerdings, als er die anderen Gegenstände zurücksteckte, nachdem er das Geld aussortiert hatte.
Sebastian hielt ihr das Geld hin.
»Was soll das?«, fragte sie.
»Nehmt schon.« Er bot ihr das Geld noch einmal an, mit mehr Nachdruck diesmal. »Wem nützt es, vergraben in der Erde? Geld ist dazu da, das Leid der Lebenden zu lindern, nicht das der Toten. Oder glaubt Ihr etwa, er kann sich von den Gütigen Seelen ein ehrenvolles, von Heiterkeit erfülltes, ewiges Leben erkaufen?«
»Aber es gehört mir nicht.«
Sebastian runzelte die Stirn und bedachte sie mit einem mißbilligenden Blick. »Betrachtet es als teilweise Wiedergutmachung für das, was Ihr durchgemacht habt.«
Sie spürte, wie ein kalter Schauder sie überlief. Wie konnte er davon wissen? Sie waren doch immer so vorsichtig gewesen.
»Was wollt Ihr damit sagen?«
»Für die Zeit, um die sich Euer Leben durch den Schrecken verkürzt, den Euch dieser Bursche heute eingejagt hat.«
Leise seufzend atmete Jennsen erleichtert auf. Sie mußte endlich damit aufhören, hinter jeder Bemerkung immer nur das Schlimmste zu vermuten.
Ein wenig widerwillig ließ sie sich die Münzen von Sebastian in die Hand drücken. Drei Münzen in den Handteller. »So nehmt schon. Das Geld gehört jetzt Euch«, sagte er.
Jennsen mußte daran denken, was eine solche Summe bedeuten konnte, und nickte. »Meine Mutter hatte es im Leben immer schwer, sie kann es gebrauchen.«
»Dann will ich hoffen, daß es Euch beiden zugute kommt. Betrachten wir die Unterstützung von Euch und Eurer Mutter als die letzte gute Tat dieses Mannes.«
»Ihr habt so heiße Hände.« Dem Ausdruck seiner Augen nach glaubte sie auch den Grund dafür zu kennen, deshalb fügte sie nichts hinzu.
Er bestätigte ihre Vermutung mit einem Nicken. »Ich habe leichtes Fieber, es hat heute Morgen angefangen. Wenn wir diese Sache hinter uns haben, kann ich mich hoffentlich bis zur nächsten Ortschaft durchschlagen und eine Weile in einem trockenen Zimmer ausruhen. Ich brauche nur ein wenig Ruhe, um wieder zu Kräften zu kommen.«
»Die Ortschaft ist viel zu weit entfernt; heute schafft Ihr es auf keinen Fall mehr bis dorthin.«
»Seid Ihr sicher? Ich bin gut zu Fuß. denn ich bin es gewohnt, zu laufen.«
»Ich auch«, erwiderte Jennsen, »und ich brauche fast einen ganzen Tag bis dorthin. Es ist nur noch ein paar Stunden hell – und vorher müssen wir unbedingt unsere Arbeit hier zu Ende bringen.«
Sebastian seufzte. »Nun. dann werde ich mich wohl damit abfinden müssen.«
Er kniete abermals nieder und wälzte den Soldaten halb herum, um dessen Messer vom Gürtel zu lösen. Die Scheide aus fein genarbtem Leder war, passend zum Griff, mit Silber besetzt und mit demselben kunstvoll verzierten Emblem geschmückt. Sebastian reichte ihr das Messer.
»Es wäre doch schade, eine so noble Waffe zu vergraben. Hier, nehmt. Besser als das billige Spielzeug, mit dem Ihr mich vorhin bedroht habt.«
Jennsen stand wie vom Donner gerührt da, äußerst verwirrt. »Aber das solltet Ihr behalten.«
»Ich werde mir seine anderen Waffen nehmen, sie entsprechen ohnehin eher meinem Geschmack. Das Messer gehört Euch. So lautet Sebastians Gesetz.«
»Sebastians Gesetz?«
»Schönheit gehört zu Schönheit.«
Das Kompliment, das sich dahinter verbarg, ließ Jennsen erröten.
