»Was muß ich tun?« fragte Nafai.
›Weißt du es nicht? Erinnerst du dich nicht an die Vision, die Luet dir erzählt hat?‹
Erst jetzt, als die Überseele Nafai daran erinnerte, fiel ihm wieder ein, was Luet gesagt hatte. Sie hatte gesehen, wie er in einem Eisblock versunken und unten wieder zum Vorschein gekommen war; er hatte vor Licht geglüht und gefunkelt. Er hatte nach einer metaphorischen Bedeutung gesucht. Aber hier war der Eisblock!
»Ich sinke von oben nach unten«, sagte Nafai. »Wie komme ich hinauf?«
Wie auf ein Stichwort glitt eine etwa ein Meter breite Platte über den Boden zu ihm. Nafai begriff, daß er sich daraufstellen sollte. Doch als er dies tat, passierte nichts.
›Deine Kleidung stört.‹
Also zog er sich zum zweitenmal an diesem Tag aus. Das brachte ihm schmerzhaft die Kratzer und Prellungen ins Bewußtsein, die er sich zugezogen hatte, als der Wind ihn beutelte. Nackt trat er erneut auf die Scheibe. Diesmal erhob sie sich in die Luft und trug ihn über den Block.
›Tritt auf das Wasser! Es wird dich tragen, als wäre es ein Boden.‹
Nachdem Nafai gerade den Finger in die Seite des Blocks gesteckt hatte, hatte er seine Zweifel, aber er tat wie geheißen und trat auf die Oberfläche des Blocks. Sie war glatt, aber nicht schlüpfrig; wie die Oberfläche der Barriere schien sie sich unter seinen Füßen in alle Richtungen gleichzeitig zubewegen.
›Leg dich auf den Rücken!‹
Nafai legte sich hin. Sofort veränderte die Oberfläche sich unter ihm, und er sank in das Wasser ein. Ihm wurde klar, daß es bald sein Gesicht bedecken würde. Die Erinnerung an das Ersticken war noch zu frisch — er begann sich zu wehren.
›Friede. Schlafe! Dir wird es weder an Luft noch an sonst etwas mangeln. Schlafe! Friede.‹
Und er schlief ein, während er weiter in das Wasser sank.
Elemak war überrascht, Schedemei an der Tür vorzufinden. Natürlich war alles möglich — vielleicht war sie ja tatsächlich gekommen, um sich auf seine Seite zu schlagen. Aber er bezweifelte es — wahrscheinlich war sie im Auftrag Rasas hier, um irgendeine Vereinbarung auszuhandeln. In diesem Fall war sie als Gesandte keine schlechte Wahl. Er hatte nichts gegen sie, und sie hatte keine komplizierten Familienbindungen. Außerdem … waren sie und Zdorab am Ende der Versammlung nicht auch aufgestanden und hatten damit Elemaks Autorität bestätigt? Er würde sich anhören, was sie zu sagen hatte.
Also bat er sie herein und ließ sie am Tisch Platz nehmen, an dem schon Meb, Obring und Vas saßen. Dann nahm er ihr gegenüber Platz und wartete. Sollte sie doch zuerst sprechen und ihn damit wissen lassen, was er von ihr zu erwarten hatte.
»Alle haben mir geraten, nicht zu dir zu gehen«, sagte sie. »Aber ich glaube, sie unterschätzen dich, Elemak.«
»Das haben sie schon zuvor getan«, sagte Elemak.
Meb kicherte. Das verärgerte Elemak — er wußte nicht genau, ob Meb über sie lachte, weil sie Elemak unterschätzt hatten, oder über ihn, weil er diese Behauptung machte. Bei Meb war man nie sicher, wen er verspottete. Nur, daß er irgend jemanden verspottete.
»Es gibt einige wichtige Dinge, die du nicht zu verstehen scheinst«, fuhr Schedemei fort. »Und ich glaube, man muß alles wissen, um kluge Entscheidungen treffen zu können.«
Aha. Also war sie hier, um ihm die ›Wirklichkeit« zu erklären. Nun, er konnte sie ja anhören, wenn auch nur, um besser planen zu können, wie er sie bei der nächsten Versammlung ausschalten würde. Er bat sie mit einem Nicken fortzufahren.
»Das ist keine Verschwörung, die dir die Autorität nehmen soll.«
Richtig, dachte Elemak. Du beginnst, indem du es abstreitest, und damit hast du mir so gut wie bestätigt, daß es genau darum geht.
