Er ging nun in nördliche Richtung weiter, richtete seine Aufmerksamkeit jedoch weiterhin ausschließlich auf die Weibchen. Und gegen Mittag befand er sich an seinem Ziel — zwischen den Pavianen und ihrem Schlaffelsen. Der Hase war endlich verstummt — aber die Paviane würden sich nicht davon stören lassen, daß er bereits tot war, da er bei seiner Ankunft noch gelebt hatte und sie außerdem gar nicht so wählerisch waren, solange das Fleisch noch warm war. Also warf Nafai den Hasen zu ihnen hinüber, wobei er mitten in die Gruppe der Weibchen zielte.
Ein Höllenlärm brach los, doch alles verlief so, wie Nafai es geplant hatte. Einige der jüngeren Männchen stürzten sich auf den Hasen, doch die älteren blieben in Nafais Nähe, ,da er — zumindest im Augenblick — eine Bedrohung zu sein schien. Dann war der Hase wieder im Besitz der Weibchen, die die jüngeren Männchen problemlos verjagt hatten. Der Hase war gar nicht tot gewesen — er kreischte noch einmal, als die dominanten Weibchen ihn zerrissen und das Fleisch verschlangen. Die Tatsache, daß Paviane sich nicht die Mühe machten, ihre Beute zu töten, bevor sie sie fraßen, hatte Nafai gestört, als er in der Wüste zum erstenmal in ihrer Nähe gelebt hatte, doch mittlerweile hatte er sich daran gewöhnt, und nun freute er sich, daß sein Plan aufgegangen war und die Weibchen das Fleisch bekommen hatten.
Als die Männchen begriffen, wurden sie immer aufgeregter, und schließlich zog Nafai sich allmählich zurück, hin zu den Schlaffelsen. Als er endlich weit genug entfernt war, stürmten die Männchen zu den Weibchen, trieben diese auseinander und schlugen in ihrem Kampf um Fleischfetzen aufeinander ein. Einige von ihnen rissen tatsächlich große Stücke aus dem Tier, doch Nafai wußte, daß die Weibchen mehr als ihren üblichen Anteil bekommen hatten. Das freute ihn.
Doch nun wäre es am besten, wenn er sich so weit wie möglich von den Pavianen entfernte. Sehr weit, das Tal hinauf. Es würde wohl kaum etwas schaden, wenn er hier erneut auf die Jagd ging, um ihnen noch mehr Fleisch zu bringen.
Doch als er sich allmählich immer weiter von den Pavianen entfernte, merkte er, daß er sein Zögern immer leichter unterdrücken konnte. Wagemutig dachte er daran, wieso er in Wirklichkeit hierher gekommen war. Sofort kehrte sein Widerstreben zurück — es steigerte sich in ihm fast zu einer Panik —, doch er behielt die Kontrolle über sich. Wie er gehofft hatte, war die Barriere an ihrem Rand am stärksten. Dieses Ausmaß einer geistigen Beeinflussung konnte er überwinden — so war es auch in Basilika gewesen, als er und Issib zum erstenmal versucht hatten, sich an den Barrieren der Überseele vorbeizudrängen und an verbotene Dinge zu denken.
Vielleicht fällt es mir auch leichter, weil die Barriere mich bereits zur Grenze zurückgedrängt hat? Vielleicht bin ich besiegt worden, ohne es überhaupt zu merken?
»Bin ich draußen oder drinnen?« flüsterte er der Überseele zu.
Keine Antwort.
Nafai verspürte einen Anflug von Furcht. Die Überseele konnte dieses Gebiet nicht einsehen — was, wenn er, als er die Grenze überschritten hatte, einfach aus ihrem Sichtbereich verschwunden war?
Dann kam ihm in den Sinn, daß der Widerstand wahrscheinlich genau deshalb schwächer geworden war. Vielleicht hatte diese Barriere, ohne daß die Überseele es wußte, an der Grenze ihre Kraft mit der der Überseele vereinigt. Doch nun, nachdem er die Grenze überschritten hatte, die selbst die Überseele nicht durchdringen konnte, stand der Barriere nur noch ihre eigene Abstoßkraft zur Verfügung, und deshalb konnte man sie besiegen.
Dies kam Nafai völlig logisch vor, und deshalb ging er in östliche Richtung weiter, zum Mittelpunkt Vusadkas.
Oder war er in nördliche Richtung gegangen? Denn als er einen Hügel überquerte, sah er plötzlich eine völlig tote Landschaft vor sich. Keine fünfzig Meter entfernt schien jemand eine unsichtbare Mauer errichtet zu haben. Auf der einen Seite war das Grün des Landes Dostatok, und auf der anderen reine Wüste — die trockenste, lebloseste Wüste, die Nafai je gesehen hatte. Kein Vogel, keine Echse, kein Grashalm — nichts Lebendiges befand sich hinter dieser Linie.
