»Als er mit dem Bogen und den Pfeilen zurückkam, wurde Volemak geschwächt. Er wurde schon gestern geschwächt, als Nafai darauf bestand, die Reise fortzusetzen. Daraufhin wurden alle Verbindungen schwächer, die diese Gruppe zusammenhalten. Ich sah es, als ich heute morgen aufstand — überall Risse. Wir standen am Rand des Chaos. Und noch etwas Schlimmeres zwischen Vas und Elemak — ein schrecklicher Haß, den ich nicht verstand. Doch Nafai hat die Befehlsgewalt nun seinem Vater zurückgegeben. Er hätte sie selbst nehmen und uns auseinanderreißen können, doch das tat er nicht — er hat sie zurückgegeben, und ich sehe schon, daß wir bereits in die alten Muster zurückfallen.«
»Manchmal, Schuja, wünsche ich mir, ich hätte deine Begabung statt meiner.«
»Meine ist manchmal angenehmer und praktischer«, sagte Huschidh. »Aber du bist die Wasser Seherin.«
Da Schveja an Luets Brust saugte und obszön schlürfte, als wolle sie so viel wie möglich trinken, bevor Luet wieder irgendwo hinlief, fiel es Luet schwer, ihre edle Berufung allzu ernst zu nehmen. Sie antwortete Huschidh mit Gelächter. Ihr Lachen wurde von den anderen gehört, die ihr leises Gespräch nicht hatten verstehen können, und viele drehten sich zu ihr um. Was war nur so amüsant, schienen sie sich zu fragen, an einem Morgen wie diesem, an dem über unsere gesamte Zukunft entschieden wird?
Nafai und Volemak traten aus dem Zelt. Volemaks Verwirrung hatte sich gelegt. Er hatte wieder das Kommando; er umarmte seinen Sohn, deutete gen Südosten und sagte: »Dort wirst du Beute finden, Nafai. Komm schnell zurück, und ich werde erlauben, daß das Fleisch gekocht wird. Sollen die Dorovjets sich doch fragen, wieso es auf der anderen Seite der Bucht eine neue Rauchsäule gibt. Bis sie hier eintreffen, um nachzusehen, sind wir längst wieder auf unserem Weg nach Süden.«
Luet wußte, daß viele diese zuversichtlichen Worte mit mehr Verzweiflung als Hoffnung vernahmen — aber ihre Sehnsucht nach der Stadt war eine Schwäche in ihnen und nichts, worauf sie stolz sein konnten, kein Verlangen, dem man nachgeben durfte. Vas’ Sabotage hatte ihnen vielleicht einen Rückschlag versetzt, aber wäre sie vollständig gelungen, hätte sie ihr Leben völlig bedeutungslos gemacht, jedenfalls im Vergleich zu dem, was sie bewerkstelligen würden, wenn Nafai Erfolg hatte.
Falls er Erfolg hatte!
Elemak wandte sich an Nafai. »Kannst du mit diesem Ding gut umgehen?« fragte er.
»Ich weiß es nicht«, sagte Nafai. »Ich habe es noch nicht versucht. Letzte Nacht war es zu dunkel. Ich weiß nur eins — ich kann damit nicht weit schießen. Ich habe noch nicht die richtigen Muskeln entwickelt, um einen Bogen zu spannen.« Er grinste. »Ich muß ein Tier finden, das sehr dumm ist, sehr langsam oder taub und blind und mich nicht wittert.«
Niemand lachte. Statt dessen standen alle da und sahen ihm nach, wie er ohne das geringste Zögern in genau die Richtung ging, die sein Vater ihm gewiesen hatte.
Von da an war es ein angespannter Morgen im Lager. Nicht die Anspannung von kaum im Zaum gehaltenen Streitigkeiten — die erlebten sie oft genug —, sondern die Anspannung des Wartens. Denn sie hatten nichts anderes zu tun, als sich um die Babies zu kümmern und sich zu fragen, ob Nafai gegen jede Wahrscheinlichkeit mit Pfeil und Bogen ein Tier erlegen konnte.
Die einzige Ausnahme von der allgemeinen verdrossenen Nervosität stellten Schedemei und Zdorab dar. Nicht, daß sie glücklich gewesen wären — sie waren ruhig wie immer und gingen ihrer Arbeit nach. Aber Luet stellte unwillkürlich fest, daß sie … nun ja, heute einander bewußter waren. Sie sahen sich ständig an, als könnten sie ein Geheimnis kaum für sich behalten.