»Die meisten von uns wissen, daß du der natürliche Führer dieser Gruppe bist, und mit einigen Ausnahmen sind wir damit zufrieden.«
Ah, ja! In der Tat, ›einige‹ Ausnahmen.
»Und diese Ausnahmen treten stärker unter deiner Gefolgschaft auf, als du es dir vorstellst. Hier an diesem Tisch gibt es mehr Haß und Eifersucht auf dich, als du je unter jenen gefunden hast, die sich im Indexhaus versammeln.«
»Genug davon«, sagte Elemak. »Wenn du nur hier bist, um Mißtrauen unter denen zu säen, die versuchen, unsere Familien vor denen zu schützen, die sich in unser Leben einmischen wollen, kannst du jetzt gehen.«
Schedemei zuckte die Achseln. »Ich habe es gesagt, du hast es gehört, und mir ist es gleichgültig, was du mit der Information anfängst. Aber eins ist Tatsache: Du kämpfst im Augenblick gegen die Überseele.«
Meb jaulte einmal auf. Schedemei ignorierte ihn.
»Die Überseele hat endlich Zugang zu den Sternenschiffen bekommen. Eine gewaltige Anstrengung von uns allen ist nötig, fünf der Schiffe auszuschlachten, um eins flugbereit zu machen. Aber es muß getan werden, ob du es nun billigst oder nicht. Die Überseele wird sich kaum von dir blockieren lassen, nachdem sie so weit gekommen ist.«
Elemak hörte amüsiert, daß Schedemei von dem leblosen Computer beharrlich sprach, als sei er eine Frau.
»Wenn Nafai zurückkehrt, wird er den Mantel des Herrn der Sterne tragen. Dieses Gerät verbindet ihn fast perfekt mit den Speichern der Überseele. Er wird weit mehr über dich wissen, als du selbst über dich weißt. Hast du mich verstanden? Und der Mantel verfügt auch noch über andere Kräfte — zum Beispiel über eine Energiekonzentration, neben der ein Pulsator wie ein Spielzeug aussieht.«
»Ist das eine Drohung?« fragte Elemak.
»Ich sage dir schlicht und einfach die Wahrheit. Die Überseele hat Nafai ausgewählt, weil er die nötige Intelligenz hat, das Schiff zu steuern, die Treue, der Sache der Überseele gut zu dienen, und die Willenskraft, die eine vermeintlich unüberwindbare Barriere niedergerissen und somit ermöglicht hat, die Expedition fortzusetzen. Und nicht, weil sie sich gegen dich verschworen hat. Hättest du der Sache der Überseele je auch nur einen Fetzen Loyalität erwiesen, hätte sie vielleicht dich ausgewählt.«
»Glaubst du, mit diesen pathetischen Schmeicheleien etwas erreichen zu können?«
»Ich schmeichle dir nicht«, sagte Schedemei. »Ich habe es bereits gesagt — wir wissen, daß du der geborene Führer dieser Gruppe bist. Aber du hast dich entschieden, nicht der Führer der Expedition der Überseele zu sein. Das war deine eigene, freie Entscheidung. Wenn es nun darauf hinausläuft, wenn du nun feststellst, daß du die Führung dieser Gruppe für immer verloren hast, kannst du niemandem außer dir selbst die Schuld dafür geben.«
Er spürte, wie der Zorn in ihm wuchs.
»Du wärst auch nicht die zweite Wahl gewesen«, sagte Schedemei. »Es bestand ein gewisser Zweifel, daß Nafai den Mantel akzeptieren würde — weil er genau wußte, daß du seine Führung zurückweisen wirst. Zu diesem Zeitpunkt hat die Überseele ihre zweite Wahl getroffen. Sie hat mich gefragt, ob ich die Last der Verantwortung akzeptiere. Sie hat mir sogar genauer erklärte als Nafai, was der Mantel bewirkt und wie er funktioniert. Mittlerweile weiß er das alles natürlich. Ich habe das Angebot akzeptiert. Wäre es nicht Nafai gewesen, wäre ich es gewesen. Nicht du, Elemak. Du hast dieses große Angebot nicht knapp verpaßt. Du bist niemals in Betracht gezogen worden, weil du die Überseele von Anfang an abgelehnt hast.«
»Vielleicht solltest du jetzt lieber gehen«, sagte Elemak leise.