Aber sie war jung, gerade erst volljährig, und sie war frisch verliebt. Franks Vorschlag, eine nächtliche Bootsfahrt zu unternehmen und im Anschluß daran einen Bummel durch den stillgelegten Vergnügungspark auf Coney Island zu unternehmen, hatte sich nicht nur verlockend angehört, sondern vor allem auch höllisch romantisch, und Romantik war etwas, wovon es in einem Leben in trostloser Arbeitslosigkeit zwischen billigen Bars und Discos und der Steinwüste abbruchreifer Gemäuer in den Slums viel zuwenig gab. Dennoch hatte Melissa gezögert, aber es war Frank nicht schwergefallen, sie mit zahlreichen Küssen, Versprechungen und seinem Charme umzustimmen, so linkisch und unbeholfen er manchmal auch sein mochte.
Frank war bei weitem nicht so hart und rücksichtslos, wie er sich selbst gerne gab. Unter der rauhen Schale lag ein eher sanfter Kern verborgen, der sich auch in seinen Augen widerspiegelte, und den Melissa auf Anhieb entdeckt hatte. Obwohl sie erst seit knapp zwei Wochen fest mit Frank befreundet war, zeigte ihr Einfluß bereits unverkennbare Spuren. An diesem Abend hatte er ihr zuliebe sogar seinen Bart ein wenig gestutzt und auf seine Motorradkluft verzichtet, die er sonst ständig trug. Statt dessen hatte er eine saubere Jeans und ein frisches Hemd angezogen.
»Komm schon«, sagte Frank. Er legte seinen Arm um sie, zog sie an sich und schlenderte zusammen mit ihr los. Nach wenigen Dutzend Metern schon erreichten sie den ehemaligen Rummelplatz. Melissa preßte sich enger an ihren Begleiter, und seine Nähe vermittelte ihr ein Gefühl des Schutzes, dennoch bedauerte sie es, ihm nachgegeben zu haben. Mit jedem Schritt, den sie tiefer in die Geisterstadt aus Bretterbuden und verrottenden Wellblechbuden eindrangen, schien sich das Gefühl der Bedrohung zu verstärken. Später würde sie wahrscheinlich darüber lachen, so wie man sich nach einem Gruselfilm beim Verlassen eines Kinos meist kaum noch vorstellen konnte, sich während der Vorführung gefürchtet zu haben, aber im Moment war das Gefühl noch höchst gegenwärtig.
Das fahle Mondlicht ließ die Farbe an den Buden, Karussells und Häusern verblassen, aber es legte auch einen barmherzigen Schleier über die überall sichtbaren Zeichen des Verfalls; abgeblätterter Lack, heruntergefallene Dachziegel. Türen, die schräg und halbverfault in ihren Angeln hingen. Sie kamen an einer verlassenen Geisterbahn vorbei. Jemand hatte die Bretter, mit denen der Eingang zugenagelt gewesen war, heruntergerissen, und der gähnende schwarze Schlund erschien ihr wie ein Tor zu einer fremden, geheimnisvollen Welt. Melissa blieb stehen. Über dem Eingang glotzten sie die Augen eines Phantasiemonsters an, ein hornköpfiges, geschupptes Ungeheuer, vor dem sich wahrscheinlich nicht einmal kleine Kinder erschrecken würden. Daneben war etwas, das vage an eine menschliche Gestalt erinnerte, aber Regen und Zeit hatten die lackierte Oberfläche aufgebrochen und den Puppenkörper zu einer verquollenen, weißgrauen Masse werden lassen. Das einzige, was noch zu erkennen war, war eine Hand; eine Laune der Witterung hatte sie vor dem Verfall bewahrt. Sie ragte weiß und zu einer Klaue verkrümmt aus dem Rest der aufgeschwemmten Masse, fast so, als hätte hier ein bizarres Protoplasmawesen einen Menschen verschlungen.
Melissa schüttelte sich. Obwohl der Anblick sie entsetzte, verspürte sie gleichzeitig eine morbide Faszination. Die drängende, an Panik grenzende Angst wich allmählich jener Art wohligen Grauens, das sie im Kino empfand. Sie spürte, wie ihr Herz wild und hart zu hämmern begann. Ihre Finger krallten sich so fest in Franks Oberarm, daß der junge Mann zusammenzuckte.
Er grinste. »Na, habe ich zuviel versprochen? So ein bißchen Grusel ist doch ganz aufregend.«
Melissa schüttelte den Kopf, ohne zu antworten. Franks Stimme hatte seltsam laut und durchdringend geklungen, obwohl er sich Mühe gab, leise zu sein. Aber die verlassenen Gebäude schienen jedes Geräusch zu verstärken und tausendfach verzerrt zurückzuwerfen. Nein; nicht jedes, verbesserte sie sich in Gedanken. Das Geräusch ihrer Schritte beispielsweise war kaum zu hören. Der Boden schien die Laute aufzusaugen.
