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»Man verwirkt seinen freien Willen, wenn man sich mit dem Hüter einläßt. Du hast ein nur dir allein gehörendes Gut von unschätzbarem Wert für ... für nichts als ein paar wertlose Brocken verschleudert. Du hast dich in die schlimmste Form der Sklaverei verkauft. Oba, für nicht mehr als die Illusion des Glaubens, etwas wert zu sein. Du hast keinen Einfluß auf das, was geschehen wird. Du bist nicht der Auserwählte. Es ist ein anderer.« Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Die Frage muß jedoch erst noch entschieden werden.«

»Und jetzt erdreistet Ihr Euch zu glauben. Ihr könntet den Lauf der Dinge ändern, den ich in Gang gesetzt habe?« Oba war selbst überrascht über seine Worte. Sie schienen einfach so aus ihm herauszufließen, bevor er überhaupt daran dachte, sie auszusprechen.

»Auf diese Dinge haben ich und meinesgleichen keinen Einfluß«, räumte sie ein. »Ich habe im Palast der Propheten gelernt, mich nicht in Dinge einzumischen, die meine Fähigkeiten übersteigen und die nicht kontrollierbar sind. Für den großen Plan von Leben und Tod sind allein der Schöpfer und der Hüter zuständig.« Ihr verschmitzter Gesichtsausdruck konnte ihre Genugtuung nicht ganz verhehlen. »Aber ich bin mir nicht zu schade, meinen freien Willen auszuüben.«

Er hatte genug gehört. Sie versuchte nur Zeit zu schinden, ihn zu verunsichern. Aus irgendeinem Grund wollte es ihm nicht gelingen, sein rasendes Herz zu beruhigen.

»Was sind Lücken in der Welt?«

»Sie sind das Ende für mich und meinesgleichen«, antwortete sie. »Sie sind das Ende all dessen, was ich kenne.«

Das war wieder einmal typisch für eine Hexenmeisterin, daß sie mit einem Rätsel antwortete. »Und wer sind die anderen Steine?«, fragte er herrisch.

Endlich wandte sie ihre fürchterlichen Augen von ihm ab und schaute hinunter auf die anderen Steine; ihre Bewegungen wirkten eigentümlich abgehackt. Sie wählte einen Stein mit ihren schlanken Fingern aus. Als sie ihn aufheben wollte, mußte sie plötzlich innehalten und faßte sich mit ihrer anderen Hand an den Unterleib. Oba sah, daß sie Schmerzen litt. Sie hatte sich große Mühe gegeben, es sich nicht anmerken zu lassen, aber jetzt konnte sie es nicht mehr länger verheimlichen. Die Schmerzen waren wohl auch der Grund für die Schweißperlen auf ihrer Stirn. Ihre Qualen machten sich in einem leisen Stöhnen Luft. Oba beobachtete sie fasziniert.

Schließlich schienen die Schmerzen ein wenig abzuklingen. Mit einiger Mühe brachte sie sich in eine aufrechtere Haltung und konzentrierte sich dann wieder ganz auf das, was sie gerade tat. Sie zeigte ihm ihre Hand, die Innenseite mit dem Stein darin nach oben gedreht.

»Dieser Stein«, erklärte sie. mittlerweile schwer atmend, »bin ich.«

»Ihr? Dieser Stein seid Ihr?«

Sie nickte und warf ihn ohne auch nur hinzusehen über das Brett. Der Stein rollte aus und blieb liegen, diesmal ohne die Begleitmusik von Blitz und Donner. Oba empfand Erleichterung, kam sich sogar ein wenig albern vor, daß er sich eben so hatte durcheinanderbringen lassen. Jetzt grinste er. Das Ganze war nichts weiter als ein albernes Brettspiel, und er war unbesiegbar.

Der Stein war an einer Ecke des innerhalb der beiden Kreise liegenden Quadrats zur Ruhe gekommen.

Er zeigte darauf. »Und was bedeutet das jetzt?«

»Beschützer«, stieß sie atemlos keuchend hervor.

Sie nahm den Stein mit zitternden Fingern wieder auf, hielt ihm die Hand vors Gesicht und öffnete ihre schlanken Finger. Der Stein, ihr Stein, lag mitten in ihrer Hand. Sie sah Oba tief in die Augen.

Der Stein in ihrer Hand zerfiel unter Obas Blick zu Asche.

»Warum habt Ihr das getan?«, fragte er leise, mit weit aufgerissenen Augen.

Althea antwortete nicht. Statt dessen sackte sie in sich zusammen und kippte nach vorn; ihre Beine seitlich unter ihrem Körper, breitete sie die Arme aus. Die Asche, die eben noch ein Stein gewesen war, verteilte sich in einem feinen dunklen Streifen über den Fußboden.

Oba sprang auf. Seine Gänsehaut war wieder da. Er hatte genug Menschen sterben sehen, um zu wissen, daß Althea tot war.

