Sie wurden in einen kleinen, türlosen Raum auf der Rückseite des Kellers gebracht, wo ihnen Jared wortlos, aber sehr gestenreich bedeutete, daß sie hier zu warten hätten. Zu Charitys Überraschung blieben weder er noch einer seiner Begleiter bei ihnen zurück.
Als die Barbaren verschwunden waren, stürzte Hartmann auf sie zu. »Bravo, Captain Laird!« sagte er scharf. »Das war wirklich eine strategische Meisterleistung. Ich beginne allmählich zu begreifen, wie die USA den Krieg gegen die Invasoren verlieren konnten!«
Charity wollte antworten, aber Kyle kam ihr zuvor. »Immerhin sind Sie noch am Leben, oder?«
Hartmann maß ihn mit einem Blick, in dem sich Zorn und Verachtung mischten.
»Ja«, sagte er gepreßt. »Die Frage ist nur, ob wir uns darüber freuen sollen.«
»Was ist los mit Ihnen, Hartmann?« fragte Charity ruhig. »Bisher haben sie uns nichts getan.«
»Sie sagen es!« grollte Hartmann. »Bisher!«
»Was soll denn das?« mischte sich Net ein. »Hassen Sie diese Menschen so sehr - oder haben Sie einfach nur Angst?«
Hartmann bedachte sie mit einem Blick, als wäre er sich nicht schlüssig, ob die Wasteländerin es überhaupt wert sei, eine Antwort zu erhalten. »Ja«, gestand er. »Ich habe Angst.«
»Bisher haben sie uns nichts getan«, sagte Skudder.
»Freuen Sie sich bloß nicht zu früh«, antwortete Hartmann. »Wir wären nicht die ersten, die von den Dreckfressern getötet werden würden.«
»Warum nennen Sie sie so?« fragte Skudder. »Dreckfresser?«
»Weil sie nichts anderes sind!« erwiderte Hartmann haßerfüllt. »Schauen Sie sich doch um!« Er machte eine zornige Geste in den angrenzenden Kellerraum hinaus. »Sie leben wie die Tiere!«
»Vielleicht leben sie einfach nur anders«, sagte Charity. Sie war wieder zur Tür zurückgegangen, hatte den Raum aber nicht verlassen, sondern sich gegen den Rahmen gelehnt und blickte nachdenklich hinaus.
Was sie sah, kam ihr immer verwirrender vor. Auf den ersten Blick schien die Ansammlung zerlumpter, schmutzstarrender Gestalten in dem gewaltigen Geviert aus Beton Hartmanns Worte zu bestätigen; hier und da gewahrte sie zwar Aktivität, aber die meisten saßen einfach nur reglos da und starrten dumpf ins Leere. Sie mußte wieder an Jared denken und den sonderbaren Ausdruck in seinen Augen; eine Leere, die vielleicht nur der Ausdruck eines völlig anderen, fremdartigen Denkens war. Vielleicht, dachte sie, hatte Hartmann sogar Recht - wenn auch auf vollkommen andere Art und Weise, als er selbst ahnte. Diese Männer und Frauen hier mochten die Nachkommen derer sein, die die Verheerung vor einem halben Jahrhundert irgendwie überlebt hatten. Es war schwer, unter all dem Schmutz und dem langen, verfilzten Haar und den Lumpen Einzelheiten zu erkennen, aber Charity glaubte zumindest zu sehen, daß viele der Gestalten verkrüppelt waren. Manche bewegten sich sonderbar falsch und umständlich, andere hatten Buckel oder unterschiedlich lange Gliedmaßen. Charity sah eine junge Frau, deren Gesicht fast zur Gänze unter einem grauschwarzen, wucherndem Gewächs verschwunden war, und eine andere, die keine Beine hatte, sich aber sehr geschickt und schnell auf Fäusten und Kniestümpfen bewegte.
Charity wandte sich zu Hartmann um und wiederholte die Frage, die Net vor einer Minute gestellt hatte: »Warum hassen Sie sie so, Hartmann?«
Statt sie anzufahren, wie sie es fast erwartet hatte, sah Hartmann sie nur müde an.
»Das tue ich gar nicht«, sagte er. »Vielleicht fürchte ich sie. Wir alle fürchten sie.«
»Diese harmlosen Wilden?« Kyle machte eine unbestimmte Geste auf die Wilden draußen. »Sie wollen mir doch nicht im Ernst erzählen, daß diese Menschen eine Gefahr für Sie darstellen?«
»Doch«, antwortete Hartmann ernst. »Ich weiß, daß sie einen anderen Eindruck erwecken - aber sie sind gefährlich. Sie haben mehrere von unseren Horchstationen überfallen. In der Basis ist kaum jemand, der nicht einen Freund oder einen Verwandten durch sie verloren hätte.«
»Aber es sind Wilde!« widersprach Skudder. »Sie haben nicht einmal Waffen. Mit ihren Keulen und Speeren...«
»Sie haben doch erlebt«, unterbrach ihn Hartmann, »was sie mit unserem Wagen gemacht haben. Unterschätzen Sie sie nicht. Ich kämpfe seit fünfzig Jahren gegen sie, und ich weiß bis heute nicht, wer diesen Krieg gewinnen wird.«
»Fünfzig Jahre?« Net sah den Leutnant mit unübersehbarem Spott an. »Aber Sie sind doch kein Jahr älter als vierzig.«
»Ich bin zweiundvierzig«, sagte Hartmann mit einem flüchtigen Lächeln.
