Wenn Jennsen von Selbstmitleid gepackt wurde, weil sie auf ganz alltägliche Dinge verzichten mußte, rief sie sich ihre Mutter ins Gedächtnis, die genau diese Dinge und noch viel mehr um ihrer Tochter willen aufgegeben hatte. Ihre Mutter war für sie wie ein Schutzengel.
»Jennsen!« Ihre Mutter kam ihr entgegengerannt und packte sie bei den Schultern. »Jenn, ich hab mir schon solche Sorgen gemacht. Dachte mir, du bist bestimmt in Schwierigkeiten geraten, und wollte gerade ...«
»Das stimmt auch, Mutter«, gestand sie.
Ihre Mutter zögerte nur einen Augenblick, dann zog sie Jennsen ohne weitere Fragen in ihre schützenden Arme. Nach einem so beängstigenden Tag war Jennsen der Trost ihrer Mutter höchst willkommen; schließlich schob ihre Mutter sie Richtung Tür.
»Komm rein und sieh zu, daß du wieder trocken wirst. Wie ich sehe, hast du einen ordentlichen Fang mitgebracht. Wir werden uns ein schönes Abendessen zubereiten, dann kannst du mir erzählen ...«
Jennsen ließ sich nur widerstrebend darauf ein. »Mutter, ich habe jemanden mitgebracht.«
Ihre Mutter blieb wie angewurzelt stehen und sah ihre Tochter verärgert an. »Was soll das heißen? Wen könntest du denn mitgebracht haben?«
Jennsen wies mit einer flüchtigen Handbewegung hinter sich zum Pfad. »Ich habe ihm gesagt, er soll dort unten warten, und ihm erklärt, dich fragen zu wollen, ob er in der Höhle bei den Tieren schlafen kann.«
»Er soll hier übernachten? Was hast du dir nur dabei gedacht, Jenn?«
»Mutter, bitte, hör mir doch erst einmal zu. Heute ist etwas Schreckliches passiert. Sebastian ...«
»Sebastian?«
Jennsen nickte. »Der Mann, den ich mitgebracht habe. Sebastian hat mir geholfen. Ich war auf einen Soldaten gestoßen, der vom Pfad abgestürzt war – vom Pfad oben um den See.«
Ihre Mutter wurde aschfahl im Gesicht, schwieg jedoch.
Jennsen atmete tief durch, um sich zu beruhigen, dann fing sie noch einmal von vorne an. »In der Schlucht unterhalb des weiter oben gelegenen Pfades fand ich einen toten d’Haranischen Soldaten. Andere Spuren gab es nicht – ich hab mich umgesehen. Der Soldat war außerordentlich groß und schwer bewaffnet.«
Ihre Mutter legte den Kopf zur Seite, einen vorwurfsvollen Ausdruck im Gesicht. »Was verschweigst du mir, Jenn?«
Jennsen hatte damit eigentlich warten wollen, bis sie Sebastians Anwesenheit erklärt hatte, aber ihre Mutter sah es ihr an den Augen an, hörte es aus ihrer Stimme heraus. Das kleine Stück Papier in ihrer Tasche schien seine Existenz, seine entsetzliche Bedrohlichkeit geradezu herauszuschreien.
»Bitte, Mutter, laß es mich mit meinen eigenen Worten erzählen.«
Ihre Mutter legte ihr eine Hand an die Wange. »Also gut, erzähl es mir. Wenn es sein muß, mit deinen eigenen Worten.«
»Ich war gerade dabei, den Soldaten zu durchsuchen, nach irgend etwas, das vielleicht wichtig hätte sein können. Und ich fand sogar etwas. Aber dann hat mich ganz zufällig dieser Mann gesehen, ein Reisender. Tut mir leid, Mutter, aber ich war so verängstigt wegen des Soldaten, der dort lag, und wegen dieses Zettels, den ich gefunden hatte, daß ich nicht so aufmerksam war, wie ich es hätte sein sollen.«
Ihre Mutter lächelte. »Nein, meine Kleine, kein Mensch ist gegen ein Versehen gefeit, denn keiner von uns ist vollkommen, wir alle machen Fehler.«
»Na ja, jedenfalls kam ich mir ziemlich dumm vor, als er mich ansprach, und ich mich umdrehte und er plötzlich einfach vor mir stand. Aber wenigstens hatte ich mein Messer gezogen.« Ihre Mutter nickte und lächelte dabei anerkennend. »Dann sah auch er, daß der Mann zu Tode gestürzt war. Sebastian meinte, wenn wir ihn einfach dort liegen ließen, müßte man damit rechnen, daß andere Soldaten ihn finden und auf die Idee kommen, uns alle zu verhören, um uns am Ende gar die Schuld am Tod ihres Kameraden zu geben.«
»Dieser Mann, dieser Sebastian, scheint zu wissen, wovon er spricht.«
»Das fand ich auch. Ich hatte den toten Soldaten eigentlich zudecken und irgendwo verstecken wollen, aber er war ein Hüne – allein hätte ich ihn niemals von der Stelle bewegen können. Gemeinsam ist es uns dann gelungen, ihn wegzuschleifen und in eine tiefe Felsspalte zu wälzen. Kein Mensch wird ihn finden.«
Ihre Mutter wirkte etwas erleichterter. »Das war klug.«
»Vor dem Verscharren meinte Sebastian noch, wir sollten ihm sämtliche Wertgegenstände abnehmen, statt sie in der Erde vermodern zu lassen.«
Eine Braue schoß in die Höhe. »Ach ja, hat er das?«
Jennsen nickte. Sie nahm das Geld aus ihrer Tasche und drückte ihrer Mutter die gesamte Summe in die Hand.
