Mit einem weiten Satz erreichte Mark eine der großen Kisten und duckte sich dahinter. Er hörte Geräusche: Leise Schritte, aber auch noch etwas anderes, einen sonderbaren kratzenden Laut, als würden scharfe Krallen über irgend etwas scharren. Mark packte das Stuhlbein fester, richtete sich ein klein wenig auf und bereitete sich darauf vor, vorzuspringen, doch dazu kam es nicht mehr.
Als er den Kopf hob, blickte er direkt in ein Paar glühender, weit aufgerissener Augen, dann schien unmittelbar vor ihm ein ungeheuer schwarzer Umriß aus dem Boden zu wachsen; ein gigantischer, verzerrter Schatten, der sich mit gierig emporgerissenen Klauen auf ihn stürzte.
Mark schrie auf und warf sich instinktiv zur Seite. Er hörte, wie die Klauen dicht neben ihm das Holz der Kiste trafen, sich hineinbohrten und es zerfetzten. Mark rollte über den Boden, prallte gegen irgend etwas und stemmte sich in die Höhe. Mühsam kam er auf die Beine. Im Halbdunkel des Dachbodens erkannte er weitere Gestalten, die ihm den Weg zur Tür versperrten und sich ihm in einem Halbkreis näherten. Es war zu dunkel, als daß er sie genauer erkennen konnte, und er war fast froh darüber. Schon die vagen Umrisse verrieten ihm, daß es sich nicht um Menschen handelte.
Er wich zurück, bis er mit dem Rücken an den Rahmen des Spiegels stieß. Die Kreaturen näherten sich ihm langsam, wußten ihn in der sicheren Falle.
Aber vielleicht gab es doch noch einen Ausweg. Obwohl er eine panische Angst vor dem verspürte, was ihn erwarten mochte, atmete Mark tief durch, schloß die Augen und sprang dann mit einem entschlossenen Satz direkt in den Spiegel hinein.
8
Vivians Herz begann wild zu schlagen, als sie durch den schmalen Gang zum Ballsaal zurückging. Der leere, helle Fleck an der Wand, an der der Spiegel gehangen hatte, schien sie höhnisch anzugrinsen. Sie wußte jetzt, daß sie sich nicht getäuscht hatte. Ihre Nervosität war nicht unbegründet gewesen, und das Gefühl der Bedrohung, das wie ein übler Pesthauch über dem Ball zu schweben schien, entsprang ganz und gar nicht ihrer Einbildung.
Sie blieb am Eingang des Ballsaales stehen und hielt über das Meer wogender Köpfe nach Mark Ausschau, doch sie konnte ihn nirgends entdecken. Bei der Anzahl der hier versammelten Menschen würde es fast an ein Wunder grenzen, einen einzelnen Mann auf Anhieb herauszufinden.
Jemand berührte sie zaghaft an der Schulter. »Äh ... Verzeihung ...«
Vivian fuhr unnötig heftig herum, »Ja?«
»Sie ... Sie sind Missis Taylor?« fragte der Mann. Er war groß, beinahe ein Riese und höchstens zwanzig Jahre alt. Seine Schultern schienen sein Jackett sprengen zu wollen, und seine Hände, die ungeschickt den zerbrechlichen Stiel eines Sektglases umklammerten, schienen eher dazu geneigt, einen Schmiedehammer zu schwingen.
»Ich bin Missis Taylor«, antwortete Vivian. »Warum?«
Der Junge lächelte ungeschickt. »Sie ... Sie werden mich nicht kennen«, sagte er unbeholfen. »Aber ich muß Sie sprechen. Sofort.«
»Warum?«
»Sehen Sie, das ist ...« Er brach ab und suchte sichtlich nach Worten. »Ich habe Sie beobachtet«, stieß er schließlich hervor. »Vorhin, als Sie mit Bender und den anderen sprachen. Und ... Sie haben es gemerkt, nicht?«
»Was gemerkt?« fragte Vivian. Irgend etwas an dem Jungen störte sie, etwas, das sie auf beunruhigende Art an Bender und Cramer und die anderen erinnerte. Sie wich unwillkürlich einen Schritt zurück.
»Die Spiegel«, sagte er. »Ich weiß, was es damit auf sich hat. Aber ... sehen Sie, niemand würde mir glauben. Und da habe ich gedacht, Sie ...« Er stockte, spielte nervös mit seinem Glas und warf Vivian einen fast flehenden Blick zu. »Vielleicht gehen wir irgendwohin, wo wir in Ruhe sprechen können«, sagte er dann. »Ich ... ich traue hier niemandem.«
Vivian zögerte noch. Sie wünschte sich, Mark wäre hier, aber sie konnte ihn auch jetzt nirgends entdecken. »Gut«, sagte sie schließlich. »Gehen wir.«
Der Junge nickte erleichtert, stellte sein Glas auf den Tisch und machte eine einladende Bewegung. »Dort drüben ist ein kleiner Salon«, sagte er. »Dort können wir reden.«
Sie folgte ihm in einen kleinen, im altenglischen Stil eingerichteten Raum, der dazu dienen mochte, Partygäste Gelegenheit zur Ruhe oder zu einem privaten Flirt zu geben. Im Augenblick war er leer, aber eine Anzahl benutzter Gläser und der Geruch von kaltem Zigarettenrauch in der Luft verrieten, daß er vor wenigen Augenblicken benutzt worden war.