»Sie haben einen Schlaftank«, vermutete Gurk.
Hartmann nickte. »Wir besetzen die Außenstationen immer im Wechsel - neun Jahre Schlaf, ein Jahr Wache. Und das ist schon fast mehr, als man aushallen kann.«
Net und auch Skudder blickten Hartmann und seine beiden Begleiter überrascht an, aber Charity empfand nur eine leise Verwunderung, daß sie nicht selbst darauf gekommen war. Die Selbstverständlichkeit, mit der Hartmann über ihren eigenen Aufenthalt im Schlaftank geredet hatte, hätte ihr sagen müssen, was hier wirklich vorging. Schließlich hatte sie gewußt, daß die USA kein Patent auf die Technik des künstlichen Winterschlafs gehabt hatten.
Und trotzdem sah sie Hartmann und die beiden anderen plötzlich mit ganz anderen Augen. Mit einem Mal verstand sie die Feindseligkeit und Verbitterung der drei Männer. Sie hieß sie nicht gut, aber sie begriff, was in ihnen vorging. Es waren die gleichen Gefühle, die auch sie kurz nach ihrem Erwachen gehabt hatte. Diese drei Männer kannten diesen Planeten, wie er vorher gewesen war. Sie kannten diese Stadt, bevor sie zerstört und in eine Hölle verwandelt worden war, sie kannten vielleicht jede einzelne Straße, jedes einzelne Gebäude dort draußen, und für sie mußte dieser Anblick ungleich erschreckender sein als für die anderen. Aber das Gefühl von Verständnis, mit dem Charity dieser Gedanke erfüllte, währte nur Augenblicke; dann machte es Zorn Platz.
»Ihr seid nicht allein, nicht wahr?« sagte sie. »Ich meine, irgendwo dort draußen gibt es wahrscheinlich eine ganze Bunkerfestung. Und ihr sitzt seit fünfzig Jahren dort, ausgerüstet mit allem, was ihr braucht, und bewaffnet bis an die Zähne und habt nichts anderes getan, als die Hände in den Schoß zu legen und zuzusehen, wie sie diesen Planeten Stück für Stück verändern.«
»Das ist nicht ganz richtig«, antwortete Hartmann ruhig.
»Oh, natürlich nicht!« sagte Charity spöttisch. »Wahrscheinlich habt ihr euch die Zeit damit vertrieben, gelegentlich Jagd auf diese armen Kerle da draußen zu machen.«
»Irrtum, Schätzchen«, sagte Lehmann böse. »Es ist umgekehrt: Die armen Kerle dort draußen machen Jagd auf uns.«
Charity funkelte den Soldaten wütend an, verbiß sich aber die scharfe Antwort, die ihr auf der Zunge lag. Sie spürte, daß sie die Kontrolle über sich verlieren würde, wenn sie auch nur ein weiteres Wort sagte. Außerdem wußte sie einfach zu wenig über die Situation hier, um sich wirklich ein Urteil erlauben zu können. Ohne Hartmann und seine beiden Begleiter noch eines weiteren Blickes zu würdigen, wandte sie sich mit einem Ruck von der Tür ab und ging zu Helen und Net hinüber, die sich um den verwundeten Techniker kümmerten.
Kyle hatte den Mann auf eines der Lumpenbündel gebettet, die überall auf dem Boden herumlagen. Er war ohne Bewußtsein, bewegte sich aber unruhig und redete im Fieber. Charity verstand nicht, was er sagte, denn anders als Hartmann und die beiden Soldaten sprach er nicht Englisch, sondern Deutsch, von dem sie nur einige Brocken verstand. Besorgt musterte sie das bleiche, schweißglänzende Gesicht des Mannes einen Moment und wandte sich dann mit einem fragenden Blick an Net. Die Wasteländerin sah sie einen Moment lang ernst an und schüttelte dann fast unmerklich den Kopf. Charity spürte erneut eine Woge heißen, hilflosen Zorns in sich aufsteigen. Es war ungerecht, daß dieser Mann, der ihnen vermutlich allen das Leben gerettet hatte, indem er zurückblieb, um den Tunnel zu sprengen, jetzt mit seinem eigenen Leben dafür bezahlen sollte.