»So?« erkundigte sich Ulthar, ohne eine Miene zu verziehen. »Warum hast du es nicht versucht?«
»Warum hätte ich? Eine Weile habe ich Angst vor dir gehabt, damals, als du dich mit Melissa zusammengetan hast. Gemeinsam wart ihr so mächtig, daß ihr mir hättet gefährlich werden können. Aber nach ihrem bedauerlichen Tod ...« Er zuckte mit den Achseln. »Sieh dir doch an, was aus dir geworden ist. Ein verbitterter alter Mann, der einem Traum nachjagt, der sich nie erfüllen wird. Du hast deine Finger aus meinen Geschäften gelassen, und ich habe dich dafür gewähren lassen. Und vergiß nicht, daß ich es war, der Melissas Mörder zur Rechenschaft gezogen hat.«
Bevor ich es tun und dabei mehr über die Hintergründe erfahren konnte, dachte Ulthar, sprach diesen Gedanken aber nicht aus. »Komm endlich zur Sache«, verlangte er. »Warum bist du gekommen?«
»Um endlich Frieden zu schließen. Es wird Zeit, das Kriegsbeil zu begraben.«
»Ich denke, wir hatten nie Krieg?« erinnerte Ulthar ironisch.
»Hör endlich auf mit den Spielchen«, zischte Conelly. »Ich bin nicht hier, um mit dir um Worte zu feilschen. Ich will dir einen Pakt anbieten, von dem wir beide profitieren. Es ist erbärmlich, wie die du deine einzigartigen Fähigkeiten vergeudest. Ich habe nichts gegen dich unternommen, aber das heißt nicht, daß ich dich nicht beobachtet hätte. Ich weiß, wie gut du deine Spiegel inzwischen beherrscht. Du könntest jeden in deine Macht bringen, die einflußreichsten, reichsten und mächtigsten Leute des Landes, statt dessen begnügst du dich damit, ein paar Teenager in dein Kabinett zu locken, die nachts hier herumstreunen.«
»Vielleicht reicht es mir«, wandte Ulthar ein. »Du weißt, daß ich nicht von hier weggehen kann, solange ich Melissa nicht gefunden habe. Nirgendwo sonst sind die Konstellationen so günstig.«
Conelly machte eine gleichgültige Handbewegung. »Wer sagt, daß du das sollst? Du kannst mir nichts vormachen, dafür kenne ich dich zu gut. Du gibst dir die Schuld an Melissas Tod, weil du sie nicht geschützt hast, und deshalb bestrafst du dich selbst, indem du dich von der Welt zurückziehst und hier den Emigranten spielst.«
»Ein bißchen Selbstbeschränkung tut manchmal ganz gut. Du hättest einen hervorragenden Psychiater abgegeben«, erwiderte Ulthar mit einem kalten Lächeln, doch diesmal reagierte Conelly nicht auf den Spott.
»Du hast über zwanzig Jahre um Melissa getrauert und alles unternommen, um sie zu finden«, fuhr er fort. »Du bist alt, viel Zeit bleibt dir nicht mehr. Willst du den Rest deines Lebens auch noch vergeuden?« Er machte eine kurze Pause. »Auch ich merke, daß ich allmählich älter werde, und es gibt noch vieles, was ich erreichen will. Diese Stadt wird mir allmählich zu klein. Ich habe größere Ziele.«
»Dann werde Präsident.«
»Warum nicht?« Conelly blieb ernst. »Vielleicht habe ich genau das vor. Ich habe New York immer nur als ein Sprungbrett gesehen, aber diese Sache mit der Prostituierten hängt mir auch nach all den Jahren noch nach. Ich komme nicht richtig voran. Ich kann dank meiner Helfer jeden ausschalten, der sich mir in den Weg stellt, aber im Gegensatz zu dir kann ich niemanden unter meinen Willen zwingen. Gemeinsam aber könnte uns niemand aufhalten. Ich kann dafür sorgen, daß jede auch nur einigermaßen einflußreiche Person in den Bann deiner Spiegel gerät.«
Ulthar überlegte. Wenn es ihm um diese Art von Macht ginge, brauchte er Conellys Hilfe nicht. Er war längst nicht mehr darauf angewiesen, zu warten, bis jemand aus freiem Willen in sein Kabinett kam. Bislang jedoch hatte er keinerlei Ambitionen in dieser Richtung gehegt. Wichtiger war es ihm gewesen, Melissa zu finden, und wenn er gleichzeitig versucht hätte, größere Macht zu erlangen, wäre der alte Konflikt mit Conelly oder möglicherweise auch anderen wie ihnen beiden neu entbrannt und hätte ihn von seinem eigentlichen Ziel abgelenkt. Mit Melissas Auftauchen hatte sich die Situation grundlegend verändert, aber die Suche hatte lange gedauert, viel, viel länger als anfangs erwartet. Er war alt geworden, doch das spielte nun keine Rolle mehr. Es war ein Irrtum zu glauben, ihm bliebe deshalb nicht mehr viel Zeit. Es war nur gerecht, wenn er zum Ausgleich für die ihretwegen verlorenen Jahre von Melissa die Preisgabe ihres besonderen Geheimnisses als Preis für ihre Befreiung verlangte.
