Auch dieser Teil der Ruinenstadt war mit wucherndem Dschungel bedeckt. Auf der rechten Seite der Straße bildete das Buschwerk eine nahezu undurchdringliche Mauer, die die verkohlten Ruinen viel weniger überwuchert als gleichsam absorbiert zu haben schien. Auf der anderen Seite der Straße erhoben sich verkrüppelte Bäume. Dahinter bewegten sich vier, fünf Gestalten in zerfetzten Kleidern und mit langem, verfilztem Haar. Im ersten Moment konnte Charity nicht genau erkennen, was sie taten; dann legte Felss einen Schalter auf seinem Armaturenbrett um, und das Bild wurde deutlicher. Charity sah, daß die Gestalten sich im Halbkreis um einen schlammigen Tümpel versammelt hatten.
»Was tun Sie da?« fragte Skudder.
»Warten Sie einen Moment«, antwortete Hartmann. »Dann sehen Sie es selbst.«
Sekundenlang rührte sich keiner der Gestalten, doch plötzlich tauchte ein riesiger Schatten aus dem Morast auf. Obwohl sein Körper über und über mit dem grauen Schlamm bedeckt war, erkannten Charity und die anderen sofort, was es war - eine Ameise.
Einen Herzschlag später folgte ihr eine zweite, die viel kleiner war und selbst auf dem verzerrten Monitorbild irgendwie unfertig wirkte. Und erst jetzt begriff Charity, was sie wirklich sahen: Die beiden Ameisen waren Junge, und der Schlamm war gar kein Schlamm, sondern...
»Manna!« sagte Skudder verblüfft.
Hartmann warf ihm einen schrägen Blick zu. »Ein interessanter Name für dieses Teufelszeug«, knurrte er.
Die beiden Moroni musterten die fünf menschlichen Gestalten aus ihren starren, glitzernden Augen. Nach einigen weiteren Augenblicken traten zwei der Männer vor und zogen etwas aus ihrer Kleidung heraus. Charity konnte nicht erkennen, was es war, aber sie sah, wie die Mandibeln der beiden Ameisen gierig zu zittern begannen.
»Sie ... füttern sie!« sagte Skudder verblüfft.
Hartmann nickte grimmig. »Ein paar von ihnen lungern immer in der Nähe dieser Dreckslöcher herum. Sie beschützen die kleinen Biester, bis sie groß genug sind, aus ihren Löchern herauszukriechen.«
»Aber warum?« fragte Charity verstört.
»Warum fragen Sie sie nicht selbst?« antwortete Hartmann scharf. Er lächelte schief. »Ich bin sicher, Ihre Freunde werden sich freuen. Sie zu sehen. Ihre kleinen Lieblinge sind einer kleinen Zwischenmahlzeit nie abgeneigt.«
»Die Ameisen versorgen sie im Gegenzug mit Nahrung«, sagte Felss, der ebenso verbittert und zornig wie sein Vorgesetzter auf den Monitor starrte, seine Gefühle aber etwas besser im Zaum hielt. »Und sie erlauben ihnen, hier zu leben.«
»Und Jagd auf uns zu machen«, fügte Hartmann hinzu.
Er gab Felss einen Wink. »Fahren Sie weiter. Aber vorsichtig.«
Felss startete den Motor des Panzerfahrzeuges und ließ es vorsichtig anrollen. Bei langsamer Fahrt erzeugte der Wagen kaum ein Geräusch. Trotzdem sah Charity, daß der Blick des jungen Soldaten immer wieder nervös über seine Kontrollinstrumente und den rückwärtigen Monitor huschte.
»Sind irgendwelche Gleiter in der Nähe?« fragte sie.
»Nein.« Felss schüttelte den Kopf. »Ich glaube, wir haben es geschafft.«
Und genau in diesem Moment brach der Boden unter dem Wagen ein.
Wie im Fahrstuhl sauste das Gefährt drei, vier Meter weit in die Tiefe, ehe es mit einem vernichtenden Ruck aufschlug. Die Erschütterung war so stark, daß sie alle aus ihren Sitzen und zu Boden geschleudert wurden. Der Motor erstarb mit einem schrillen Kreischen. Die Innenbeleuchtung des Wagens flackerte und ging aus, und ein berstender, metallischer Laut erklang, als würde der Wagen in zwei Stücke gerissen.
Charity richtete sich benommen auf und sah sich im unheimlichen roten Schein der Notbeleuchtung um, die sich automatisch eingeschaltet hatte. Der Ruck hatte sie zwischen zwei Sitzbänke geschleudert, aber sie war mit einigen Prellungen davongekommen. Und wie es aussah, hatten auch die anderen Glück gehabt. Keiner von ihnen schien ernsthaft verletzt zu sein.
