Kyle blickte mit großer Konzentration in die Richtung, aus der die lautlose Armee aufgetaucht war. »Wir müssen weg hier. Das war nur die Vorhut der Beutejäger.«
»Wir können nicht zurück«, sagte Charity. »Dort lauern die Ratten auf uns.«
»Vielleicht finden wir eine Abzweigung«, antwortete Kyle. »Oder wir schaffen es bis zur Treppe. Sie werden wiederkommen. Und nicht nur sie, glaub mir.«
Der Ernst, mit dem er diese Worte aussprach, beseitigte Charitys letzte Zweifel. Ohne ein weiteres Wort ergriff sie Helens Arm, legte ihn sich über die Schulter und lief los.
Sie schafften es nicht.
Sie hatten nicht einmal die halbe Strecke bis zur kleinen Schleusenkammer zurückgelegt, als Kyle plötzlich einen warnenden Ruf ausstieß und stehenblieb. Charity sah sich im Laufen um. Kyle hatte seine Waffe wieder gezogen und gestikulierte ihr mit der anderen Hand zu, weiterzurennen. »Nicht stehenbleiben!« schrie er. »Ich versuche, sie aufzuhalten.«
Charity versuchte, in der dunkelroten Dämmerung hinter dem Megamann irgend etwas zu erkennen, sah aber nichts.
Dann schien auf einmal der gesamte Gang hinter Kyle zu brodelndem schwarzem Leben zu erwachen.
Im ersten Moment dachte Charity, es wäre eine neue Armee der Spinnenwesen, die herangerast kam, aber es waren nur sehr wenige Kreaturen, die sich näherten. Offensichtlich hatte Kyle die meisten vernichtet. Nein, eine riesige schemenhafte Gestalt schob sich heran, eine einzige, gewaltige Masse, die wabernd näher kam, wie eine Lawine aus schwarzem, nassen Fleisch, die ihre Gestalt in jeder Sekunde veränderte und immer wieder auseinanderzufließen schien.
Charity hob ihre Waffe, gab einen einzelnen Schuß ab und registrierte verblüfft, daß der grelle Lichtblitz wie von einem gewaltigen Schwamm aufgesogen wurde. Nur eine winzige, rauchende Stelle blieb zurück; und auch sie verschwand fast sofort, als sich jetzt das Fleisch an dieser Stelle bewegte und eine neue, unversehrte Schicht über dem verbrannten heranwachsen ließ.
»Lauft!« brüllte Kyle. »Das hat keinen Sinn! Es ist immun gegen Strahlen!«
Trotz dieser Worte hob er seine eigene Waffe und gab einen Schuß auf den wandelnden Fleischberg ab. Das rote Licht ließ einen fast mannsgroßen Bereich der widerwärtigen Masse in grauem Staub explodieren, aber sein Vormarsch wurde dadurch nicht aufgehalten.
»Lauft!« schrie Kyle noch einmal. »Ich versuche, es aufzuhalten!«
Charity begriff, daß es Kyles sicherer Tod war, wenn er versuchte, sich dem Ungeheuer in den Weg zu stellen. Und doch blieb ihnen keine andere Wahl. Mit einer entschlossenen Bewegung drehte sie sich herum - und erstarrte erneut mitten im Schritt.
Keine zehn Schritte von ihr entfernt, funkelten sie im trüben Licht eine Unzahl gieriger, roter Augen an.
Die Ratten!
Neben ihr schrie Helen gellend auf. Charity preßte das Mädchen instinktiv fester gegen sich und hob ihre Waffe, entschlossen, ihrer beider Leben so teuer wie möglich zu verkaufen, als die Armee gewaltiger Ratten wie auf ein gemeinsames Kommando hin loszustürmen begannen. Sie wußte, daß sie keine Chance hatten. Es mußten Tausende der gierigen Bestien sein, die aus der Tiefe des unterirdischen Ganges kamen!
Eine halbe Sekunde, bevor die Rattenarmee sie erreichen und von den Füßen reißen konnte, teilte sich die braungraue Flut. Eine schmale Gasse entstand, als die Tiere zur Seite wichen, und Charity sah fassungslos zu, wie sich die Front der Ungeheuer auch vor Skudder, Net und dem Gnom teilte, die sich wenige Schritte neben ihr schützend aneinandergepreßt hatten!
»Um Gottes willen - nicht schießen!« schrie sie. »Schießt nicht!«
Mit einer Mischung aus Entsetzen und Staunen beobachtete sie, wie die pfeifende, quiekende Flut sich Kyle näherte, sich vor ihm abermals teilte - und sich mit verbissener Wut auf das schwarze Monster stürzte, das aus der anderen Richtung herangestürmt kam!
