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Prodi, Nadja und Umja interessierten sie im Augenblick nicht. »Wie kann Sevet nur eine halbe Schwester von dir sein?« fragte Schveja. »Weil du so viele Brüder hast, daß sie dir keine volle Schwester sein kann?«

»Ach, das ist ein Alptraum«, sagte Mutter. »Muß das unbedingt heute morgen sein?«

Doch Vater erklärte ihr bereitwillig, daß Volemak in Basilika mit zwei anderen Frauen verheiratet gewesen war, die Elemak und Mebbekew geboren hatten, bevor er Rasa geheiratet hatte, die ihm Issib geschenkt hatte; und dann hatte Herrin Rasa die Ehe nicht ›verlängert‹, sondern statt dessen einen Mann namens Gaballufix geheiratet, der ebenfalls Elemaks Halbbruder war, weil seine Mutter eine der früheren Frauen Volemaks gewesen war. Und von Gaballufix hatte Herrin Rasa dann Sevet und Kokor bekommen, und dann hatte sie den Vertrag mit ihm nicht mehr verlängert, war zu Volemak zurückgekehrt und hatte ihn auf Dauer geheiratet. Und dann hatten die beiden Nafai und — viel später — Okja und Yaja bekommen.

»Hast du das verstanden?«

Schveja konnte nur verblüfft nicken. Ihre gesamte Welt war von oben nach unten gekehrt worden. Nicht nur aufgrund der Verwirrung, wer nun wirklich mit wem verwandt war, sondern von der Vorstellung, daß dieselben Leute nicht ihr ganzes Leben lang verheiratet bleiben mußten — daß die Mutter und der Vater eines ihrer Spielgefährten vielleicht mit ganz anderen Leuten verheiratet gewesen waren und Kinder hatten, die nur mit einem Elternteil verwandt waren und den anderen vielleicht als völlig Fremden ansahen! Es war entsetzlich, und in dieser Nacht hatte sie einen schrecklichen Traum, in dem riesige Ratten in ihr Haus kamen und Vater im Schlaf davontrugen, und als Mutter aufwachte, bemerkte sie nicht einmal, daß er verschwunden war, sondern brachte einfach den kleinen Pro]a herein und sagte: »Das ist dein neuer Vater, bis die Ratten auch ihn holen.«

Sie wachte schluchzend auf.

»Was hast du geträumt?« fragte Mutter, als sie sie tröstete. »Erzähl mir, Veja, warum weinst du?«

Also erzählte sie es ihr.

Mutter trug sie in das Zimmer, in dem sie und Vater schliefen, und weckte Vater. Sie bat Schveja, auch ihm den Traum zu erzählen. Er schien sich gar nicht für den schrecklichsten Vorfall zu interessieren — daß nämlich Proja in ihr Haus gekommen war und seinen Platz eingenommen hatte —, sondern wollte lediglich alles über die riesigen Ratten wissen. Er bat sie immer wieder, sie zu beschreiben, obwohl sie nur noch wußte, daß es eben Ratten gewesen waren, und zwar sehr große, die ständig in sich hineingelacht hätten, wie klug sie doch wären, während sie Vater davontrugen.

»Trotzdem«, sagte Vater. »Das erste Mal in der neuen Generation. Und nicht von der Überseele, sondern vom Hüter.«

»Es hat vielleicht gar nichts zu bedeuten«, sagte Mutter. »Wahrscheinlich hat sie von einem der anderen Träume gehört.«

Doch als sie sie fragten, ob sie vor diesem Traum Geschichten von riesigen Ratten gehört hätte, begriff Schveja gar nicht, wovon sie sprachen. Die einzigen Ratten, von denen sie gehört hatte, waren die, die ständig versuchten, Nahrung aus den Scheunen zu stehlen. Träumten auch andere Menschen von riesigen Ratten? Die Erwachsenen waren so seltsam — sie dachten sich nichts dabei, daß Familien auseinandergerissen wurden und Kinder Halbbrüder und Halbschwestern und ähnliche Monstrositäten hatten, aber ein Traum von einer riesigen Ratte, tja, den hielten sie für wichtig. Vater sagte sogar: »Wenn du je wieder von riesigen Ratten träumst — oder von anderen seltsamen Tieren —, mußt du es uns sofort sagen. Es könnte sehr wichtig sein.«

Erst, als Luet sie im Bett wieder zudeckte, konnte Schveja die Frage stellen, die an ihr nagte: »Mutter, wer wird unser neuer Vater sein, wenn du mit Vater nicht mehr verlängerst?«

