Ein triumphierendes Lächeln huschte über Ulthars Gesicht, als er die schlanke, hochgewachsene Gestalt musterte. Der Mann mochte etwa fünfzig Jahre alt sein; vielleicht ein wenig älter. Sein Gesicht war fein geschnitten, und in den Augen lag ein intelligenter, überlegener Ausdruck.
»Cramer ...« murmelte Ulthar triumphierend. »Jeremy Cramer ...«
Ein unmerkliches Zittern schien über das Spiegelbild zu laufen. Das Gesicht bewegte sich, zeigte plötzlich einen Ausdruck tiefster, verzweifelter Qual, und in die Augen trat ein bittender Ausdruck.
»Du erinnerst dich nicht an mich, wie?« flüsterte Ulthar.
Das Cramer-Spiegelbild bewegte die Lippen.
»Gib dir keine Mühe«, kicherte Ulthar. »Du bist gefangen. Erinnerst du dich wirklich nicht an mich? Es ist lange her, Jeremy. Du warst damals noch jung, ein unbedeutender kleiner FBI-Agent, der gerade erst von der Akademie kam. Damals war ich noch bereit, der Welt meine Spiegel zu schenken, aber ihr wolltet sie ja nicht. Ihr habt mich gejagt, und euch habe ich den Verlust meines Arms zu verdanken. Du erinnerst dich nicht einmal mehr daran, nicht? Aber ich habe euch nicht vergessen. Weder dich noch all die anderen Narren, die mich gedemütigt und über mich gelacht haben.« Sein Gesicht verzerrte sich vor Haß. Als er weiter sprach, zitterte seine Stimme vor Erregung. »Nun ist der Tag meiner Rache da, Jeremy. Du bist der erste, der sie zu spüren bekommt, aber du wirst nicht allein bleiben, verlaß dich darauf.«
Er machte eine knappe Geste, und ein Mann betrat den Raum durch die gleiche Tür, durch die Ulthar zuvor gekommen war. Der Mann war Jeremy Cramer. Er trat neben Ulthar vor den Spiegel und betrachtete mit gefühlloser Miene sein Spiegelbild, das ihn seinerseits mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen musterte. Nach wenigen Sekunden verließ Jeremy Cramer das Zimmer wieder.
»Wie du siehst, entsteht der Welt durch deine Gefangenschaft hier keinerlei Verlust«, wandte sich Ulthar wieder an das Spiegelbild. »Man wird dich nicht einmal vermissen, aber von nun an wird das FBI in New York nur noch tun, was ich will.«
Er kicherte erneut, warf das Tuch mit gekonntem Schwung wieder über den Spiegel und ging zu einer schmalen, metallverkleideten Tür an der Rückwand des Raumes hinüber. Auch dahinter erstreckte sich ein langer, niedriger Gang, der ganz mit Spiegeln ausgekleidet war, voller sinnverwirrender Kreuzungen und Irrwege. Ulthar ging ihn entlang, bis er schließlich einen weiteren niedrigen Raum erreichte, der von flackernden Kerzen nur spärlich erleuchtet wurde. Im Zentrum des Raumes stand ein riesiger, in kostbare Schnitzereien gerahmter Spiegel. Ulthar trat darauf zu, murmelte ein paar halblaute Worte und fuhr mit den Fingerspitzen darüber. Graue Nebelschwaden schienen für einen Moment über die riesige Kristallfläche zu wallen, dann klärte sich das Bild, und Conelly hatte das Gefühl, durch ein übergroßes Fenster auf den Ballsaal zu starren, in dem Conellys Jubiläumsfeier gerade dem Höhepunkt zustrebte.
Die Falle war bereits zugeschnappt, und wie Conelly versprochen hatte, waren wirklich alle da, die in dieser Stadt Rang und Namen hatten. Keiner von ihnen würde entkommen, und sie würden allein ihm gehorchen, nicht Conelly. Der Monstermacher selbst spielte sie ihm in die Hand.
Zunächst aber ging es um Wichtigeres. Vivian Taylor mußte in Sicherheit gebracht werden, bevor Conelly sie in die Hände bekommen konnte. Ulthar berührte den Spiegel erneut, und die Szene wechselte. Ein hoher, von Schatten und jahrzehntealtem Staub erfüllter Raum. Auf dem Boden standen Kisten, Kartons und ausrangierte Möbelstücke herum, und im Hintergrund nahm Ulthar eine vage Bewegung wahr.
»Fangt an!« flüsterte er.