»Sebastian bestand darauf, daß ich alles nehme. Es sind Goldmünzen darunter. Er selber wollte nichts davon.«
Ihre Mutter betrachtete das Vermögen in ihrer Hand, dann blickte sie kurz hinüber zu dem Pfad, wo Sebastian wartete. Sie beugte sich weiter vor.
»Wenn er dich begleitet hat, Jenn, dann glaubt er womöglich, daß er sich das Geld jederzeit zurückholen kann. Er könnte sich großzügig geben, um dein Vertrauen zu gewinnen.«
»Darüber habe ich auch schon nachgedacht.«
Der Tonfall ihrer Mutter wurde milder und verständnisvoller. »Du kannst nichts dafür, Jenn – ich habe dich immer so behütet –, aber du weißt eben nicht zu was Männer fähig sind.«
Jennsen wich den wissenden Augen ihrer Mutter aus und senkte den Blick. »Das mag vielleicht stimmen, aber eigentlich glaube ich es nicht.«
»Und warum nicht?«
Jennsen sah wieder auf, entschiedener diesmal. »Er hat Fieber, Mutter. Es geht ihm nicht gut. Er wollte schon gehen, ohne mich überhaupt zu fragen, ob er mich begleiten darf. Und er hatte sich längst von mir verabschiedet. Ich rief ihn zurück und erklärte ihm, wenn du einverstanden wärst, könne er in der Höhle bei den Tieren schlafen, wo er es wenigstens warm und trocken hätte.«
Nach einem Augenblick des Schweigens fügte Jennsen hinzu, »Er meinte noch, er hätte Verständnis dafür, wenn du keinen Fremden in der Nähe haben möchtest, und würde in dem Fall einfach seiner Wege gehen.«
»Das hat er tatsächlich gesagt? Nun, Jenn, dies bedeutet entweder, er ist sehr ehrlich oder überaus gerissen.« Sie sah Jennsen ernst in die Augen. »Was, glaubst du wohl, trifft zu, hm?«
Jennsen wirkte verlegen. »Ich weiß es nicht, Mutter, ehrlich nicht. Ich habe mir dieselben Fragen gestellt wie du, wirklich.«
Dann fiel es ihr wieder ein. »Er sagte, er wolle, daß du das hier bekommst, damit du dich vor keinem Fremden fürchten mußt, der in der Nähe übernachtet.«
Jennsen nahm das Messer mitsamt Scheide und reichte es ihrer Mutter; der silberne Griff blinkte im matten, gelblichen Licht.
Einen verblüfften Ausdruck in den Augen, ergriff ihre Mutter es zögernd mit beiden Händen, während sie leise murmelte, »Gütige Seelen.«
»Ich weiß«, meinte Jennsen. »Als ich es sah, hätte ich vor Schreck fast laut aufgeschrien. Sebastian meinte, es sei eine sehr noble Waffe, viel zu nobel, um sie zu vergraben, deshalb wollte er, daß ich sie an mich nehme. Das Kurzschwert des Soldaten und die Axt hat er selbst behalten. Als ich ihm daraufhin erklärte, ich würde es dir schenken, meinte er, er hoffe, es werde dir helfen, dich sicher zu fühlen.«
Ihre Mutter schüttelte langsam den Kopf. »Dieses Ding wird mir ganz und gar nicht helfen, mich sicher zu fühlen – erst recht nicht, seit ich weiß, daß der Mann, der es bei sich trug, ganz in unserer Nähe war. Jenn, das Ganze gefällt mir nicht. Absolut nicht.«
»Sebastian ist krank, Mutter. Kann er nicht in der Höhle übernachten? Ich ließ durchblicken, daß er von uns mehr zu befürchten hat als wir von ihm.«