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Nein! Nein, er würde es nicht tun.

Aber er wußte, daß er es tun mußte.

Sein Weinen wandelte sich in Gelächter, eiskalt rollte es in seinem Wahnsinn aus ihm heraus in die leere Gruft. Er wartete, bis es sich von allein erschöpfte und das Echo zu Stille verstummte. Dann schaute er wieder auf. Seine Möglichkeiten hatten sich erschöpft, sein Schicksal war besiegelt. Wenn er jetzt nicht freikam, wußte er, würde er nie mehr freikommen.

Und es gab nur einen einzigen Weg.

Er machte sich stark dafür, schirmte sich vor seinen Gefühlen ab und zog aus einer letzten Reserve seine allerletzte Kraft. Er ließ seinen Blick über den Höhlenboden wandern, bis er fand, was er brauchte. Es war ein Felsbrocken von etwa der Größe und der Form einer Beilklinge, auf einer Seite ausgezackt und hart genug, den Sturz von der Höhlendecke überstanden zu haben, wo er vier Jahrhunderte zuvor bei dem Kampf zwischen Allanon und der Schlange Valg losgeschlagen worden war. Der Stein lag fast sieben Meter entfernt, eindeutig jenseits der Reichweite eines gewöhnlichen Menschen. Doch nicht für ihn. Er sammelte ein Fragment der Magie, die ihm noch blieb, und zwang sich, standhaft zu bleiben, während er sie benutzte. Der Stein ruckte knirschend vorwärts, ein langsames Kratzen in der Stille der Höhle. Walker schwindelte von der Anstrengung, das Fieber brannte in ihm, verursachte ihm Übelkeit. Doch er ließ den Stein stetig näherrücken.

Endlich war er in Reichweite seiner freien Hand. Er ließ die Magie davonschlüpfen und brauchte eine lange Weile, um sich wieder zu erholen. Dann streckte er die Hand aus, und seine Finger packten den Stein. Langsam holte er ihn heran, fand ihn ungeheuer schwer, so schwer, daß er nicht sicher war, ob er ihn hochheben konnte, geschweige denn …

Er konnte den Gedanken nicht zu Ende denken. Er konnte sich mit dem, was er auf dem Wege war zu tun, nicht aufhalten. Er zerrte den Stein heran, bis er neben ihm lag, stützte sich fest auf seine Knie, holte tief Luft, hob den Stein über den Kopf, zögerte einen winzigen Augenblick und brachte ihn dann in einem Drang aus Furcht und Eile herunter. Er krachte auf den Stein seines Armes zwischen Handgelenk und Ellenbogen und schlug mit solcher Kraft auf, daß sein ganzer Körper davon erschüttert wurde. Der davon hervorgerufene Schmerz war so qualvoll, daß er ihn bewußtlos zu machen drohte. Er schrie, als er in Wellen über ihn schlug, er hatte das Gefühl, zerrissen zu werden, von innen nach außen. Er fiel vornüber, schnappte nach Luft, und der Beilklingenstein fiel aus seinen verkrampften Fingern.

Dann merkte er, daß sich etwas verändert hatte.

Er richtete sich auf und schaute auf seinen Arm hinunter. Der Schlag hatte sein steinernes Glied an der Stelle des Aufschlag zerschmettert. Handgelenk und Hand waren im Dämmerlicht dieses verborgenen Lochs im Höhlenboden an den Asphinx geheftet. Doch sein übriger Körper war frei.

In benommenem Staunen kniete er lange Zeit so da, starrte auf die Überreste seines Arms, auf das graudurchzogene Fleisch oberhalb des Ellenbogens und die zersplitterten Reste am Boden. Sein Arm war bleischwer und steif. Das Gift, das sich schon dann befand, wirkte weiter. Schmerz durchzuckte seinen ganzen Leib.

Aber er war frei! Himmel noch mal, er war frei!

Plötzlich rührte sich etwas in der hinteren Kammer, ein schwaches, entferntes Rascheln, als ob etwas erwacht sei. Walker Boh wurde es eiskalt in der Magengrube, als er begriff, was geschehen war. Sein Schrei hatte ihn verraten. Die hintere Kammer war der Versammlungssaal, und im Versammlungssaal hatte einst die Schlange Valg, Wächter der Toten, gelebt.

Und lebte vielleicht noch immer.

Walker stand auf, und ein plötzlicher Schwindelanfall packte ihn. Er ignorierte es, ignorierte auch Schmerz und Erschöpfung, und taumelte zu den schweren, eisenbeschlagenen Eingangstoren, durch die er hereingekommen war. Er verdrängte sämtliche Geräusche um sich herum und in seinem Inneren und konzentrierte seine ganze Anstrengung darauf, über den Höhlenboden zu der Passage dahinter zu gelangen. Falls die Schlange lebte und ihn jetzt fand, war es mit ihm zu Ende, das wußte er.