»Was war das?« fragte Kyle.
»Eine Falle!« Hartmanns Stimme klang gepreßt. Auch ihn hatte es aus seinem Kommandantenstuhl gerissen.
Kyle streckte hilfreich die Hand aus, aber Hartmann ignorierte sie und griff ächzend nach der Kante eines Stuhles. Selbst im bleichen, unheimlichen Schein der Notbeleuchtung konnte Charity erkennen, wie zornig es in seinen Augen loderte.
»Raus hier!« befahl er. »Schnell! Ehe sie hier sind!«
Skudder wollte die Tür öffnen, aber sie war verklemmt. Kyle trat neben ihn, doch nicht einmal mit vereinten Kräften gelang es ihnen, den gepanzerten Ausstieg auch nur einen Zentimeter weit zu bewegen.
»Es hat keinen Zweck«, sagte Hartmann grob. Er deutete auf die Frontscheibe. »Schlagt sie ein!«
Charity zögerte, aber sowohl Felss als auch der zweite Soldat nahmen wortlos ihre Gewehre von den Schultern und schlugen mit dem Kolben auf das Panzerglas ein. Sie mußten einige Male mit aller Kraft zuschlagen, ehe sich in der gewölbten Scheibe auch nur der erste Riß zeigte, aber dann fiel die gesamte Scheibe in einem Stück nach draußen - und prallte klirrend gegen ein Hindernis.
Felss zog sich ächzend durch den schmalen Spalt, packte die Scheibe und schleuderte sie auf das Wagendach empor. Dann bückte er sich und streckte Charity auffordernd die Hand entgegen.
Als sie hinter ihm ins Freie kletterte, sah sie, warum sich die Türen nicht öffnen ließen: Offensichtlich waren sie nicht in einen Keller herabgestürzt, dessen Decke unter dem Gewicht des Panzerfahrzeuges nachgegeben hatte, sondern tatsächlich in eine Fallgrube, die eigens für sie gebaut worden war.
Charity kletterte auf das Wagendach hinauf, um den anderen Platz zu machen, und nahm ihre Waffe von der Schulter. Einen halben Meter über ihrem Kopf heulte ein wilder Sturm dahin. Schützend hob sie die Hand über die Augen und versuchte, in der fast vollkommenen Finsternis irgend etwas zu erkennen, aber das Toben des Sturmes war zu heftig, als daß sie sagen konnte, ob die Bewegungen, die sie wahrzunehmen glaubte, wirklich oder eingebildet waren.
»Der Sender!« brüllte Hartmann über das Heulen des Sturmes hinweg, als auch Felss als letzter auf das Wagendach hinaufsteigen wollte. Der junge Soldat fuhr zusammen, drehte sich nervös herum und kletterte umständlich noch einmal ins Wageninnere zurück. »Geben Sie unsere Position durch!« schrie Hartmann. »Code 5!«
»Was bedeutete das?« fragte Charity.
»Daß wir weiter nach Westen gehen!« schrie Hartmann zurück. »Wir können nicht hierbleiben. Sie werden den Sender in ein paar Sekunden angemessen haben und herkommen.«
Das Heulen des Sturmes wurde so laut, daß eine Verständigung unmöglich war, als sie vom Dach des Wagens aus der Fallgrube herauskletterten. Charity hob schützend beide Arme über das Gesicht, aber sie hatte trotzdem das Gefühl, der rasende Sand würde ihr binnen Sekunden die Haut vom Gesicht reißen.
Als sie die Straße überquert hatten und den Schutz einer Ruine erreichten, nahm der Sturm ein wenig ab. Es mußte fast ein Orkan sein, den sie im Inneren des Panzerspähwagens gar nicht bemerkt hatten.
Hartmann blieb stehen, drehte sich zu ihnen herum und blinzelte zwischen den Fingern der rechten Hand hervor, die er schützend über die Augen gehoben hatte. Mit der anderen deutete er nach Westen und machte dann eine sonderbare Bewegung; wahrscheinlich wollte er ihnen zu verstehen geben, daß sie beisammenbleiben sollten.
Schräg gegen den tobenden Orkan gelehnt, gingen sie weiter. Skudder und die anderen waren nur als verschwommene Schemen zu erkennen, obwohl sie sich nur wenige Schritte hinter ihr befanden. Immerhin sah Charity, daß der Hopi die Arme schützend um die Schultern der beiden Mädchen geschlungen hatte und sie vor sich herschob, während Kyle eine reglose Gestalt über der Schulter trug - den verwundeten Techniker. Von Gurk war keine Spur zu erkennen, aber um den Zwerg machte sich Charity die wenigsten Sorgen. Gurk hatte es bisher stets geschafft, irgendwie auf sich aufzupassen.