»Habt Ihr eine Idee, was das ›R‹ auf dem Heft bedeutet?«
Am liebsten hätte sie augenblicklich mit »Ja« geantwortet, schließlich wußte sie nur zu gut, wofür es stand.
»Es steht für das Haus Rahl.«
»Das Haus Rahl?«
»Für Lord Rahl – den Herrscher D’Haras«, erklärte sie, einen Alptraum in schlichte Worte fassend.
3
Als sie ihre mühselige Arbeit endlich hinter sich hatten, konnte Jennsen vor Erschöpfung kaum noch die Arme heben. Der schneidende, zudem feuchte Wind, der ihr durch die Kleider fuhr, schien bis ins Mark zu dringen, und aus Ohren, Nase und Fingern war jegliches Gefühl gewichen; Sebastians Gesicht war mit einer glänzenden Schweißschicht bedeckt.
Aber der Tote lag nun endgültig unter einer Schicht aus Geröll und Steinen begraben, die es am Fuß der Felsenklippe im Überfluß gab. Sebastian hatte den Schöpfer mit ein paar schlichten Worten gebeten, die Seele des Mannes in der Ewigkeit willkommen zu heißen; auf eine Bitte um Vergebung vor dem göttlichen Gericht hatte er, wie Jennsen auch, verzichtet.
Nachdem sie mit Hilfe eines schweren Zweigs und ihrer Füße das Geröll verteilt und so die Spuren ihrer Arbeit verwischt hatte, musterte Jennsen das Gelände noch einmal und stellte erleichtert fest, daß wohl niemand vermuten würde, hier läge ein Mensch begraben. Sollten tatsächlich Soldaten des Weges kommen, würden sie bestimmt nicht merken, daß an dieser Stelle einer der ihren den Tod gefunden hatte.
Dann legte Jennsen Sebastian die Hand an die Stirn und sah ihre Befürchtungen bestätigt. »Ihr glüht ja vor Fieber.«
»Wir sind fertig. Jetzt, da ich nicht mehr befürchten muß, von Soldaten aus meinem Schlafsack gescheucht und bei vorgehaltenem Schwert verhört zu werden, werde ich bestimmt unbeschwerter schlafen.«
Sie fragte sich nur wo das sein sollte, denn der Nieselregen wurde zusehends dichter, und wahrscheinlich würde es bald anfangen zu regnen. Jennsen sah zu, wie ihr Gefährte sich den Waffengurt um die Hüfte schnallte. Die Axt befestigte er an seiner rechten Seite; nachdem er die Klinge geprüft und für zufrieden stellend befunden hatte, machte er das Kurzschwert an der linken Gürtelseite fest. Anschließend warf er seinen schweren grünen Umhang darüber und sah wieder aus wie ein ganz gewöhnlicher Reisender. Jennsen vermutete allerdings, daß er mehr war als das. Er hatte seine Geheimnisse, mit denen er ganz beiläufig, fast offen umging; sie dagegen hütete die ihren ziemlich ungeschickt.
Er führte das Schwert mit einer Leichtigkeit, wie sie nur durch lange Vertrautheit entsteht. Das wußte sie, weil sie selbst ihr Messer mit müheloser Eleganz handhabte, eine Fertigkeit, die man nur durch Erfahrung und fortgesetztes Üben erlangte.
Sebastian nahm den Rucksack des Toten auf und schlug dessen Klappe zurück. »Wir werden seine Vorräte unter uns aufteilen. Wollt Ihr den Rucksack haben?«
»Rucksack und Vorräte solltet Ihr behalten«, erwiderte Jennsen, während sie ihre Fische holen ging.
Er nickte, und mit einem abschätzenden Blick in den Himmel schnürte er den Rucksack zu. »Dann mache ich mich jetzt wohl am besten auf den Weg.«