Augenblicklich legte sich ein verständnisvoller und mitfühlender Ausdruck auf Mutters Gesicht. »Ach, Veja, meine liebe kleine Näherin, darüber machst du dir Sorgen? Als wir Basilika verlassen haben, haben wir auch diese Gesetze hinter uns gelassen. Hier währen die Ehen ewig. Bis zu unserem Tod. Also wird in unserer Familie Vater immer der Vater sein, und ich werde immer die Mutter sein, und damit hat es sich! Du kannst dich darauf verlassen.«

Nun war Schveja beruhigt und schlief wieder ein. Und während sie einschlief, kam ihr Verschiedenes in den Sinn: Wie schrecklich muß es doch gewesen sein, in Basilika zu leben und nie zu wissen, mit wem die Eltern im nächsten oder übernächsten Jahr verheiratet waren — da könnte man gleich in einem Haus leben, in dem der Fußboden morgen die Decke ist. Und dann: Ich bin die erste der neuen Generation, die von riesigen Ratten geträumt hat, und irgendwie ist das wunderbar, und deshalb muß ich sehr stolz auf mich sein, und hätte ich es gewußt, hätte ich schon eher von riesigen Ratten geträumt. Und dann: Rokja ist der Junge, der mit niemandem verwandt ist, und deshalb ist es am besten, wenn ich ihn heirate. Und deshalb werde ich ihn auch heiraten, und dann wird Dazja schon sehen, wer die beste ist!

Nafai und Luet bekamen in dieser Nacht nur wenig Schlaf. Beide beschäftigten sich mit unterschiedlichen Aspekten von Schvejas Traum. Für Luet war wichtig, daß eins der Kinder endlich eine der Fähigkeiten zeigte, auf die die Überseele hingearbeitet hatte. Sie wußte, es war eitel von ihr, doch sie hielt es für angemessen, daß die Erstgeborene der Wasserseherin die erste war, die einen bedeutungsvollen Traum hatte. Sie konnte es kaum abwarten, ihre Tochter zum erstenmal in das Wasser des Flusses mitzunehmen und festzustellen, ob Schveja lernen konnte, absichtlich in jenen Schlaf zu fallen, der wahre Träume brachte, wie Luet es sich beigebracht hatte.

Für Nafai hingegen war wichtig, daß nach so langer Stille jemand tatsächlich eine Nachricht erhalten hatte. Und daß diese Nachricht, so verschwommen und von kindlicher Verwirrung beeinflußt sie auch sein mochte, vom Hüter der Erde stammte, wodurch sie irgendwie noch wichtiger war, als wäre sie von der Überseele gekommen.

Schließlich führten sie mit der Überseele ständig Gespräche — durch den Index natürlich. Der Index ermöglichte ihnen jedoch nur Zugang zu den Speichern der Überseele. Er ermöglichte ihnen nicht, die Pläne der Überseele zu sondieren, herauszufinden, was genau die Überseele in diesem oder im nächsten Jahr von ihnen erwartete. Sie hatten darauf gewartet, wie sie stets darauf gewartet hatten, daß die Überseele die Dinge in Bewegung setzte, indem sie ihnen Träume oder eine Stimme in ihren Verstand schickte. Doch all die Jahre, die sie schon in Dostatok lebten, hatte die Überseele ihnen keinen Traum, keine Stimme geschickt, und die einzige Nachricht, die der Index — über die Erforschung seiner Speicher hinaus — für sie hatte, lautete: Bleibt und wartet!

Doch der Hüter der Erde war an kein Vorhaben, keinen Zeitplan der Überseele gebunden; er schickte seine Träume über die Lichtjahre hinweg von der Erde. Sie ahnten nicht einmal, welchen Zweck der Hüter damit befolgte — die Träume, die er schickte, schienen mit den Sorgen zu tun haben, die den Träumenden beschäftigten, genau, wie es bei Schvejas Traum von den Ratten der Fall gewesen war. Doch manche Themen kehrten immer wieder — hatte nicht auch Huschidh geträumt, daß die Ratten Feinde waren und ihre Familie angriffen? Dies schien darauf hinzudeuten, daß diese großen Ratten auf der Erde irgendwie zum Problem für sie werden würden — wenngleich es auch Träume gab, in denen die Ratten und Engel der Erde sich mit den Menschen als Freunde und Gleichberechtigte zusammentaten. Es war so schwer, alledem einen Sinn zu entnehmen — doch eins stand fest: Die Träume vom Hüter der Erde kamen noch immer, und daher würde vielleicht bald etwas passieren; vielleicht würde bald die nächste Etappe ihrer Reise beginnen.