Das Glück war ihm hold. Die Schlange kam nicht zum Vorschein. Nichts kam zum Vorschein. Walker erreichte die Tür, die aus der Gruft führte, und schaffte es hinaus in die Finsternis.

Was danach geschah, war ihm nachher nie ganz klar. Irgendwie gelangte er in die Königshalle, vorbei an den Todesfeen, deren Geheul einen wahnsinnig machen konnte, vorbei an den Sphinxen, deren Blick einen in Stein zu verwandeln vermochte. Er hörte die Todesfeen brüllen, fühlte den Blick der Sphinxen brennen und spürte das Grauen der uralten Magie des Bergs, der versuchte, ihm eine Falle zu stellen und zu einem weiteren Opfer zu machen. Doch er entkam. Ein letzter Schild von Entschlossenheit schützte ihn, obwohl dem Wahnsinn nahe, auf dem Weg, ein eiserner Wille, gepaart mit Erschöpfung und Schmerz, umhüllte und bewahrte ihn. Vielleicht kam ihm auch seine Magie zur Hilfe, er hielt es für möglich. Die Magie war schließlich ein unvorhersehbares, ein ewiges Mysterium. Er trotzte sich durch die fast vollständige Dunkelheit und vorbei an phantasmagorischen Bildern und steinernen Wänden, die sich um ihn zu schließen drohten, durch Tunnel von Anblicken und Geräuschen, in denen er weder sehen noch hören konnte, und schließlich war er frei.

Er gelangte bei Tagesanbruch in die Außenwelt. Die Sonne schien blaß und kühl durch die graue, tiefhängende Wolkendecke, die von einem Gewitter der vergangenen Nacht übriggeblieben war. Den Arm unter dem Umhang verborgen wie ein verwundetes Kind, folgte er dem Bergpfad hinunter in die südlichen Ebenen. Er schaute keinmal zurück. Er konnte kaum nach vorn schauen. Er war nur auf den Beinen, weil er sich weigerte, klein beizugeben. Er konnte sich selbst kaum noch fühlen, nicht einmal die Schmerzen seiner Vergiftung. Er ging, als würde er an Fäden vorangezerrt, die an seinen Gliedmaßen festgebunden waren.

Sein schwarzes Haar wehte wild im Wind, peitschte ihm das blasse Gesicht, bis ihm die Augen tränten. Wie eine Vogelscheuche des Wahnsinns verließ er den grauen Nebel.

Dunkler Onkel, wisperte die Stimme des Finsterweihers in seinem Bewußtsein und lachte schadenfroh.

Er hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Dem schwachen Sonnenlicht gelang es nicht, die Gewitterwolken aufzulösen, und der Tag blieb farblos und unfreundlich. Wege kamen und gingen, eine endlose Prozession von Felsen, Schluchten, Hohlwegen und Abgründen. Walker nahm das alles nicht wahr. Er wußte nur, daß er bergab ging, daß er sich abwärts aus dem Felsengebiet arbeitete, zurück in die Welt, die er so törichterweise verlassen hatte. Er wußte, daß er versuchte, sein eigenes Leben zu retten.

Es war Mittag, als er endlich die hohen Gipfel hinter sich ließ und das Tal von Shale erreichte, ein zerlumptes, zielloses Etwas von einer menschlichen Ruine, so fieberkrank und schwach, daß er halbwegs über den zersplitterten, glänzendschwarzen Fels des Talbodens stolperte, ehe er begriff, wo er war. Als er es schließlich erkannte, verließen ihn seine Kräfte. Er verwickelte sich mit seinem Mantel und stürzte, fühlte, wie die scharfen Kanten des Gesteins ihm die Haut der Hand und des Gesichts ritzten, doch er beachtete es nicht und blieb mit dem Gesicht nach unten erschöpft liegen. Nach einer Weile begann er in Richtung der stillen Wasser des Sees zu kriechen, mühsam rückte er, mit seinem versteinerten Armstumpf unter sich, stückchenweise vor. In seinem Delirium erschien es ihm logisch, daß, wenn er den Rand des Hadeshorns erreichte und seinen kaputten Arm hineintauchte, die todbringenden Wasser dem Gift, das ihn langsam umbrachte, entgegenwirken würden. Es war Unsinn, doch für Walker Boh war Wahnsinn das Maß des Lebens geworden.

Doch er versagte selbst in diesem kleinen Bestreben. Zu schwach, mehr als ein paar Meter zurückzulegen, verlor er das Bewußtsein. Das letzte, was er wahrnahm, war, wie finster es mitten am Tag war, die Welt ein Ort der Schatten.