So gingen also die Schildbürger schon am nächsten Tag morgens um sieben an die Arbeit. Und sechs Wochen später hatten sie die drei Mauern aufgebaut. In der dem Marktplatz zugekehrten Breitseite war ein großes Tor ausgespart worden. Und es fehlte nur noch das Dach. Nun, auch das Dach kam bald zustande, und am Sonntag darauf fand die feierliche Einweihung des neuen Rathauses statt.
Sämtliche Einwohner erschienen in ihren Sonntagskleidern und begaben sich, mit dem Schweinehirten an der Spitze, in das weiß gekalkte, dreieckige Gebäude. Doch sie waren noch nicht an der Treppe, da purzelten sie auch schon durcheinander, stolperten über fremde Füße, traten irgendwem auf die Hand, stießen mit den Köpfen zusammen und schimpften wie die Rohrspatzen. Die drin waren, wollten wieder heraus. Die draußen standen, wollten unbedingt hinein. Es gab ein fürchterliches Gedränge! Endlich landeten sie alle, wenn auch zerschunden und mit Beulen und blauen Flecken, wieder im Freien, blickten einander ratlos an und fragten aufgeregt: »Was war denn eigentlich los?« Da kratzte sich der Schuster hinter den Ohren und sagte: »In un-serm Rathaus ist es finster!« »Stimmt!«, riefen die ändern. Als aber der Bäcker fragte: »Und woran liegt das?«, wussten sie lange keine Antwort. Bis der Schneider schüchtern sagte: »Ich glaube, ich hab's.« »Nun?« »In unserm neuen Rathaus«, fuhr der Schneider bedächtig fort, »ist kein Licht!« Da sperrten sie Mund und Nase auf und nickten zwanzigmal. Der Schneider hatte Recht. Im Rathaus war es finster, weil kein Licht drin war!
Am Abend trafen sie sich beim Ochsenwirt, tranken ein Bier und beratschlagten, wie man Licht ins Rathaus hineinschaffen könne. Es wurden eine ganze Reihe Vorschläge gemacht. Doch sie gefielen ihnen nicht besonders. Erst nach dem fünften Glas Braunbier fiel dem Hufschmied das Richtige ein. »Das Licht ist ein Element wie Wasser«, sagte er nachdenklich. »Und da man das Wasser in Eimern ins Haus trägt, sollten wir's mit dem Licht genauso machen!« »Hurra!«, riefen sie alle. »Das ist die Lösung!«
Am nächsten Tag hättet ihr auf dem Marktplatz sein müssen! Das heißt, ihr hättet gar keinen Platz gefunden. Überall standen Schildbürger mit Schaufeln, Spaten, Besen und Mistgabeln und schaufelten den Sonnenschein in Eimer und Kessel, Kannen, Töpfe, Fässer und Waschkörbe. Andre hielten große, leere Kartoffelsäcke ins Sonnenlicht, banden dann die Säcke geschwind mit Stricken zu und schleppten sie ins Rathaus. Dort banden sie die Säcke auf, schütteten das Licht ins Dunkel und rannten wieder auf den Markt hinaus, wo sie die leeren Säcke von neuem aufhielten und die Eimer und Fässer und Körbe wieder voll schaufelten. Ein besonders Schlauer hatte eine Mausefalle aufgestellt und fing das Licht in der Falle. So trieben sie es bis zum Sonnenuntergang. Dann wischten sie sich den Schweiß von der Stirn und traten gespannt durch das Rathaustor. Sie hielten den Atem an. Sie sperrten die Augen auf. Aber im Rathaus war es noch genauso dunkel wie am Tag zuvor. Da ließen sie die Köpfe hängen und stolperten wieder ins Freie. Wie sie so auf dem Markt herumstanden, kam ein Landstreicher des Wegs und fragte, wo es denn fehle. Sie erzählten ihm ihr Missgeschick und dass sie nicht ein noch aus wüssten. Er merkte, dass es mit ihrer Gescheitheit nicht weit her sein konnte, und sagte: »Kein Wunder, dass es in eurem Rathaus finster ist! Ihr müsst das Dach abdecken!