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Ein typischer Augenblick: Motja schwang achtlos seine geladene Schleuder und traf Xodhja am Arm. Dessen Augen füllten sich augenblicklich mit Tränen, und Proja verhöhnte ihn: »Du wirst nie ein Mann sein, Xodhja! Du kommst dem immer nur nahe!« Das war natürlich ein Wortspiel mit seinem Namen, und dazu ein ziemlich cleveres — aber auch ein grausames, das Xodhjas Elend nur noch vergrößerte. Und dann, ohne daß einer der Jungs es richtig mitbekam, wandte sich Xodhja in seinem Elend an Schjat, der impulsiv den Arm um Xodhjas Schulter legte und seinen kleinen Bruder anbellte: »Paß gefälligst besser mit deiner Schleuder auf, Affenhirn!«

Eine ganz einfache, instinktive Sache, doch Luet und Nafai lächelten einander zu. Schatva bot Xodhja nicht nur ohne die Spur einer Herablassung körperlichen Trost, sondern lenkte die Aufmerksamkeit auch noch von Xodhjas Schmerz und Tränen ab auf den wahren Schuldigen. Dies alles machte er ungezwungen und anmutig, ohne Projas Autorität auch nur im geringsten herauszufordern.

»Wann wird Schjat begreifen, daß er derjenige ist, an den die anderen Jungen sich wenden, wenn sie Schwierigkeiten haben?« fragte Nafai.

»Vielleicht füllt er diese Rolle so gut aus, weil er nicht weiß, daß er sie übernommen hat.«

»Ich beneide ihn«, sagte Nafai. »Wäre mir das doch nur möglich gewesen.«

»Ach? Und wieso sollte es dir nicht möglich sein?«

»Du kennst mich, Luet. Ich hätte Protschnu angeschrien, es sei nicht gerecht von ihm, Xodhja aufzuziehen, weil es Motjas Schuld war, und wenn Motja ihn getroffen hätte, würde auch er weinen.«

»Das stimmt natürlich.«

»Natürlich. Aber ich hätte mir Protschnu zum Feind gemacht«, sagte Nafai. Und welche Konsequenzen das gehabt hätte, mußte er wohl kaum erklären. Hatte Luet es nicht oft genug erlebt?

»Für mich ist nur wichtig, daß unser Schatva die Zuneigung der anderen Jungen hat und sie auch verdient«, sagte Luet.

»Könnte Motja doch nur von ihm lernen.«

»Motja ist noch ein Baby«, sagte Luet, »und wir wissen nicht, was aus ihm wird — nur, daß er auch später sehr laut und auffällig und zappelig sein wird. Ich wünschte nur, Schveja könnte etwas von Schatva lernen.«

»Nun ja, jedes Kind ist anders«, sagte Nafai. Er wandte sich ab und führte Luet von dem Steinschleuder-Wettbewerb fort und zu Vaters und Mutters Haus. Doch er verstand Luets Wunsch gut: Schvejas Einsamkeit und Absonderung von den anderen bereitete ihnen beiden große Sorgen — sie war die einzige wirkliche Außenseiterin unter allen älteren Kindern und verstand nicht warum, weil sie eigentlich gar nichts getan hatte, um die anderen gegen sich aufzubringen. Sie hatte einfach keinen Platz in der kindlichen Hierarchie. Oder sie hatte vielleicht einen, weigerte sich aber, ihn einzunehmen. Welche Ironie, dachte Nafai — wir machen uns Sorgen, weil Schatva die unterwürfige Rolle zu gut spielt, aber auch, weil Schveja sich weigert, eine solche zu akzeptieren. Vielleicht wollen wir in Wirklichkeit, daß unsere Kinder die dominante Rolle einnehmen! Vielleicht versuche ich, meinen Ehrgeiz durch sie zu erfüllen, und das wäre falsch. Also sollte ich mich mit dem zufriedengeben, was sie sind.

Luet mußte ähnlich gedacht haben, denn sie sagte plötzlich: »Beide werden ihre Wege durch das Dickicht der menschlichen Gesellschaft finden. Wir können sie nur beobachten und trösten und ihnen dann und wann einen Hinweis geben.«

Oder die herrische Königin Dza packen und schütteln, bis ihre Arroganz herausfällt. Aber nein, das würde nur zu einem Streit zwischen den Familien führen, und die letzte Familie, mit der ich mich je streiten möchte, wäre die von Schuja und Issib.

