»Um der Kinder willen«, sagte Eiadh erneut. »Lasse es nicht so weit kommen, daß sie sehen, wie ihr Vater vor allen anderen erniedrigt wird. Oder ihm Schlimmeres widerfährt.«
»Ich sehe, wie sehr du mich liebst«, sagte Elemak. »Anscheinend hast du auf die andere Seite gesetzt.«
»Beschäme sie nicht, indem zu ihnen zeigst, daß du in deinem Herzen ein Mörder bist.«
»Glaubst du, ich wüßte nicht, worum es geht?« sagte Elemak. »Du hast schon in Basilika ein Auge auf Nafai geworfen. Ich dachte, du wärst darüber hinweg, aber ich habe mich geirrt.«
»Narr«, sagte Eiadh. »Ich habe seine Kraft bewundert. Ich habe auch die deine bewundert. Doch seine Kraft hat nie gewankt und er hat sie nie eingesetzt, um andere Leute einzuschüchtern. Es war schändlich, wie du deinen Vater behandelt hast. Deine Söhne waren im Nebenzimmer und haben gehört, wie du mit deinem Vater gesprochen hast. Weißt du nicht, daß du eines Tages, wenn du alt und gebrechlich bist, von ihnen vielleicht dieselbe Respektlosigkeit zu hören bekommen wirst? Na los, schlag mich! Ich setze das Baby ab. Zeige deinen Söhnen, wie stark du bist! Zeige ihnen, daß du eine Frau verprügeln kannst, nur weil sie dir die Wahrheit gesagt hat.«
Meb kam hereingestürmt. Er hatte den Bogen und die Pfeile dabei. »Nun?« fragte er. »Kommst du oder nicht?«
»Ich komme«, sagte Elemak. Er drehte sich zu Eiadh um. »Das werde ich dir nie verzeihen.«
Sie grinste ihn mit schmerzlich verzerrtem Gesicht an. »In einer Stunde wirst du mich um Verzeihung bitten.«
Als Nafai sich dem Dorf näherte, wußte er genau, was er zu erwarten hatte. Er hatte das Gedächtnis der Überseele. Er hatte den Gesprächen zwischen Elemak und seinen Mitverschwörern gelauscht. Er hatte gehört, wie sie allen befahlen, die Kinder nicht aus den Häusern zu lassen. Er hatte die Furcht in allen Herzen gefühlt. Er wußte, welchen Schaden Elemak seiner Familie zufügte. Er wußte, welche Furcht und Wut sein Herz erfüllte.
»Kannst du es ihn nicht vergessen lassen?« fragte Nafai.
›Nein. Diese Macht hat man mir nie gegeben. Außerdem ist er sehr stark. Ich habe nur einen minimalen Einfluß auf ihn.‹
»Wenn er sich entschieden hätte, dir zu folgen, wäre er für deine Zwecke besser geeignet gewesen, als ich es bin, nicht wahr?«
›Ja.‹ Die Überseele sagte es klar und deutlich, da sie nun sowieso nichts mehr vor Nafai verbergen konnte.
»Also bin ich nur die zweite Wahl«, sagte Nafai.
›Die erste. Denn Elemak ist es nicht gegeben, einen höheren Zweck als seinen eigenen Ehrgeiz anzuerkennen. Er ist ein größerer Krüppel als Issib.‹
Nafai raste in südliche Richtung; der Paritka glitt über den Boden und flog trotz seiner hohen Geschwindigkeit so ruhig, daß es Nafai fast unglaublich vorkam. Aber das Wunder dieser Maschine interessierte ihn im Augenblick nicht.
Er hätte am liebsten geweint. Denn als er sich nun auf die Menschen von Dostatok konzentrierte statt auf die Mühen, ein Sternenschiff flugfähig zu machen, ›erinnerte‹ er sich an Dinge, die er niemals vermutet hätte. Die Anstrengungen und Opfer, die Zdorab und Schedemei einander gebracht hatten. Der kalte Haß, den Vas für Obring und Sevet verspürte, und seit der Begebenheit an der Quelle Schazer auch für Elemak. Sevets bittere Selbstverachtung. Luets und Huschidhs Schmerz, weil ihre Männer sie immer mehr behandelten, wie es Elemaks Vorstellung von dem Verhältnis zwischen Gatte und Ehefrau entsprach, und immer weniger wie die Freunde, die sie eigentlich sein sollten.
Issib, der völlig von Huschidh abhängig war … wie schändlich war es von ihm, seine Frau nicht als eine in allen Belangen gleichberechtigte Partnerin zu sehen! Und wieviel schändlicher war es von mir, wo meine Gattin doch die größte aller Frauen und mindestens so klug ist, wie ich es bin!