Zuckend aufleuchtende Blitze zerrissen die Luft, durchzogen den Himmel mit einem Geflecht aus gleißend hellen Zackenlinien und leuchteten die Hütte aus. wobei sie die tote Hexenmeisterin in blendend grelles Licht tauchten. Oba brach der Schweiß aus.

Lange stand er da und starrte auf die Tote.

Dann ergriff er die Flucht.

38

Keuchend und von der Anstrengung nahezu völlig verausgabt, stolperte Oba durch das dichte Gestrüpp auf die Bergwiese. Er fühlte sich verfolgt, er war hungrig, durstig, erschöpft und in bester Laune, dem kleinen Dieb die Beine einzeln auszureißen.

Die Wiese war verlassen.

»Clovis!« Auf sein Gebrüll erfolgte nur ein leeres Echo. »Clovis! Wo steckst du?«

Die einzige Antwort war das Stöhnen des Windes zwischen den himmelwärts ragenden Felswänden. Er überlegte, ob der Gauner vielleicht nervös geworden sein könnte und Angst hatte, sich zu zeigen, weil er befürchtete, Oba könnte das Fehlen seines Vermögens bemerkt und dahintergekommen sein, wie sich die Geschichte tatsächlich abgespielt hatte.

»Clovis, komm her! Ich muß sofort zurück zum Palast! Clovis!«

Oba wartete und lauschte nach Atem ringend auf eine Antwort. Er stemmte die geballten Fäuste in die Hüften und brüllte den Namen des kleinen Diebes noch einmal in die kalte Nachmittagsluft.

Als wiederum keine Antwort erfolgte, ließ er sich neben dem Feuer, das Clovis am Morgen angezündet hatte, auf die Knie fallen und schob seine Finger in die pulvrig graue Asche. Obwohl es hier oben auf der Wiese nicht geregnet hatte, war die Asche vollkommen feucht und kalt.

Oba erhob sich und blickte hinauf durch den engen Hohlweg, den sie früh am Morgen heruntergeritten waren. Der kalte, über die verlassen daliegende Wiese wehende Wind zerzauste sein Haar. Oba fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare, fast so, als wollte er ein Platzen seines Kopfes verhindern, als ihm die entsetzliche Wahrheit aufging.

Clovis hatte den gestohlenen Geldbeutel keineswegs vergraben; das war nie sein Plan gewesen. Kaum war Oba in den Sumpf hinuntergeklettert, hatte er sich das Geld geschnappt und die Flucht ergriffen. Er hatte sich mit Obas Vermögen aus dem Staub gemacht.

Angewidert, ernüchtert und mit einem Gefühl wachsender Mutlosigkeit dämmerte Oba allmählich, wie sich das Ganze in Wirklichkeit abgespielt hatte. Kein Mensch wagte sich auf diesem Weg, von der Rückseite her, in den Sumpf. Clovis hatte ihm das nur eingeredet und ihn hierher gelotst, weil er überzeugt war, Oba würde in dem tückischen Sumpf umkommen. Und Clovis hatte fest darauf vertraut, Oba würde sich im Sumpf verlaufen und darin versinken, wenn ihn nicht ohnehin zuerst die Ungeheuer erwischten, die Althea angeblich den Rücken freihielten. Aber Oba war unbesiegbar. Er hatte den Sumpf überlebt, und er hatte die Schlange besiegt. Danach hatte kein Ungetüm mehr gewagt, sich zu zeigen und ihn anzugreifen.

Vermutlich war Clovis davon ausgegangen, daß er noch auf zwei weitere tödliche Gefahren zählen konnte, falls nicht bereits der Sumpf seinen Wohltäter erledigte. Zum einen hatte Althea ihn nicht eingeladen; Clovis war ganz offensichtlich davon ausgegangen, daß sie ungeladenen Gästen nicht gerade freundlich gesinnt sein würde – was Hexenmeisterinnen selten taten. Zum anderen hatte sie einen wahrhaft mörderischen Ruf.

Allerdings hatte Clovis nicht damit gerechnet, daß Oba unbesiegbar war.

Dem Dieb blieb nur ein einziger Schutz vor Obas fürchterlichem Zorn, und der war durchaus problematisch – die Azrith-Ebene. Oba war in einer vollkommen menschenleeren Gegend gestrandet, hatte nichts zu essen. Zwar gab es ganz in der Nähe Wasser, er hatte jedoch keine Möglichkeit, es zu transportieren. Er hatte kein Pferd, und sogar seine – im Sumpf überflüssige – Wolljacke hatte er bei dem hinterhältigen kleinen Straßenhändler zurückgelassen. Ein Fußmarsch aus dieser Gegend heraus, ohne Vorräte und den Unbilden des Winters ausgesetzt, würde jedem, dem es irgendwie gelungen war, Althea und den Sumpf heil zu überstehen, schließlich doch den Garaus machen.