« Sie waren sehr verblüfft. Und der Schweinehirt meinte: »Wenn dein Rat gut sein sollte, darfst du bei uns in Schilda bleiben, solange du willst.« »Jawohl«, fügte der Ochsenwirt hinzu, »und essen und trinken darfst du bei mir umsonst!« Da rieb sich der Landstreicher die Hände, ging ins Wirtshaus und bestellte eine Kalbshaxe mit Kartoffelsalat und eine Kanne Bier. Tags darauf deckten die Schildbürger das Rathausdach ab, und o Wunder!, mit einem Male war's im Rathaus sonnenhell! Jetzt konnten sie endlich ihre Ratssitzungen abhalten, Schreibarbeiten erledigen, Gemeindewiesen verpachten, Steuern einkassieren und alles Übrige besorgen, was während der Finsternis im Rathaus liegen geblieben war. Da es damals Sommer war und ein trockner Sommer obendrein, störte es nicht weiter, dass sie kein Dach überm Kopf hatten. Und der Landstreicher lebte auf ihre Kosten im Gasthaus, tafelte mittags und abends, was das Zeug hielt, und kriegte einen Bauch.
Das ging lange Zeit gut. Bis im Herbst graue Wolken am Himmel heraufzogen und ein Platzregen einsetzte. Es hagelte sogar. Und die Schildbürger, die gerade in ihrem Rathaus ohne Dach saßen, wurden bis auf die Haut nass. Dem Hufschmied sauste ein Hagelkorn, groß wie ein Taubenei, aufs Nasenbein. Der Sturm riss fast allen die Hüte vom Kopf. Und sie rannten durchnässt nach Hause, legten sich ins Bett, tranken heißen Fliedertee und niesten wie die Schöpse.
Als sie am nächsten Morgen mit warmen Tüchern um den Hals und mit roten, geschwollenen Nasen zum Ochsenwirt kamen, um den Landstreicher zu fragen, was sie nun tun sollten, war er verschwunden. Da sie nun niemanden hatten, der ihnen hätte helfen können, versuchten sie es noch ein paar Wochen mit dem Rathaus ohne Dach. Als es dann aber gar zu schneien begann und sie wie die Schneemänner am Ratstisch hockten, meinte der Schweinehirt: »Liebe Mitschildbürger, so geht es nicht weiter. Ich beantrage, dass wir, mindestens für die nasse Jahreszeit, das Dach wieder in Ordnung bringen.« Sein Antrag wurde von allen, die sich erkältet hatten, angenommen. Es waren die meisten. Und so deckten sie den Dachstuhl, wie vorher, mit Ziegeln. Nun war's im Rathaus freilich wieder stockfinster. Doch diesmal wussten sich die Schildbürger zu helfen. Jeder steckte sich einen brennenden Holzspan an den Hut. Und wenn es auch nicht sehr hell war, so konnten sie einander doch wenigstens ungefähr erkennen. Leider begannen die Späne nach einer Viertelstunde zu flackern. Nach einer halben Stunde roch es nach angebrannten Hüten. Und schon saßen die Männer, wie vor Monaten, im Dunkeln. Es war ganz still geworden. Sie schwiegen vor lauter Erbitterung.
