Hartmann warf ihr einen schwer zu deutenden Blick zu. »Was um alles in der Welt haben Sie getan?« fragte er. »Ich habe so etwas noch nie erlebt.«
»Nichts«, antwortete Charity beinahe hilflos. »Aber das ist auch nicht die Frage. Die Frage ist, was sie glauben, das wir getan haben.«
Hartmann konzentrierte sich wieder auf die Videoaufzeichnung. Die Bilder begannen einander zu gleichen: Gleiter, die sehr langsam und sehr tief über die Stadt flogen, und Gleiter, die gelandet waren und schier endlose Ketten schwarzer, spinnengliedriger Gestalten entließen. Offensichtlich drangen die Ameisen von allen Seiten des Kreises gleichzeitig in die verwüstete Stadt ein, um alles, was das Bombardement überlebt hatte, vor sich her und schließlich in die Enge zu treiben.
Die Aufzeichnung dauerte fast eine halbe Stunde, ohne ihnen noch weitere, neue Informationen zu bringen. Schließlich begann sich die Drohne wieder von der Front der Gleiter zu entfernen, und Hartmann wandte sich mit einem fast enttäuschten Seufzer vom Bildschirm ab, ließ die Aufzeichnung aber weiterlaufen.
»Mehr erfahren wir jetzt nicht mehr«, sagte er. »Falls wir überhaupt etwas erfahren haben.« Bei den letzten Worten hatte er Charity fragend angeschaut, doch sie wich seinem Blick aus. Plötzlich aber fuhren neben ihr sowohl Net als auch Skudder erschrocken zusammen. Der Hopi deutete mit dem ausgestreckten Arm auf den Monitor hinter Hartmann. »Seht doch!«
Aller Blicke wandten sich wieder dem Bildschirm zu. Die Drohne hatte auf ihrem Weg zurück noch einmal haltgemacht. Direkt auf der Straße vor ihr war eine weitere der gewaltigen schimmernden Flugscheiben gelandet. Auch in ihrem Rumpf hatte sich eine Luke geöffnet, aber die Gestalt, die aus diesem Gleiter hervorkam, war keine Ameise, sondern ein Mensch, der durch den gewaltigen, schwerfälligen Anzug, in den er gehüllt war, plump und ungeschickt wirkte.
»Das ist...« begann Charity, und Kyle unterbrach sie: »Governor Stone.«
Sowohl Charity als auch Skudder und Net sahen den Megamann ungläubig an, während Hartmann mißtrauisch die Augen zusammenkniff. »Woher wollen Sie wissen, wer das ist?« fragte er. Mit einer eher zornigen als fragenden Geste auf den Monitor fügte er hinzu: »In diesem Anzug kann wer weiß wer stecken.«
Kyle fing Charitys warnenden Blick auf - der, wie sie unbehaglich registrierte, auch Hartmann nicht entgangen war - und antwortete gelassen. »Ich habe seine Rangabzeichen auf dem Anzug erkannt. Hier - sehen Sie?« Er trat ganz dicht an den Monitor heran und deutete auf ein kaum stecknadelgroßes Funkeln über dem Herzen der menschlichen Gestalt. Hartmann starrte ihn einen Moment lang feindselig an, bequemte sich aber dann, sich vorzubeugen und seine Augen so dicht an den Monitor heranzubringen, daß seine Nase beinahe die Scheibe berührte. Fast eine Minute lang blickte er angestrengt auf die kaum handgroße, menschliche Gestalt, dann richtete er sich wieder auf und sagte nach einem weiteren, sehr mißtrauischen Blick in Kyles Gesicht: »Sie müssen verdammt gute Augen haben, junger Mann.«
»Das habe ich«, bestätigte Kyle.
Charity atmete auf. Vielleicht konnte Kyle seine Tarnung noch eine Weile aufrechterhalten.
»Wer ist das - Stone?« fragte Hartmann.
»Ein persönlicher Freund von uns«, antwortete Charity hastig, wobei sie das Wort Freund übermäßig betonte. Mit einem säuerlichen Blick auf den Monitor fügte sie hinzu: »Ich würde ihn wahrscheinlich auch im Dunkel und mit verbundenen Augen erkennen. Er hat uns lange genug gejagt.«
»Und wie es aussieht«, sagte Hartmann, »tut er es noch immer.«
»Ich hätte diesem Kerl den Hals herumdrehen sollen, als ich die Gelegenheit dazu hatte«, knurrte Skudder.
