»Wohin?«
»Genau genommen nirgendwohin, denn ich habe kein bestimmtes Ziel. Ich schätze, ich werde noch ein Stück gehen und mir dann wohl am besten einen Unterschlupf suchen.«
»Es kommt Regen auf«, sagte sie. »Um das zu erkennen, braucht man kein Prophet zu sein.«
Er lächelte. »Wahrscheinlich nicht.« Seine Augen ertrugen geduldig den Anblick dessen, was vor ihm lag. Mit der Hand fuhr er sich durchs Haar, dann zog er seine Kapuze über. »Nun, paßt gut auf Euch auf, Jennsen Daggett. Und meine Empfehlung an Eure Mutter. Sie hat eine hübsche Tochter großgezogen.«
Mit einem kurzen Nicken quittierte sie lächelnd seine Worte, sah zu, wie er kehrtmachte und sich langsam über die ebene Geröllfläche entfernte. Ringsumher erhoben sich schroffe Felswände, deren schneebedeckte Vorsprünge sich in einer grauen Wolkendecke aufzulösen schienen, die auch die endlose Kette hoher Gipfel einhüllte.
Es schien so seltsam, so unsinnig, daß ihre Wege sich in der endlosen Weite dieses Landes für so kurze Zeit gekreuzt haben sollten, für einen so tragischen Augenblick, in dem ein Menschenleben endete, um sich unmittelbar darauf wieder in der endlosen Vergessenheit des Lebensstroms zu verlieren.
Jennsen schlug das Herz bis zum Hals, als sie darauf lauschte, wie seine Schritte sich knirschend auf dem groben Geröll entfernten. Sie überlegte hin und her, was sie tun sollte. War es ihr denn tatsächlich bestimmt, sich immer nur von den Menschen abzuwenden und sich zu verkriechen?
Sollte sie sich – wie immer – jedes kleine bißchen dessen, was das Leben ausmachte, verscherzen, noch dazu wegen eines Verbrechens, das sie nicht einmal begangen hatte? Durfte sie es riskieren?
Was ihre Mutter sagen würde, wußte sie genau. Aber ihre Mutter liebte sie von ganzem Herzen, deshalb würde sie nichts sagen, um sie nicht unnötig zu quälen.
»Sebastian?« Er drehte sich um, sah sie an und wartete darauf, daß sie weitersprach. »Ohne einen Unterschlupf erlebt Ihr vielleicht nicht mal den morgigen Tag. Es würde mir gar nicht gefallen zu wissen, daß Ihr dort draußen mit Fieber herumirrt und bis auf die Haut naß werdet.«
Er stand da und sah sie weiterhin an. »Mir würde das genauso wenig gefallen. Ich werde Eure Worte beherzigen und alles daransetzen, einen Unterschlupf zu finden.«
Bevor er sich abermals abwenden konnte, hob sie eine Hand und deutete in die entgegengesetzte Richtung. Sie merkte, daß ihre Finger zitterten. »Ihr könntet doch mit zu mir nach Hause kommen.«
»Wird denn Eure Mutter nichts dagegen haben?«
Ihre Mutter würde in Panik ausbrechen. Ihre Mutter würde niemals erlauben, daß ein Fremder, ganz gleich, wie sehr er ihr geholfen hatte, in ihrem Haus schlief. Ihre Mutter würde die ganze Nacht kein Auge zutun, wenn ein Fremder auch nur in der Nähe wäre. Aber ohne ein Dach über dem Kopf konnte Sebastian sich mit seinem Fieber glatt den Tod holen. Und das würde Jennsens Mutter diesem Mann bestimmt nicht wünschen, denn ihre Mutter hatte ein großes Herz. Diese liebevolle Sorge war der Grund, weshalb sie sich Jennsen gegenüber so beschützend verhielt.
»Das Haus ist klein, aber in der Höhle, in der wir die Tiere halten, ist genug Platz. Wenn es Euch nichts ausmacht, könnt Ihr dort schlafen. Das klingt schlimmer, als es ist. Ich habe selbst schon manchmal dort übernachtet, wenn es mir im Haus zu eng wurde. Gleich am Eingang würde ich Euch ein Feuer anzünden, dann hättet Ihr es warm und bekämet die Ruhe, die Ihr so dringend braucht.«
Er wirkte unschlüssig, deshalb zeigte Jennsen ihm die Angelschnur mit den Fischen.
»Wir würden Euch auch etwas zu essen geben.« Sie versuchte, ihr Angebot verlockender klingen zu lassen. »Dann hättet Ihr wenigstens auch noch eine ordentliche Mahlzeit zu Eurem warmen Schlafplatz. Ihr habt mir geholfen; laßt Ihr Euch jetzt auch von mir helfen?«
Sein Lächeln kehrte zurück, ein Lächeln voller Dankbarkeit. »Ihr seid eine überaus freundliche Frau, Jennsen. Wenn Eure Mutter es erlaubt, werde ich Euer Angebot annehmen.«
Sie schlug ihren Umhang zurück, so daß man das scharfe Messer in seiner Scheide gewahrte, das sie hinter den Gürtel gesteckt hatte. »Wir werden ihr das Messer geben. Sie wird es zu würdigen wissen.«
»Ich denke, wegen eines fieberkranken Fremden müssen zwei mit Messern bewaffnete Frauen sich keine Sorgen machen.«
Jennsen hoffte, ihre Mutter würde es ebenso sehen.
