Während der letzten Minuten hatte Felss Leutnant Hartmann von einer Seite kennengelernt, die er bisher nicht einmal an ihm vermutet hatte. Statt mit einem ständig übelgelaunten Vorgesetzten hatte Felss mit einem ruhigen Mann gesprochen, der ihn die meiste Zeit mit unbewegtem Gesicht hatte reden lassen und ihn nur dann und wann einmal unterbrach, um eine knappe Zwischenfrage zu stellen.
»Also Sie trauen ihnen?« faßte Hartmann schließlich in einem Satz zusammen, was der junge Soldat ihm im Laufe der letzten zwanzig Minuten wortreich zu erklären versucht hatte.
Felss zögerte. Gerade die scheinbare Beiläufigkeit, mit der Hartmann diese Frage stellte, machte ihm klar, wie wichtig die Antwort sein konnte - nicht nur für diese Fremden, sondern auch für ihn. Er zögerte sekundenlang, dann rettete er sich in ein verunglücktes Lächeln. »Ich denke schon«, sagte er.
Für einen kurzen Moment kehrte der alte Ausdruck von Unmut auf Hartmanns Züge zurück. »Ich habe Sie nicht gefragt, was Sie denken«, erklärte der Leutnant, entschärfte seine Worte aber sofort mit einem milden Lächeln. »Trauen Sie ihnen oder nicht?«
»Ich glaube schon«, sagte Felss schließlich. »Zumindest den drei Frauen und diesem komischen Knirps.«
»Und die anderen?«
Wieder zögerte Felss einige Sekunden lang. »Bei dem Jüngeren bin ich mir nicht sicher«, gestand er schließlich. »Ich ... werde nicht ganz schlau aus ihm.«
Hartmann sah ihn fragend an.
»Er war nur ein paar Augenblicke bewußtlos«, fuhr Felss fort. »Dabei hat er eine volle Ladung abbekommen - genau wie die anderen. Danach hat er nur so getan, als schliefe er.«
»Vielleicht hätte ich das auch an seiner Stelle«, sagte Hartmann nachdenklich. »Wenn die Geschichte stimmt, die die Amerikanerin erzählt...«
»Wir könnten sie überprüfen«, sagte Felss.
Hartmann nickte. Er wirkte irgendwie niedergeschlagen. »Sobald wir in der Station sind, ja«, sagte er. »Aber dann kann es zu spät sein.«
»Wieso in der Station?« wunderte sich Felss.
»Es ist möglich, daß wir diesen Posten aufgeben müssen«, antwortete Hartmann in einem Ton, der Felss klarmachte, daß er nicht bereit war, mehr zu diesem Thema zu sagen. Er kehrte auch unmittelbar zu dem zurück, worüber sie die letzten zwanzig Minuten geredet hatten.
»Um Captain Laird und die beiden anderen Frauen kümmere ich mich«, sagte er. »Sie behalten diesen Kyle im Auge - oder wie immer er wirklich heißen mag. Hat er gemerkt, daß Sie Verdacht geschöpft haben?«
Felss schüttelte den Kopf.
»Das ist gut«, sagte Hartmann. »Dabei sollte es auch bleiben. Was ist mit dem anderen? Er könnte ein Dreckfresser sein.«
Wieder schüttelte Felss den Kopf. »Nein«, sagte er. »Ich weiß nicht, wer er ist, aber ein Dreckfresser ganz bestimmt nicht.«
»Gut«, sagte Hartmann. Er klang erleichtert.
Er hatte auch allen Grund dazu, dachte Felss, denn wenn die Dreckfresser eine Intelligenz entwickelt hätten, die es ihnen ermöglichte, eine so komplizierte und überzeugende Täuschung aufzubauen, dann waren sie mehr als ein Ärgernis.
»Also«, sagte Hartmann und stand auf. »Gehen Sie und halten Sie die beiden ein wenig im Auge. Und informieren Sie auch Lehmann über unser Gespräch.«
*
Es dauerte zwei Stunden, bis die Drohne zurückkam, und nicht nur Charity riß erstaunt die Augen auf, als sie das schwarzbraune Etwas erblickten, das Felss lässig unter den linken Arm geklemmt hatte und das vielmehr an ein lebendes Wesen als an einen Spionagesatelliten erinnerte. Das Gerät hatte die Form einer abgeflachten, ovalen Scheibe, aber jemand hatte den Chitinpanzer eines riesigen, glotzäugigen Käfermonstrums ausgehöhlt und ihn so geschickt umgearbeitet, daß er einen natürlichen Tarnanzug bildete. Selbst aus einer Entfernung von nur wenigen Schritten würde diese Drohne niemandem als das auffallen, was sie wirklich war.
Charity zog anerkennend die Augenbraue hoch und sah Felss an. »War das Ihre Idee?«
Der junge Soldat schüttelte den Kopf und deutete mit einer stummen Geste auf Hartmann.