In anderer Hinsicht sah er wegen der verstrichenen Zeit viel größere Schwierigkeiten auf sich zukommen. Er hatte sich weitgehend hier vergraben, und die Welt war in den zweieinhalb Jahrzehnten nicht stehengeblieben. Mit Sicherheit hatte sich vieles verändert, und Ulthar war sich nicht sicher, ob er sich auf Anhieb so zurechtfinden würde, wie nötig sein würde. Insofern kam ihm das Angebot nicht einmal ungelegen. Natürlich würde ihn Conelly nicht auf Dauer neben sich dulden, so wenig, wie er selbst es umgekehrt vorhatte, aber eine vorübergehende Zusammenarbeit würde Ulthar nur Vorteile bringen. Er konnte die Stärken und Schwächen seines Gegners kennenlernen und dieses Wissen dann gegen ihn verwenden. Der Monstermacher würde sich sein eigenes Grab schaufeln.
»Nun?« drängte Conelly.
Ulthar nickte bedächtig. »Warum eigentlich nicht? Vielleicht hast du recht. Die Welt ist groß genug für uns beide, wir sollten zusammenarbeiten. Und wie ich dich kenne, hast du doch bestimmt schon einen Plan.«
»Sogar mehr als das«, bestätigte Conelly mit einem zufriedenen Lächeln. »Ich habe schon konkrete Vorkehrungen getroffen. In ein paar Stunden findet bei mir ein Empfang statt, zu dem fast alle einflußreichen Persönlichkeiten der Stadt kommen werden. Eine ideale Gelegenheit, sie alle auf einmal in unsere Gewalt zu bringen. Ich werde dafür sorgen, daß du leichtes Spiel mit ihnen hast. Allerdings fordere ich dafür eine Gegenleistung.«
»Und die wäre?« erkundigte sich Ulthar gespannt. Er hatte von Anfang an gewußt, daß es einen Haken geben würde. Conelly wäre nicht Conelly, wenn er nicht irgendwelche Hintergedanken hegte.
»Nur eine Kleinigkeit«, erklärte Conelly. »Es geht um eine Frau. Sie könnte uns vielleicht gefährlich werden. Ich will sie haben. Ihr Name ist Vivian Taylor.«
Ulthar hatte Mühe, sich seinen Schrecken nicht anmerken zu lassen. Vivian Taylor war Melissas gegenwärtige Identität. Er hätte sich denken können, daß Conelly nur gekommen war, weil er Bescheid wußte und ihm zuvorkommen wollte. Aber dafür war es bereits zu spät.
»Einverstanden«, antwortete Ulthar mit einem ebenso freundlichen wie falschen Lächeln.
5
»Noch so ein Tag«, seufzte Mark Taylor, »und ich verkaufe den Konzern und beschäftige mich für den Rest meines Lebens mit Rosenzucht.« Er lehnte sich zurück, schloß die Augen und stieß geräuschvoll die Luft aus. Sein Gesicht wirkte blaß und eingefallen, und unter seinen Augen lagen tiefe, dunkle Ringe, die von den überstandenen Anstrengungen des Tages kündeten.
Vivian sah ihren Mann von der Seite an, runzelte die Stirn und lächelte dann wortlos. Sie wußte, daß Marks Worte nicht allzu ernst gemeint waren, auch wenn die Verhandlungen hart gewesen waren. Im Gegensatz zu so vielen anderen Kindern reicher Eltern, die auch als Erwachsene nur ihr Leben im Luxus genießen wollten, war Mark ein Arbeitstier - und ein Genie, was Geschäfte anging. Innerhalb der nur wenigen Jahre, die verstrichen waren, seit er nach dem Tod seiner Eltern ihr Erbe angetreten und damit die alleinige Leitung des Taylor-Konzerns übernommen hatte, war es ihm gelungen, dieses gesunde, aber nicht allzu bedeutende Unternehmen zu einem der mächtigsten und finanzkräftigsten Industriekonzerne der westlichen Welt zu machen. Ohne Verantwortung und Streß bereitete ihm das Leben keine Freude. Dennoch hatte Vivian ihm das Versprechen abgerungen, mit ihr einen Kurzurlaub zu unternehmen. Nach Abschluß der Verhandlungen würde sie zusammen für ein paar Tage in die amerikanische Wildnis fahren, um sich zu erholen.
»Die Verhandlungen waren zwar hart, aber auch sehr konstruktiv. Ich schätze, wir kommen schon morgen zum Abschluß«, fuhr er fort. »Also früher als erwartet.«