Der Grund dafür dämmerte Luet erst spät am Morgen, als Schedemei die nackte Schveja hielt, während Luet das zweite Gewand und die Windel wusch, die ihre Tochter an diesem Morgen schon beschmutzt hatte. Schedemei konnte einfach nicht aufhören, mit Schveja zu kichern, während sie spielten, und während Luet sich Gedanken über Schedemeis ungewohnte gute Laune machte, wurde ihr klar: Schedemei muß schwanger sein. Endlich, nachdem alle schon vermutet hatten, sie sei steril, bekam Schedja ein Kind.
Und da sie nun einmal Luet war, zögerte sie nicht, die Frage offen zu stellen — schließlich waren sie ja allein, und keine Frau konnte vor der Wasserseherin ein Geheimnis bewahren, ob sie es nun wollte oder nicht.
»Nein«, sagte Schedemei verblüfft. »Ich meine … ich könnte schwanger sein, aber woher soll ich das so schnell wissen?«
Erst da kam es Luet zum erstenmal in den Sinn: Schedemei war bis jetzt nicht schwanger geworden, weil sie und Zdorab noch nie miteinander geschlafen hatten. Sie müssen aus Gründen der Bequemlichkeit geheiratet haben, um sich ein Zelt teilen zu können. Sie waren schon die ganze Zeit über Freunde gewesen. Und sie waren heute einander so bewußt, und Schedemei war heute so glücklich, weil sie in der letzten Nacht ihre Ehe zum erstenmal vollzogen haben mußten.
»Trotzdem herzlichen Glückwunsch«, sagte Luet.
Schedemei errötete, sah zu dem Baby hinab und kitzelte es ein wenig.
»Und vielleicht wird es ja bald der Fall sein. Einige Frauen empfangen schnell. Bei mir war es wohl so.«
»Sag es niemandem«, bat Schedemei sie.
»Huschidh wird wissen, daß sich etwas geändert hat.«
»Dann sag es ihr, aber sonst niemandem!«
»Das verspreche ich dir«, sagte Luet.
Aber etwas in Schedemeis Lächeln verriet ihr, daß sie vielleicht einen Teil des Geheimnisses in Erfahrung gebracht aber noch mehr gab, das bislang ungesagt geblieben-, sagte Luet sich. Ich bin nicht eine von denen, die alles wissen müssen. Was sich zwischen dir und Zdorab abspielt, geht mich nichts an, solange du es mir nicht sagen willst. Aber was auch geschehen sein mag, eins weiß ich: Es hat dich heute glücklicher gemacht. Hoffnungsvoller, als ich dich seit Beginn unserer Reise gesehen habe.
Oder vielleicht bin auch ich es, die hoffnungsvoller denn je zuvor ist, weil wir heute morgen eine so schreckliche Krise überstanden haben. Und vor allem, weil Elemak auf der Seite der Überseele war. Mochte Vas in seinem Herzen doch ein feiger Mörder sein! Mochten Obring und Sevet doch ihre Kinder zurücklassen! Wenn Elemak nun kein Feind der Überseele mehr war, würde wirklich alles gut werden.
Nafai kam noch vor Mittag nach Hause. Niemand sah ihn kommen, weil niemand so früh mit ihm gerechnet hatte. Plötzlich stand er am Rand der Zelte.
»Zdorab!« rief er.
Zdorab kam aus Volemaks Zelt, in dem er und Issib mit dem Index gearbeitet hatten. »Nafai«, sagte er. »Das heißt wohl, du bist zurück.«
Nafai hob mit der einen Hand den gehäuteten Kadaver eines Hasen und mit der anderen einen ebenso nackten und blutigen Kopf hoch. »Sie sind zwar nicht besonders groß, aber da Vater gesagt hat, wir könnten einen Eintopf machen, wenn ich früh genug zurückkomme, würde ich sagen, zünde ein Feuer an, Zodja! Heute abend kommt fettes, tierisches Protein in unsere Bäuche!«
Nicht alle waren überglücklich, daß die Expedition weitergehen würde — doch alle freuten sich über das gekochte Fleisch, den würzigen Eintopf und das Ende der Unsicherheit. Volemak war besonders heiter, als er an diesem Abend das Mahl eröffnete. Luet wunderte sich darüber. Wäre es nicht leichter für ihn gewesen, nun den Mantel der Autorität abzulegen und an einen seiner Söhne weiterzugeben? Aber nein. So schwer die Bürde der Autorität auch sein mochte, sie war viel leichter als die unerträgliche Last, sie zu verlieren.
Als sie sich zum Essen setzten, stellte sie fest, daß Nafai nach den Anstrengungen des Tages stank. Nicht unbedingt ein unvertrauter Geruch — niemand konnte hier den Hygienestandard Basilikas aufrechterhalten —, aber ein unangenehmer. »Du riechst«, flüsterte sie ihm zu, während die anderen Mebbekew lauschten, der ein obszönes altes Gedicht vortrug, das er in seinen Schauspielertagen gelernt hatte.