Sie sah, daß er diese letzte Bemerkung sofort bedauerte. Sie gestand zu viel ein. »Vielleicht ist ›überzeugen‹ auch der falsche Ausdruck. Wir müssen ihnen beibringen, daß wir alle diesem Gesetz gehorchen müssen, wollen wir verhindern, daß diese Kolonie bei einem gefühlsmäßigen und körperlichen Blutbad auseinanderbricht, genau, wie wir tagsüber während der Reise stets leise sein müssen.«
Elemak setzte sich auf und beugte sich zu ihr. In seinen Augen loderte — ja, was? Wut? Furcht? Schmerz? Steckt hinter dieser Sache noch etwas, wovon ich nichts weiß? fragte Rasa sich.
»Herrin Rasa«, sagte Elemak, »ist dieses Gesetz, das du erlassen willst, so wichtig, daß man dafür töten muß?«
»Töten? Gerade das Töten fürchte ich am meisten. Das müssen wir unbedingt vermeiden.«
»Wir sind in der Wüste, und wenn wir Vaters Lager erreichen, sind wir noch immer in der Wüste, und in der Wüste gibt es nur eine Strafe, ganz gleich, um welches Verbrechen es sich handelt. Den Tod.«
»Mach dich doch nicht lächerlich«, sagte Rasa.
»Es bleibt sich gleich, ob man jemandem den Kopf abschneidet oder ihn in der Wüste aussetzt — hier draußen ist ein Exil gleichbedeutend mit dem Tod.«
»Aber ich denke nicht im Traum daran, eine so schwere Strafe einzuführen.«
»Denk darüber nach, Herrin Rasa. Wo sollen wir jemanden einsperren, wenn wir jeden Tag unterwegs sind? Wer hat die Zeit, jemanden zu bewachen? Es gibt natürlich noch die Prügelstrafe, aber dann müßten wir uns um einen Verletzten kümmern und kämen nicht mehr sicher voran.«
»Wie wäre es damit, ein Privileg zu entziehen? Dem Täter etwas wegzunehmen? Wie eine Geldbuße. So, wie es in Basilika gehandhabt wurde.«
»Was sollten wir jemandem wegnehmen? Welche Privilegien sind uns geblieben? Wenn wir dem Gesetzesbrecher etwas wegnehmen, das er wirklich braucht — seine Schuhe? sein Kamel? —, verletzen wir ihn trotzdem, müssen langsamer reisen und setzen die gesamte Gruppe einem Risiko aus. Und wenn es etwas ist, das er nicht braucht, sondern nur schätzt, erfüllen wir ihn mit Groll und haben dann eine weitere Person, um die wir uns kümmern müssen, aber der wir nicht vertrauen können. Nein, Herrin Rasa, wenn die Scham nicht so stark ist, daß sie jemanden davon abhält, ein Verbrechen zu begehen, ist der Tod die einzige Strafe, die wirklich zählt. Der Gesetzesbrecher wird nie wieder das Gesetz brechen, und alle anderen wissen, daß man es wirklich ernst meint. Und jede andere Bestrafung hat genau die gegensätzliche Wirkung — der Gesetzesbrecher tut es einfach noch einmal, und niemand wird das Gesetz respektieren. Deshalb sage ich ja, bevor du entscheidest, daß wir während unserer Reise dieses Gesetz haben, solltest du vielleicht darüber nachdenken, ob es so wichtig ist, daß wir dafür töten.«
»Aber niemand wird glauben, daß du jemanden töten könntest, oder?«
»Meinst du?« sagte Elemak. »Ich kann dir aus eigener Erfahrung sagen, was am schwersten ist, wenn man auf einer Reise wie dieser jemanden bestraft: nämlich später seiner Witwe und seinen verwaisten Kindern sagen zu müssen, wieso man ihn nicht nach Hause gebracht hat.« »Oh, Elemak, ich hätte mir nie träumen lassen …« »Niemand läßt sich das je träumen. Aber die Männer der Wüste wissen es. Und wenn man jemanden ins Exil schickt, statt ihn sofort zu töten, läßt man ihm trotzdem keine Chance — kein Kamel, kein Pferd, nicht einmal Wasser. Man fesselt ihn sogar, damit er sich nicht mehr bewegen kann und die Tiere ihn schneller erwischen — denn wenn er noch lange lebt, könnten Banditen ihn finden, und dann wird er einen viel grausameren Tod sterben, und beim Sterben erzählt er den Banditen, wo die Karawane ist und aus wie vielen Leuten sie besteht und wie viele Männer Wache halten und wo die Wertsachen versteckt sind. Und er wird weitere Dinge verraten — den Kosenamen seiner Frau, die Spitznamen der Wachen, damit die Banditen wissen, was sie in der Dunkelheit sagen müssen, um die Wachen zu verwirren und sie zu einer Unvorsichtigkeit zu verleiten. Er wird ihnen verraten …«
»Hör auf!« rief Rasa. »Du machst das absichtlich.«
»Du glaubst, beim Leben in der Wüste ginge es um Hitze und Kälte, um Kamele und Zelte, darum, den Darm in den Sand zu entleeren und auf einem Teppich statt in einem Bett zu schlafen. Aber ich sage dir, was Vater und du und Nafai, gesegnet sei sein Herz, was ihr alle für uns bestimmt habt .,.«
»Was die Überseele bestimmt hat!«
»… ist das schwerste nur vorstellbare Leben, eine gefährliche und brutale Welt, in der der Tod einem ständig im Nacken sitzt und in der man töten muß, um die Ordnung aufrecht zu halten.«
»Ich lasse mir etwas anderes einfallen«, sagte Rasa. »Eine andere Möglichkeit, um das mit den Ehen zu regeln …«
»Aber dir wird nichts einfallen«, sagte Elemak. »Du wirst tagelang nachdenken und schließlich zu der einzigen Schlußfolgerung gelangen. Falls diese verrückte Kolonie überleben soll, muß sie in der Wüste und nach dem Gesetz der Wüste überleben. Das bedeutet, die Frauen sind ihren Männern treu oder werden sterben.«
»Und die Männer auch, wenn sie untreu sind«, sagte Rasa. Es konnte doch nicht sein Ernst sein, nur die Frauen zu bestrafen.