»Dann also abgemacht. Kommt jetzt, bevor wir noch vom Regen überrascht werden.«
Als sie losging, folgte Sebastian ihr mit schnellen Schritten, bis er sie eingeholt hatte. Sie nahm ihm den Rucksack aus der Hand und warf ihn sich über die Schulter; in seinem geschwächten Zustand hatte Sebastian mit seinem eigenen Rucksack und den neuen Waffen schon genug zu tragen.
»Wartet hier«, flüsterte Jennsen. »Ich gehe und sage ihr, daß wir einen Gast haben.«
4
Sebastian ließ sich schwer auf einen niedrigen Felsvorsprung sinken, auf dem es sich bequem sitzen ließ. »Erklärt Ihr einfach, was ich Euch gesagt habe, und daß ich Verständnis dafür hätte, wenn sie keinen Fremden im Haus übernachten lassen möchte.«
Jennsen betrachtete ihn mit ruhiger, ernster Miene.
»Meine Mutter und ich brauchen keinen Besucher zu fürchten.«
Damit spielte sie nicht auf gewöhnliche Waffen an, wie er aus ihrem Ton heraushörte. Zum ersten Mal seit ihrem Zusammentreffen sah sie einen Funken von Unsicherheit in seinen ruhigen blauen Augen aufflackern.
Jennsens Lippen dagegen zeigten die Andeutung eines Lächelns, als sie ihn überlegen sah, welch rätselhafte Gefahr von ihr ausgehen mochte. »Ihr könnt ganz unbesorgt sein. Nur wer Ärger mitbringt, muß Angst haben, sich hier aufzuhalten.«
Er hob die Hände zum Zeichen, daß er sich geschlagen gab. »Dann bin ich hier sicher wie ein Neugeborenes in den Armen seiner Mutter.«
Jennsen ließ Sebastian auf dem Felsen warten, während sie, knorrige Wurzeln als Stufen benutzend, auf dem verschlungenen Pfad zwischen schützenden Nadelbäumen hindurch bis zu ihrem Haus aufstieg, das ein Stück zurückversetzt in einem Eichenhain auf einem kleinen, im Hang eines Berges eingebetteten Felsvorsprung stand, es gab ausreichend Platz, ihre Ziege weiden zu lassen, sowie für ein paar Enten und Hühner. Zur Rückseite hin machten steile Felsen jeden zufälligen Besuch aus dieser Richtung unmöglich, der Pfad an der Vorderseite war der einzige Zugang. Für den Fall, daß sie bedroht wurden, hatten Jennsen und ihre Mutter hinter dem Haus eine gut versteckte Folge von Tritten angebracht, die zu einem schmalen Felsensims hinauf und über einen gewundenen Nebenweg und verschiedene Wildwechsel durch eine Schlucht vom Haus wegführte.
Seit Jennsens Kindertagen waren sie häufig umgezogen und niemals allzu lange an einem Ort geblieben. Hier jedoch, wo sie sich sicher fühlten, hielten sie es mittlerweile bereits seit über zwei Jahren aus. Kein einziges Mal hatten Reisende ihr Versteck in den Bergen entdeckt, was an ihren anderen Aufenthaltsorten gelegentlich vorgekommen war, und die Bewohner Briartons, der nächsten Ortschaft, wagten sich niemals so weit in den dunklen und bedrohlichen Wald vor. Es war der sicherste Unterschlupf, den sie und ihre Mutter je gefunden hatten, deshalb hatte Jennsen es nach und nach gewagt, ihn immer mehr als ihr Zuhause zu betrachten.
Jennsen wurde verfolgt, seit sie sechs war, und trotz der niemals nachlassenden Vorsicht ihrer Mutter wären sie mehrere Male um ein Haar aufgegriffen worden. Der sie verfolgte, war kein gewöhnlicher Mann und deshalb nicht auf die üblichen Mittel bei einer Verfolgung angewiesen. Soviel Jennsen wußte, konnten es seine Augen sein, mit denen die auf einem hohen Ast hockende Eule sie beobachtete, während sie den felsigen Pfad hinaufstieg.
Kaum war Jennsen am Haus angelangt, als ihre Mutter aus der Tür trat. Sie war genauso groß wie Jennsen und hatte dasselbe dichte, bis knapp über die Schultern fallende Haar, nur daß das ihre eine eher kastanienbraune denn rote Farbe hatte. Sie war noch keine fünfunddreißig und die schönste Frau, die Jennsen je gesehen hatte. Unter anderen Lebensumständen hätten gewiß zahllose Freier ihrer Mutter den Hof gemacht, und manch einer von ihnen wäre auch bestimmt bereit gewesen, einen fürstlichen Brautpreis für ihre Hand zu zahlen. Aber da die innere Schönheit ihrer Mutter ebenso ausgeprägt war wie ihre äußere, hatte sie das alles aufgegeben, um ihre Tochter zu beschützen.