»Kein schlechter Einfall«, sagte Charity, aber Hartmann knurrte auf seine gewohnte, unfreundliche Art:
»Sie können mir später einen Heiligenschein verpassen, Captain Laird. Jetzt lassen Sie uns sehen, was sich dort draußen tut.« Er drückte einen Knopf auf der Oberseite des Gerätes, und eine winzige Videokassette fiel in seine Hand. Rasch trug er sie zu einem Abspielgerät, schaltete es ein und blickte konzentriert auf den Monitor.
Im ersten Augenblick war auf dem Bildschirm nichts Außergewöhnliches zu erkennen - sah man davon ab, daß die Landschaft, über die die Drohne hinweggeglitten war, einen völlig verwüsteten Anblick bot. Ein paar Sekunden lang irritierte Charity der scheinbare ziellose, ruckhafte Flug des Gerätes, aber dann begriff sie, daß die Drohne nichts anderes als den taumelnden Flug eines Käfers nachgeahmt hatte.
Der Käfer hatte sich eine Weile scheinbar ziellos zwischen den ausgebrannten Ruinen der Stadt hin und her bewegt, wobei seine Tarnung möglicherweise sogar ein wenig zu perfekt gewesen war, denn zweimal war er von riesigen, fliegenden Kreaturen angegriffen worden, denen er aber jedesmal mit Leichtigkeit ausgewichen war. Einmal glaubte Charity, auf dem Bild eine menschliche Gestalt vorüberhuschen zu sehen, aber als sie Hartmann danach fragte, tat er so, als hätte er ihre Worte nicht gehört. Schließlich berührte der Leutnant einen Knopf und ließ die Aufnahme mit zehnfacher Geschwindigkeit laufen. Trotzdem vergingen noch Minuten, in denen der Bildschirm nichts anderes als graue, ausgebrannte Ruinen zeigte. Dann stoppte das Bild plötzlich, als die Drohne angehalten hatte, und Hartmann schaltete hastig auf die normale Geschwindigkeit zurück.
Am Ende des verheerten Straßenzuges, den der Monitor zeigte, schwebte eine große silberfarbene Scheibe über dem Boden. Eine schmale Zunge aus Metall hatte sich aus ihrer Unterseite hervorgerollt und entließ Dutzende der schwarzen Ameisenkreaturen von Moron ins Freie.
»Soldaten«, sagte Kyle ruhig.
Charity sah verwirrt auf. »Sind sie das denn nicht alle?«
Kyle schüttelte den Kopf, ohne den Blick vom Monitor zu wenden. »Die meisten sind Arbeiter«, sagte er. »Sie kämpfen auch, wenn es sein muß. Aber das da sind Soldaten. Sie sind viel stärker und gefährlicher.«
Die Ameisen sammelten sich zu kleinen Gruppen und begannen dann, zu Fuß tiefer in das verwüstete Gebiet jenseits des Gleiters vorzudringen. Charity sah, daß die meisten von ihnen nicht mehr mit den üblichen kleinen Strahlenpistolen, sondern mit schweren, bizarr geformten Gewehren bewaffnet waren; andere schienen eine Art Meß- oder Ortungsgeräte mit sich zu schleppen, auf die sie immer wieder herabblickten, um sich dann mit schrillen Pfiffen zu verständigen.
»Ihre Freunde scheinen verdammt viel Wert darauf zu legen, Sie wiederzusehen«, sagte Hartmann sarkastisch. Er deutete auf das kleine Bildschirmfenster, das an der rechten unteren Ecke des Monitors erschienen war. »Die Strahlung dort reicht aus, einen Menschen in zehn Minuten umzubringen.«
»Radioaktivität macht ihnen nichts aus«, sagte Kyle. »Jedenfalls nicht viel.«
Abermals sah Hartmann ihn voller Mißtrauen an. »Sie wissen eine ganze Menge über diese Biester.«
Kyle nickte. Ein flüchtiges Lächeln huschte über seine Züge. »Sie doch auch«, sagte er. »Man sollte seinen Feind kennen, um ihn richtig bekämpfen zu können.«
Zumindest den letzten Satz hatte er einzig und allein gesprochen, um Hartmann zu beruhigen. Aber seine Worte hatten ihre Wirkung verfehlt. Hartmann traute Kyle nicht. Und er machte nicht sehr viel Hehl aus seinen Gefühlen.
Die Drohne glitt weiter, wobei sie nun dicht über dem Boden schwebte und jede natürliche Deckung ausnutzte, um nicht bemerkt zu werden. Eine Zeitlang folgte sie einer der Ameisengruppen, schlug dann eine andere Richtung ein und verharrte wiederum minutenlang in der Nähe des Landesplatzes eines weiteren Gleiters. Dieses Verhalten wiederholte sich vier- oder fünfmal hintereinander, wobei der Kurs, den das Instrument zurückgelegt hatte, auf einem zweiten, kleineren Bildschirmfenster zu verfolgen war. Offensichtlich waren die Gleiter am Rand eines gewaltigen, imaginären Kreises gelandet; wahrscheinlich der Grenze jenes Gebietes, das sie zuvor bombardiert hatten.