Hartmann lächelte flüchtig, aber sein Blick blieb ernst. Es war nicht leicht, diesem Mann etwas vorzumachen, dachte Charity. Er mußte längst gespürt haben, daß sie ihm etwas verheimlichten.
In die sonderbare Stille hinein meldete sich der junge Techniker hinter dem Computerpult mit einem lautstarken, unechten Räuspern. Hartmann sagte nichts, trat aber wortlos neben ihn und beugte sich über seine Schulter.
Charity tauschte einen fragenden Blick mit Kyle, ehe sie Hartmann folgte und sich ebenfalls über das Pult beugte. »Schwierigkeiten?« fragte sie.
»Vielleicht«, antwortete Hartmann ausweichend. »Das kann ich jetzt noch nicht sagen.«
»Können wir helfen?« fragte Kyle.
»Es wäre schon eine große Hilfe, wenn Sie nicht im Weg stehen würden. Bitte gehen Sie in Ihre Quartiere zurück.«
»Sie meinen, unsere Zellen?« fragte Charity ironisch.
Hartmann sah mit einem Ruck auf. In seinen Augen blitzte es, dann sagte er gepreßt: »Selbstverständlich steht Ihnen mein Privatquartier zur Verfügung, Captain Laird. Und Ihren Begleitern ebenfalls. Leutnant Felss wird Sie hinbringen und zu Ihrer Verfügung stehen, bis ich Sie wieder brauche.«
Hartmann drückte einen Knopf auf dem Pult vor sich, und der junge Leutnant und ein zweiter Soldat, dessen Namen sie nicht kannte, erschienen unter der Tür der kleinen Überwachungszentrale. Hartmann deutete auf Charity und die anderen und sagte: »Bringen Sie unsere Gäste in meine Räume. Und bleiben Sie bei ihnen - falls sie irgendwelche Wünsche haben.«
Sie verließen den Raum ohne ein weiteres Wort und gingen über den kurzen Korridor aus nacktem Beton zurück in jenen Raum, in dem Charity das erste Mal mit Hartmann gesprochen hatte. Die beiden Soldaten waren sehr zuvorkommend, aber auch sehr viel weniger diplomatisch als ihr Vorgesetzter. Der Ausdruck auf ihren Gesichtern machte deutlich, als was sie Charity und ihre Begleiter plötzlich betrachteten: als Gefangene.
»Ich verstehe das nicht ganz«, sagte Net, als die beiden Soldaten sie alleingelassen und die Tür hinter sich geschlossen hatten. »Was ist plötzlich los? Er behandelt uns, als wären wir ...«
Sie suchte einen Moment nach Worten, und Kyle sprang hilfreich ein. »Feinde«, sagte er.
Das Wort schien Net zu erschrecken, aber weniger, weil es sie überraschte, sondern wohl eher, weil es das ausdrückte, was sie selbst empfand.
»Er mißtraut uns«, sagte Kyle. »Und vor allem mir. Ich weiß nicht warum, aber ich habe es genau gespürt.«
»Kann es sein«, fragte Skudder, »daß er weiß, wer du bist?«
Kyle setzte zu einer Antwort an, wandte sich aber dann mit einer ruckhaften Bewegung um und trat an die Wand neben der Tür. Seine Fingerspitzen glitten wie suchend über die winzige Schalttafel darin, verharrten einen Moment, und als er die Hand wieder zurückzog, hielt er die Überreste eines winzigen Mikrofons mit abgerissenen Kabelenden zwischen Daumen und Zeigefinger.
Nicht einmal eine Sekunde später glitt die Tür auf, und Felss' junger Kollege kam herein, seine rechte Hand lag ganz unverhohlen auf dem Kolben der Pistole in seinem Gürtel. Als er sah, was Kyle in der Hand hielt, verwandelte sich der Ausdruck auf seinem Gesicht von Verwirrung in Zorn, aber der Megamann ließ ihn gar nicht erst zu Wort kommen, sondern hielt ihm mit einem fast fröhlichen Lächeln das winzige Mikrofon entgegen.
»Ich glaube, Sie suchen das hier«, sagte er. »Sie sollten Ihre Abhörgeräte ein wenig besser verstecken.«
Auf dem Gesicht des jungen Soldaten - das kleine Schildchen über seiner linken Brustseite identifizierte ihn als Unteroffizier Lehmann - mischten sich Verblüffung mit Zorn und Hilflosigkeit.