Mark hatte alle Mühe, dem Mann unauffällig zu folgen. Ein- oder zweimal verlor er ihn in dem Menschengewühl der Party, aber er hatte sich das schmale Gesicht mit den stechenden Augen gut genug eingeprägt, um es wiederzuerkennen. Er fand ihn schließlich bei einer Gruppe etwas abseits stehender Männer - Bender, Conelly, FBI-Direktor Cramer und noch fünf oder sechs weitere wichtige Persönlichkeiten der Stadt, deren Namen ihm nicht auf Anhieb einfielen. Der Mann redete mit schnellen, hastigen Worten auf Conelly ein und unterstrich seine Ausführungen mit kleinen, nervösen Handbewegungen. Conelly hörte offenbar interessiert zu. Mark konnte die Worte nicht verstehen, aber nach dem Gesichtsausdruck des Bürgermeisters zu schließen, mußte es sich um eine ernste Angelegenheit handeln, und Mark konnte sich auch denken, was.
Er wich mit einer hastigen Bewegung in eine Wandnische zurück, als Conelly den Kopf hob und mit angespanntem Gesichtsausdruck über die Menge blickte. Mark war sich darüber im klaren, daß er einen ziemlich albernen Anblick bieten mußte, wie er so in der Nische stand, den Rücken eng gegen die Wand gepreßt, und mit einem Auge um die Ecke blinzelnd. Drei oder vier der umstehenden Partygäste drehten bereits die Köpfe und warfen ihm teils belustigte, teils fragende Blicke zu.
Mark grinste dümmlich, trat vor und drehte der Gruppe den Rücken zu. Seine Hand fuhr in die Tasche und kam mit einem kleinen, ledernen Frisieretui wieder zum Vorschein. Der Spiegel darin war zwar winzig, aber er würde zur Not ausreichen, um Conelly und seine Gesprächspartner - oder wenigstens Cramer - einigermaßen unauffällig zu betrachten.
Mark unterdrückte im letzten Moment einen erschrockenen Aufschrei, als sein Blick in den Spiegel fiel.
Die Nische hinter ihm war fast leer. Weder Cramer noch Bender, noch einer der anderen Männer war in dem winzigen Spiegel zu sehen. Conelly schien ganz allein in der Nische zu stehen. Mark fuhr wie von der Tarantel gestochen herum und starrte mit ungläubigem Entsetzen auf die acht Männer. Für einen kurzen, grauenhaften Moment traf sich sein Blick mit dem Conellys. Der Bürgermeister lächelte dünn, aber es war eine Geste ohne jede Bedeutung, ein leeres, schon fast hämisches Verziehen der Lippen. Sein Gesicht wirkte plötzlich hart und grausam, und in den kleinen, dunklen Augen schien etwas unendlich Böses, Lauerndes zu liegen. Mark hatte Mühe, sich dem hypnotischen Einfluß dieser Augen zu entziehen.
Conelly nickte ihm mit scheinbarer Freundlichkeit zu, aber es schien Mark, als wolle ihm der dickleibige Bürgermeister auf diese wortlose, direkte Art mitteilen: Wir haben dich schon, Freund. Streng dich ruhig an. Es hat sowieso keinen Sinn. Gleich darauf drehte Conelly den Kopf zur Seite, sagte irgend etwas zu Cramer und ging mit schnellen Schritten davon.
Mark folgte ihm. Er spürte die Blicke der anderen in seinem Rücken. Er kam sich plötzlich vor wie ein kleines Kind, das mit geschlossenen Augen in einer Ecke sitzt und glaubt, daß es nicht zu sehen sei, weil es selbst nichts sehen kann.
Conelly durchquerte den Raum mit weit ausgreifenden Schritten, sah sich um und verschwand dann hinter einer Marmorsäule. Mark folgte ihm. Keiner der anderen Gäste schien von seinem seltsamen Benehmen Notiz zu nehmen.
Hinter der Säule befand sich eine schmale, kaum sichtbare Tapetentür. Mark zögerte eine halbe Sekunde, ehe er mit einer entschlossenen Bewegung nach dem Griff langte und hindurchschlüpfte.
Muffige, abgestanden riechende Luft schlug ihm entgegen, als er den schmalen Gang betrat. Eine nackte Glühbirne, die an einem einfachen Draht von der Decke baumelte, erfüllte den langen Korridor mit düsterstem Zwielicht. Mark zog die Tür hinter sich wieder ins Schloß und lauschte. Irgendwo vor ihm waren Schritte zu hören, das Trampeln von harten Schuhsohlen auf knarrendem Holz.
Nach all der glitzernden Pracht und dem zur Schau gestellten Luxus der Party kam Mark der schmale Gang doppelt schäbig vor. Die Wände bestanden aus nackten, unverputzten Steinen, zwischen denen der Mörtel hervorbröckelte. Auf dem Fußboden lag eine dicke Staubschicht, in der sich Conellys Spuren überdeutlich abzeichneten. Die trübe Glühbirne erfüllte den Gang mit einem seltsamen unwirklichen Licht, in dem die Schatten zu unheilvollem Leben zu erwachen schienen. Mark kam sich plötzlich vor, als wäre er in einer gigantischen Rattenfalle gefangen. Mit klopfendem Herzen setzte er sich in Bewegung und folgte den Fußspuren des Bürgermeisters.