Denn er hatte alle ihre Herzen von innen gesehen, und dieser Blick ließ keinen Raum für Haß. Ja, er wußte, daß Vas im Grund seines Herzens ein Mörder war — aber er ›erinnerte‹ sich auch an die Qualen, die Vas durchlitten hatte, als Sevet und Obring solche Schande über ihn gebracht hatten. Für Nafai war eine solche Erniedrigung natürlich keine Entschuldigung für einen Mord. Doch er wußte nun, wie die Welt durch Vas’ Augen aussah, und es war unmöglich, ihn danach zu hassen. Er würde natürlich verhindern, daß er seine Rache bekam, aber er verstand ihn trotzdem.
Genau, wie er Elemak verstand. Er wußte, wie er selbst in Elemaks Augen aussah. Hätte ich es doch nur gewußt, dachte Nafai. Hätte ich doch nur gesehen, was ich getan habe, daß er mich dermaßen haßt.
›Sei kein Narr! Er haßt deine Intelligenz. Er haßt, daß du gern intelligent bist. Er haßt deinen bereitwilligen Gehorsam für deine Eltern. Er haßt sogar, daß du ihn als Held verehrst. Er haßt dich, weil du du selbst bist — ihm so ähnlich und doch so anders. Du hättest nur verhindern können, daß er dich haßt, indem du jung gestorben wärst.‹
Nafai sah das ein, aber es änderte nichts. Daß er all dies nun wußte, änderte nichts daran, daß er es gern gesehen hätte, wären die Dinge anders gekommen. Oh, wie sehr sehnte er sich danach, daß Elemak ihn ansah und sagte: »Gut gemacht, Bruder, ich bin stolz auf dich.« Diese Worte hätte Nafai lieber von Elemak als von Vater gehört. Aber er würde sie niemals hören. Bestenfalls würde er heute Elemaks verdrossenes Einverständnis bekommen. Schlimmstenfalls Elemaks Leiche.
»Ich will ihn nicht töten«, flüsterte Nafai immer wieder.
›Wenn du ihn nicht töten willst, wirst du ihn auch nicht töten.‹
Und dann kehrten Nafais Gedanken zu Luet zurück. Ach, Luet, warum war dieser Mantel nötig, damit ich begreife, was ich dir antue? Du hast versucht, es mir zu sagen. Zuerst liebevoll, später dann wütend, aber die Mitteilung war dieselbe: Du verletzt mich. Du verlierst mein Vertrauen. Bitte tue es nicht! Aber ich habe nicht zugehört. Ich war dermaßen damit beschäftigt, der beste Jäger zu werden, das Leben eines Mannes unter Männern zu führen, daß ich vergaß: Bevor ich überhaupt ein Mann war, hast du meine Hand genommen und mich zum See der Frauen geführt; du hast mir nicht nur das Leben gerettet, sondern mir auch meinen Platz bei der Überseele gegeben. Alles, was ich bin, alles, was ich habe, mein Ich, meine Kinder, habe ich aus deinen Händen bekommen, Luet, und dann habe ich es dir schändlich heimgezahlt.
›Du bist fast da. Beherrsche dich!‹
Nafai riß sich zusammen. Er spürte, daß der Mantel in ihm an der Arbeit war, die Haut um seine Augen heilte, die sich vom Weinen gerötet hatte. Im nächsten Augenblick sah man seinem Gesicht nicht mehr an, daß er in Tränen ausgebrochen war.
Wird es so sein? Mein Gesicht eine Maske, nur weil ich diesen Mantel trage?
›Nur, wenn du es so willst.‹
Nafai ›erinnerte‹ sich daran, wohin Elemak und Mebbekew gegangen waren, um ihm aufzulauern. Vas und Obring waren im Dorf geblieben und sorgten dafür, daß niemand sein Haus verließ. Elja und Meb warteten, die Bogen in der Hand, um Nafai zu töten, sobald sie ihn sahen.
Nafais erster Gedanke war gewesen, sie einfach zu umgehen, damit sie ihn nicht sehen konnten. Dann hatte er sich überlegt, so schnell an ihnen vorbei zu fliegen, daß sie nicht schießen konnten. Aber beide Möglichkeiten wären auf lange Sicht kaum sinnvoll gewesen. Sie mußten ihr Verbrechen begehen. Sie mußten unprovoziert Pfeile in ihn jagen. »Sie sollen auf mich schießen«, sagte Nafai. »Hilf Meb, mich zu treffen — ohne deine Hilfe schafft er es nie. Hilf ihm, sich zu beruhigen, sich zu konzentrieren. Beide Pfeile sollen mich treffen.«