»Ah, ich verstehe. Wenn zwei Menschen dieses Ehegesetz brechen, sollen beide sterben. Das willst du also? Wer ist denn jetzt die Blutdürstige? Auf eine Frau können wir leichter verzichten als auf einen Mann. Wenn du nicht vorschlägst, ich solle Kokor und Sevet beibringen, wie man kämpft. Wenn du nicht glaubst, Dol und Schedemei könnten tatsächlich die Zelte auf die Rücken der Kamele heben.«
»Also trägt in deiner von Männern beherrschten Welt die Frau die Hauptlast der …«
»Wir sind nicht mehr in Basilika, Herrin Rasa. Frauen gedeihen, wo die Zivilisation stark ist. Hier nicht. Nein, wenn du darüber nachdenkst, wirst du einsehen, daß man dieses Gesetz besser durchsetzen kann, wenn man nur die Frau bestraft. Denn welcher Mann flüstert schon ›Ich liebe dich!‹, wenn doch beide wissen, daß er in Wirklichkeit meint: ›Ich möchte dich unbedingt rammeln, und mir ist es egal, ob du deshalb stirbst.‹ Welchen Erfolg werden seine Verführungskünste dann haben? Und wenn er versucht, sie mit Gewalt zu nehmen, wird sie schreien — denn sie weiß, daß ihr Leben auf dem Spiel steht. Und wenn man ihn erwischt, wie er sie vergewaltigt, weil sie schreit, nun, dann stirbt der Mann. Verstehst du? Diese Regelung nimmt dem Flirten ziemlich viel Romantik.«
Elemak hätte fast über den schwer betroffenen Ausdruck auf Rasas Gesicht gelacht, als er sich umdrehte und ihr Zelt verließ. O ja, sie hielt sich noch immer für eine Führerin, selbst hier draußen in der Wüste, wo sie weniger als nichts über das Überleben wußte, wo sie für jeden eine ständige Gefahr war mit ihrem Geplauder, mit ihrer vermeintlichen Klugheit, die sie immer so bereitwillig teilte, mit ihrem befehlsgewohnten Gehabe. In Basilika, wo die Frauen die Männer mit Bräuchen und Sitten so eingezäunt hatten, daß sie Entscheidungen treffen konnten und die Leute ihnen gehorchten, hatte sie die Illusion von Macht verbreiten können. Doch hier würde sie bald herausfinden — fand sie bereits heraus —, daß es ihr am wahren Willen zum Herrschen mangelte. Sie wollte herrschen, aber nicht die unangenehmen Dinge tun, die das Herrschen forderte.
In der Tat, eine Ehe auf Dauer. Welche Frau konnte einen Mann, ganz gleich, wie stark er war, länger als ein oder zwei Jahre befriedigen? Er hatte nie vorgesehen, daß Eiadh mehr als seine erste Frau war. In dieser Rolle wäre sie ein großer Erfolg gewesen — sie hätte ihn in seinem ersten Haushalt in Basilika geschmückt, ihm seinen Erstgeborenen geschenkt, und dann wären sie weitergezogen. Elemak hatte sogar beabsichtigt, seine Kinder von Rasa persönlich unterrichten zu lassen — sie war eine hervorragende Ausbilderin von Jugendlichen. Elemak wußte, wo ihre wahren Werte lagen. Und nun der Gedanke, daß Eiadh sich auch noch an ihn klammern würde, wenn sie fett und alt war. Ob er dann bereit war, sie noch zu ertragen …