Plötzlich rief der Schuster aufgeregt: »Da! Ein Lichtstrahl!«
Tatsächlich! Die Mauer hatte einen Riss bekommen, und durch ihn hindurch tanzte ein Streifen Sonnenlicht! Wie gebannt starrten sie auf den goldenen Gruß von draußen. »O wir Esel!«, brüllte da der Schweinehirt. »Wir haben ja die Fenster vergessen!« Dabei sprang er auf, fiel im Dunkeln über die Beine des Schmieds und schlug sich an der Tischkante drei Zähne aus. So war es. Sie hatten tatsächlich die Fenster vergessen! Sie stürzten nach Hause, holten Spitzhacken, Winkelmaß und Wasserwaage, und noch am Abend waren die ersten Fenster fix und fertig. So wurden die Schildbürger zwar nicht wegen ihres dreieckigen Rathauses, sondern vielmehr durch die vergessenen Fenster berühmt. Es dauerte nicht lange, so kamen auch schon die ersten Reisenden nach Schilda, bestaunten die Einwohner, übernachteten und ließen überhaupt ein gutes Stück Geld in der Stadt. »Seht ihr«, sagte der Ochsenwirt zu seinen Freunden, »als wir gescheit waren, mussten wir das Geld in der Fremde verdienen. Jetzt, da wir dumm geworden sind, bringt man's uns ins Haus!«
DER VERSALZENE GEMEINDEACKER
Eines schönen Tages wurde in Schilda das Salz knapp. Und die Händler, die durchs Land zogen, hatten keines zu verkaufen. In Salzburg sei Krieg, erzählten sie. Und in Salzbrunn und in Salzwedel auch. Und man müsse warten, bis der Krieg vorüber sei. Das missfiel den Schildbürgern. Denn Butterbrot ohne Salz, Kartoffeln ohne Salz und Suppen ohne Salz schmeckten ihnen und ihren Kindern ganz und gar nicht. Deshalb beratschlagten sie, was geschehen solle. Und weil ihr Rathaus nun helle Fenster hatte, fiel ihnen auch gleich etwas Pfiffiges ein. Da der Zucker auf Feldern wachse, meinte einer, sei es wohl mit dem Salz nicht anders. Man brauche deshalb auf dem Gemeindeacker, der noch brachliege, nur Salz auszusäen – alles andre werde sich dann schon finden. So geschah's. Sie streuten die Hälfte ihres Salzvorrats auf den Acker, stellten Wachposten mit langen Blasrohren an den Rändern des Feldes auf, für den Fall, dass die Vögel das Salz würden stehlen wollen, und warteten ab. Schon nach ein paar Wochen grünte der Acker, dass es eine Lust war. Das Salzkraut schoss nur so in die Höhe. Die Feldhüter saßen mit ihren Blasrohren auf der Lauer. Aber die Vögel blieben zum Glück aus. Und die Schildbürger rechneten schon nach, wie viel Salz sie ernten würden. Hundert Zentner, meinten sie, könnten sie vermutlich sogar exportieren. Doch da kamen die Kühe und Ziegen aus dem Nachbardorf! Die Kühe und Ziegen kamen also und trampelten in dem herrlich wachsenden Salzkraut herum. Die Feldhüter schössen mit ihren Blasrohren, was das Zeug hielt. Doch das Vieh machte sich nichts draus. Die Schildbürger wussten sich wieder einmal keinen Rat. Bis der Hufschmied eine Haselnussgerte von einem Strauche losriss und aufs Feld stürzen wollte, um die Tiere zu verjagen. »Bist du toll?«, schrie der Bäcker. »Willst auch du noch unser Kraut niedertrampeln?« Und sie stürzten sich auf den Schmied und hielten ihn fest. Da rief er: »Wie sonst soll ich denn das Vieh vertreiben, wenn ich nicht ins Feld laufen darf?« »Ich weiß einen Ausweg«, sagte der Schulmeister: »Du setzt dich auf ein Brett. Vier von uns heben dich mit dem Brett hoch. Und dann tragen sie dich ins Feld. Auf diese Weise wirst du kein einziges Hälmchen zertreten.« Alle waren von dem Vorschlag begeistert. Man trug, zu viert, den Schmied mit seiner Gerte über den Acker, und er verjagte das fremde Vieh, ohne dem Salzkraut auch nur ein Haar zu krümmen!