Irgendwo klapperte etwas - ein loser Fensterrahmen vielleicht. Eine Tür, die sich im Wind bewegte. Melissa fuhr zusammen und lächelte unsicher. »Meinst du nicht, daß wir lieber umkehren sollen?« fragte sie leise. Die Worte kamen ihr nur mühsam über die Lippen; auf gar keinen Fall wollte sie, daß Frank sie für feige hielt, und deshalb fügte sie rasch hinzu: »Hier gibt es ja doch nichts zu entdecken, und besonders romantisch finde ich diesen ganzen Dreck auch nicht. Dafür ist alles viel zu trostlos.«
»He, nun sei doch keine Spielverderberin.« Frank lachte und gab ihr einen Kuß auf die Wange. »Wir sind doch gerade erst angekommen. Was ist denn bloß los mit dir?«
Melissa senkte den Blick. »Ich weiß auch nicht. Ich habe mir das alles ein bißchen anders vorgestellt. Ich wollte so gern ein paar Stunden mit dir allein sein, aber hier ...« Sie zuckte nervös mit den Schultern. »Sehen wir uns noch ein bißchen um, aber laß uns nicht mehr allzu lange bleiben, okay?« Ihre Stimme bebte.
Sie drangen tiefer in das Labyrinth aus Geisterbahnen, Schießbuden und Schiffschaukeln und tausend anderen Jahrmarktsattraktionen ein. Melissa versuchte sich vorzustellen, wie es hier wohl ausgesehen haben mochte, als Coney Island noch nicht aufgegeben worden war. Coney Island, die Insel der Träume, auf der Illusionen und Wünsche für ein paar Stunden wahr werden konnten. Plötzlich glaubte sie Stimmen zu hören, das dumpfe Raunen einer riesigen Menschenmenge, die die engen Gassen bevölkerte. Kinderlachen, die Stimmen der Ausrufer, die sich gegenseitig zu überbrüllen versuchten, das Plärren von einem Dutzend Lautsprechern. In ihrer Phantasie wurde der Vergnügungspark mit all seinen Farben und Lauten, seinem Treiben, dem Lachen und den fröhlichen Kindern, die ihre Mütter um ein paar Cent für die Geisterbahn anbettelten, noch einmal lebendig. Dann verschwand die Illusion, und statt dessen tauchte noch einmal die weiße, verquollene Masse aus Pappmaché und Klebstoff auf. Eine verkrampfte menschliche Hand ragte daraus hervor. Die Musik in ihren Ohren wurde schrill und mißtönend, eine kreischende Kakophonie des Grauens, und all die fröhlichen, heiteren Menschen, mit denen ihre Phantasie die Halbinsel bevölkert hatte, begannen sich auf erschreckende Weise zu verändern. Ihre Gesichter wirkten plötzlich verzerrt. In den Augen, die Melissa hilfesuchend anzustarren schienen, stand ein Ausdruck unbeschreiblicher Qual.
Melissa ballte die Fäuste, riß die Augen auf und versuchte, den gräßlichen Anblick zu verscheuchen. Ihr Blick tastete über das Stahlskelett des Riesenrades, das hoch über die zerrissene Skyline der Geisterstadt aufragte. Ein einzelner, blasser Stern blinkte durch das Gewirr von Trägern und Streben, von dem die verrosteten Gondeln wie die Körper Gehängter baumelten. Sie hatte plötzlich das Gefühl, das dieser Stern sie anstarrte; ein kaltes, gefühlloses Auge, das sie abschätzte wie ein Raubtier, bevor es seine Beute schlug. Mit äußerster Willenskraft gelang es Melissa, sich von der Vorstellung loszureißen. Die Bilder verblaßten, die Musik verklang, wurde dünner und hörte schließlich ganz auf.
Nein - nicht ganz.
Sie blieb stehen, schloß die Augen und lauschte angestrengt. Von irgendwoher wehte Musik an ihr Ohr, dünne, anspruchslose Musik, wie man sie nur auf Jahrmärkten hören konnte.
Frank war ebenfalls stehengeblieben. »Sag mal - hörst du das auch?« fragte er.
Melissa nickte wortlos. Ohne einen vernünftigen Grund dafür nennen zu können, fürchtete sie sich plötzlich vor der Musik.
»Komm. Wir gehen nachsehen«, schlug Frank vor.
Melissa zögerte. »Nein - ich würde lieber ...«