»Also«, sagte Vivian, nachdem sie den Raum betreten hatte, »was gibt es so Geheimnisvolles?« Sie drehte sich um und sah gerade noch, wie der Mann die Tür hinter sich ins Schloß zog und den Schlüssel herumdrehte. »Was ...«
»Sie interessieren sich für das Geheimnis der Spiegel, nicht wahr, Missis Taylor?« sagte der Fremde. Seine Stimme klang plötzlich ganz anders als noch vor wenigen Sekunden. Überhaupt schien er sich vollkommen verändert zu haben. Das war nicht mehr der große Junge, der sie mit vor Aufregung zitternder Stimme hierhergebeten hatte. Vivian spürte plötzlich die Gefahr, die von dem Fremden ausging. Eine Aura der Gewalt schien ihn zu umgeben. Es war das gleiche Gefühl, das sie schon bei der Begegnung mit dem Polizeipräsidenten gehabt hatte. »Sie sollen es erfahren.«
»Öffnen Sie sofort die Tür!« befahl Vivian.
Ein häßliches Lächeln spielte um die Lippen des Riesen. Er trat zurück, lehnte sich mit den Schultern gegen die Tür und verschränkte die Arme. »Nicht, bevor ich Ihnen mein kleines Geheimnis gezeigt habe«, sagte er. »Sie haben sich schon gedacht, daß es mit dem Verschwinden der Spiegel etwas Besonderes auf sich hat, nicht wahr? Sie sind eine intelligente junge Frau mit außergewöhnlichen Fähigkeiten, Missis Taylor.« Er stieß sich vom Türrahmen ab und blieb zwei Schritte vor Vivian stehen. »Schauen Sie!« Seine ausgestreckte Rechte deutete auf irgend etwas an der Wand hinter ihr.
Vivian überlegte kurz, ob es sich um einen Trick handelte, begriff dann aber, daß sie ohnehin schon in der Falle saß und drehte sich um. Ein breiter, aus wuchtigem Naturstein erbauter Kamin beherrschte beinahe die gesamte Rückwand des Salons. Darüber hing ein großer, rechteckiger und von einem weißen Laken verhüllter Gegenstand an der Wand.
»Nehmen Sie das Tuch herunter«, befahl der Fremde.
Vivian ging automatisch zum Kamin hinüber. Sie spürte instinktiv, daß ihr von dort Gefahr drohte, aber ihre Hände schienen ihrem Willen nicht mehr zu gehorchen. Sie griff hinauf, packte das weiße Leinen mit beiden Händen und zog es mit einem energischen Ruck herunter.
An der Wand hing ein riesiger Spiegel.
Vivian schrie unwillkürlich auf, als sie hineinsah. Der Spiegel zeigte ein getreues Abbild des Raumes hinter ihr. Mit ihrer eigenen Gestalt.
»Verstehen Sie jetzt, warum es in diesem Haus keine Spiegel gibt?« fragte der Fremde leise. Vivian spürte den warmen Atem des Mannes an ihrem Ohr, hörte das Rascheln seiner Kleidung ... aber der Mann selbst war im Spiegel nicht zu sehen!
Für eine endlose, quälende Sekunde stand sie wie gelähmt da und versuchte, das Unglaubliche zu verstehen. Dann fuhr sie mit einem spitzen Aufschrei herum, tauchte unter den zupackenden Händen des Hünen hindurch und hetzte zur Tür. Mit fliegenden Fingern drehte sie den Schlüssel herum und griff nach der Klinke, obwohl sie wußte, daß sie es nicht schaffen würde.
Der Mann war mit einem einzigen, schnellen Schritt bei ihr, packte sie an der Schulter und schleuderte sie in den Raum zurück. »Ich habe Sie nicht nur hierhergebeten, um Ihnen den Spiegel zu zeigen«, sagte er spöttisch. »Ich fürchte, Sie werden mich begleiten müssen.«
Vivians Herz begann wild zu schlagen. Sie spürte, daß es hier um viel mehr als ein gewöhnliches Verbrechen ging. Irgend etwas an ihrem Gegner irritierte sie, jagte ihr größere Furcht ein als die Gefahr, in der sie sich befand. Der junge Hüne war kein Entführer, der es auf ein Lösegeld abgesehen hatte, auch kein Terrorist, dessen war sie sich völlig sicher. Sie wich unwillkürlich zurück, als er auf sie zutrat. Er sah aus wie ein Mensch, bewegte sich und sprach wie einer - aber etwas an ihm war ... falsch.