Im ersten Moment schien es, als könnten nicht einmal die Ratten es aufhalten. Die ersten fünf, sechs Reihen der angreifenden Nager verschwanden unter dem formlosen Körper des Monstrums, ohne daß es ins Straucheln geriet. Doch immer mehr Ratten drängten nach - und stürzten sich mit einer Wut auf das Ungeheuer, die Charity schaudern ließ. Fingerlange Zähne rissen und zerrten an dem schwarzen Fleisch; immer mehr Tiere sprangen mit schrillen Pfiffen das sich windende Monster an, ehe sie selbst verschlungen wurden.
Doch schließlich wurden die Bewegungen des Kolosses langsamer. Er kroch und waberte noch immer auf sie zu, aber nicht mehr so schnell und fließend, sondern mit ruckhaften, zuckenden Bewegungen, kein lautloses, rasches Gleiten mehr, sondern eher ein Aufbäumen - das schließlich zu einem Rückzug wurde!
Selbst seinen schier unerschöpflichen Regenerationskräfte waren Grenzen gesetzt. Die Ratten rissen immer größere Stücke aus seinem formlosen Leib heraus, die sie auf der Stelle aufzufressen begannen, Wunden schlossen sich jetzt nicht mehr, sondern blieben große, zuckende Löcher mit pulsierenden Rändern. Das Unwesen tötete die teuflischen Nager noch immer, aber für jede Ratte, die es verschlang, schienen zehn neue aufzutauchen, die sich mit einer bestialischen Wut auf ihren Gegner stürzten.
Langsam begann sich das gewaltige, formlose Ungeheuer zurückzuziehen. Sein Gleiten wurde wieder schneller, und obwohl Charity inmitten der wimmelnden, braungrauen Masse aus riesigen Körpern kaum noch etwas von ihm erkennen konnte, hatte sie doch das Gefühl, daß sich seine Haut veränderte - es schien den Ratten jetzt sehr viel schwerer zu fallen, sie mit den Zähnen zu verletzen.
Vorsichtig wandte Charity den Kopf und sah den Gang hinab. Der Strom gigantischer Ratten ließ allmählich nach. Sie hob vorsichtig die Hand und gab den anderen ein Zeichen. Skudder erhob sich behutsam und begann, sich Schritt für Schritt zurückzuziehen, wobei er versuchte, Net und den Gnom hinter sich zu halten. Auch Charity und Kyle bewegten sich vorsichtig.
Ihr Fuß streifte eine Ratte. Das Tier fuhr mit einem ärgerlichen Zischen herum, bleckte ein ehrfurchtgebietendes Haifischgebiß und starrte sie aus seinen dunklen Augen haßerfüllt an.
Sie erstarrte.
Für einen Moment trafen sich ihre Blicke, wieder glaubte Charity eine beunruhigende, fast menschliche Intelligenz in den nachtschwarzen Augen der Ratte zu erkennen.
»Geht weiter!« flüsterte sie. Ihre Stimme zitterte. Obwohl sie sich bemühte, leise zu sprechen, schienen die Worte überlaut durch den Korridor zu hallen und als verzerrte Echos wiederzukehren, vermischt mit den schrillen Pfeif- und Zischlauten der Rattenarmee, die noch immer gegen das gewaltige Amöbenwesen kämpfte. Aber nicht alle Ratten hatten sich an der ungleichen Schlacht beteiligt. Hier und da hockten kleine Gruppen der struppigen Bestien beisammen, in einer sonderbar verwirrten, hilflosen Art, die in Charity das absurde Gefühl auslöste, sie würden sich beraten.
Net stieß einen spitzen Schrei aus, als sich eine der Ratten ihr näherte und ihr Bein beschnüffelte; wie ein großer, mißgestalteter Hund. Ihre empfindlichen Barthaare zuckten nervös, und in ihren Augen stand der gleiche, vielleicht noch unentschlossene, aber vorhandene Zorn, den Charity auch in denen der anderen Tiere gelesen hatte. Sie sah, wie Skudder seine Waffe senkte, und hob erschrocken die Hand. »Nicht!« sagte sie. »Nicht schießen!«
Skudder begriff. Statt zu schießen, richtete er den Lauf des Lasers nur demonstrativ auf das schäferhundgroße Nagetier - und es konnte kein Zufall mehr sein, daß die Ratte in diesem Moment den Blick hob, ihn einen Moment lang anstarrte, und sich dann langsam und rückwärts kriechend davonmachte.