Sie war zu künstlich. Es mußte sich um eine weitere Barriere handeln, eine weitere Grenze, eine, die alle Lebewesen ausschloß. Vielleicht war es eine Barriere, die alles tötete, was sie überqueren wollte. Wie wollte Nafai diese Grenze überwinden?
»Gibt es irgendwo ein Tor?« fragte er die Überseele.
Sie antwortete nicht.
Vorsichtig ging er auf die Barriere zu. Als er ihr nah genug war, streckte er eine Hand nach ihr aus.
Unsichtbar mochte sie sein, doch sie war fühlbar — er konnte die Hand dagegen drücken und spürte, wie sie sich unter seiner Hand verschob, als wäre sie leicht schleimig und ständig in Bewegung. Irgendwie beruhigte es ihn jedoch, daß er sie berühren konnte — wenn sie Lebewesen fernhielt, indem sie ihnen den Weg versperrte, verfügte sie vielleicht nicht über Mechanismen, mit denen sie sie töten konnte.
Kann ich sie durchqueren? Warum die zusätzliche geistige Barriere in einiger Entfernung, wenn Menschen diese hier nicht durchqueren können? Es konnte sich bei ihr natürlich einfach um eine Vorrichtung handeln, die verhindern sollte, daß Menschen diese klare Grenze sahen und eine berühmte Legende daraus machten, die unpassende Aufmerksamkeit auf diesen Ort gelenkt hätte. Doch war es nicht genausogut möglich, daß die Aversions-Barriere die Menschen fernhalten sollte, weil ein entschlossener Mensch diese körperliche Barriere durchbrechen konnte? Eine Barriere ein Stück entfernt für Menschen; und hier eine weitere für Tiere. Das war doch logisch.
Natürlich bestand keine Garantie, daß es sich auch tatsächlich so verhielt. Einen Augenblick lang spielte er sogar mit dem Gedanken, nach Dostatok zurückzukehren und ihnen zu berichten, was er herausgefunden hatte, damit sie den Index erkunden und feststellen konnten, ob es eine kluge Möglichkeit gab, die Barriere zu durchbrechen.
Doch Nafai befürchtete, schon der Gedanke, nach Dostatok zurückzukehren, könne ein Zeichen dafür sein, daß die Barriere in seinem Verstand an der Arbeit war und versuchte, ihn nach Entschuldigungen suchen zu lassen, sich zu entfernen. Und vielleicht hatte die Barriere eine gewisse Intelligenz und war lernfähig, und in diesem Fall würde sie sich vielleicht nie wieder von seinem Trick täuschen lassen, sich auf das dringende Bedürfnis zu konzentrieren, die Paviane zu füttern und damit seinen wirklichen Grund, die Barriere zu durchdringen, zu verschleiern. Nein, er stand allein, und es oblag ihm, eine Entscheidung zu treffen.
Sie wird dich töten.
Was war das? Sprach die Überseele in seinem Verstand? Oder die Barriere? Oder nur seine Furcht? Woher der Gedanke auch kam, Nafai wußte, daß er nicht irrational war. Hinter dieser Barriere lebte rein gar nichts — und dafür mußte es einen Grund geben. Wie konnte er sich einbilden, daß er die Ausnahme sein würde, das einzige Lebewesen, das die Barriere durchdringen konnte? Als sie ursprünglich errichtet worden war, mußte es auf beiden Seiten Pflanzen gegeben haben, und selbst wenn sie undurchdringlich war, hätte das Leben sich auf beiden Seiten fortsetzen müssen. Vielleicht hätten vierzig Millionen Jahre der Evolution auf beiden Seiten eine ziemlich unterschiedliche Flora und Fauna hervorgebracht, doch das Leben hätte gedeihen müssen, oder nicht? Bloße Isolation kann Leben nicht mit solch brutaler Gründlichkeit töten.
Sie wird dich töten.
Vielleicht wird sie das, dachte Nafai trotzig. Vielleicht werde ich sterben. Aber die Überseele hat uns aus einem ganz bestimmten Grund hierher geführt — um uns zur Erde zu bringen. Obwohl die Überseele nicht direkt an Vusadka denken oder zumindest nicht mit Menschen darüber sprechen konnte, mußte Vusadka der Grund sein, weshalb die Überseele sie hierher geführt hatte, in die unmittelbare Nähe dieses Gebiets. Also müssen wir so oder so an dieser Barriere vorbeikommen.