Volemak und Rasa lauschten ihrer Geschichte über Schvejas Traum mit Interesse. »Ich habe mich gelegentlich gefragt, wann die Überseele wieder handeln würde«, sagte Vater, »aber ich gestehe ein, daß ich sie nicht gefragt habe, weil es hier so schön ist und ich nichts tun wollte, um unseren Aufbruch zu beschleunigen.«

»Nicht, daß wir etwas tun könnten, um unseren Aufbruch zu beschleunigen«, sagte Mutter. »Schließlich hat die Überseele einen festen Zeitplan, und der hat nur wenig mit uns zu tun. Ihr war es völlig gleichgültig, ob wir diese Jahre in diesem ersten elenden Lager in der Wüste verbringen oder an diesem viel besseren Ort zwischen dem Nördlichen und dem Südlichen-Fluß. Oder hier, vielleicht dem schönsten Landstrich auf ganz Harmonie. Sie wollte nur, daß wir zusammenkommen und bereit sind, wenn sie uns braucht. Vielleicht beabsichtigt sie sogar, die Kinder auf die Reise zur Erde zu schicken und nicht uns. Und das wäre mir durchaus recht, wenngleich es mir noch lieber wäre, wenn sie die Urgroßkinder nähme, lange, nachdem wir alle tot sind, damit wir ihren Aufbruch, der uns das Herz brechen würde, nicht mehr miterleben.«

»So fühlen wir alle manchmal«, sagte Luet.

Nafai hielt seine Zunge im Zaum.

Es spielte keine Rolle. Vater durchschaute ihn trotzdem. »Alle außer Nafai. Er ersehnt eine Veränderung. Du bist ein Krüppel, Njef. Du kannst Glück nicht sehr lange ertragen — dich bringen Konflikte und Unsicherheiten zum Leben.«

»Ich mag keine Konflikte, Vater«, protestierte Nafai.

»Dir gefallen sie vielleicht nicht, aber du blühst durch sie auf«, sagte Volemak. »Das ist keine Beleidigung, Sohn, nur eine Tatsache.«

»Die Frage lautet«, sagte Rasa, »sollen wir wegen Schvejas Traum etwas unternehmen?«

»Nein«, sagte Luet schnell. »Gar nichts. Wir wollten euch nur informieren.«

»Dennoch«, sagte Vater. »Was ist, wenn auch andere Kinder Träume vom Hüter bekommen, aber niemandem davon erzählt haben? Vielleicht sollten wir alle Eltern mahnen, auf die Träume ihrer Kinder zu achten.«

»Lasse so etwas verlauten«, sagte Rasa, »und Kokor und Dol werden ihren Kindern einreden, was für Träume sie haben müssen, und böse auf sie werden, wenn sie keine schönen Träume mit Riesenratten haben.«

Alle lachten, doch sie wußten, daß es tatsächlich so kommen würde.

»Also unternehmen wir im Augenblick gar nichts«, sagte Vater. »Wir warten einfach ab. Die Überseele wird handeln, wenn es für sie an der Zeit ist, und bis dahin versuchen wir, perfekte Kinder großzuziehen, die sich niemals streiten.«

»Ach, ist das der Maßstab des Erfolgs?« fragte Luet hänselnd. »Diejenigen Kinder, die sich nie streiten, sind die guten?«

Rasa lachte trocken. »Wenn das der Fall ist, sind die einzigen guten Kinder diejenigen, die gar kein Rückgrat haben.«

»Also keine Nachkommen von dir, mein Schatz«, sagte Vater.

Der Besuch war beendet; sie kehrten nach Hause zurück und machten mit der Tagesarbeit weiter. Doch Nafai gab sich nicht damit zufrieden, einfach abzuwarten. Es bekümmerte ihn, daß sie in letzter Zeit so wenig Visionen gehabt hatten und daß nun Schveja die einzige war, die etwas vom Hüter empfing, ihr einsamstes Kind, das noch zu jung war, um ihrem Traum wirklich einen Sinn zu entnehmen.

Warum wartete die Überseele so lange? Vor neun Jahren hatte sie es ziemlich eilig gehabt, sie aus Basilika zu schaffen. Sie hatten alles aufgegeben, was sie jemals vom Leben erwartet hatten, und waren in die Wüste gezogen. Ja, am Ende hatte alles einen guten Ausgang genommen, aber das war noch nicht das Ende, oder? Es lagen noch über hundert Lichtjahre vor ihnen. Der Teil ihrer Reise, den sie bislang abgeschlossen hatten, war nichts im Vergleich dazu, und es gab nicht das geringste Anzeichen dafür, daß sie diese Reise wieder aufnehmen würden.