»Ich bin ... Gyell«, sagte er. »Wir sind... Jared.«
Damit vollführte er mit der anderen Hand eine kreisende Bewegung, und endlich verstand Charity.
»Euer Volk nennt sich Jared«, vermutete sie. »Und wir sind die Blinden.«
Gyell nickte und schüttelte fast in der gleichen Bewegung den Kopf. Mit einem Lächeln, das bei der sonderbaren Leere seines Blickes eher erschreckend als beruhigend wirkte, deutete er auf Hartmann und seine beiden Begleiter. »Sie sind ... blind«, sagte er. »Ihr nicht.«
»Und ihr ... könnt diesen Mann retten?« fragte Charity zögernd. »Wenn ihr ihn zu einem der euren macht?«
»Er wird ... sehen«, bestätigte Gyell.
»Einen Moment!« sagte Hartmann scharf. Mit einem zornigen Schritt trat er neben Charity und machte eine herrische Handbewegung auf das Mädchen und den verwundeten Techniker.
»Ich werde ganz bestimmt nicht zulassen, daß ihr ihn zu einer ... Kreatur wie euch macht!«
Gyells leere Augen wandten sich Hartmann zu und musterten ihn auf eine Art, die Charity schaudern ließ. »Dann ... stirbt ... er«, sagte er ruhig.
»Das ist immer noch besser, als...«
»Halten Sie endlich den Mund, Hartmann!« unterbrach ihn Charity scharf. »Wollen Sie, daß der Mann stirbt?«
»Wollen Sie, daß er so wird wie diese...« Er suchte sichtlich nach Worten. »Diese Tiere!« stieß er schließlich hervor.
»Sie sind ein Narr, Hartmann«, sagte Kyle ruhig. »Ich weiß nicht, wer oder was diese Jared sind - aber sie sind ganz bestimmt keine Tiere. Selbst Sie sollten das mittlerweile erkannt haben.«
Hartmanns Gesicht färbte sich allmählich dunkelrot. Seine Hände ballten sich zu Fäusten, und eine Sekunde lang sah es so aus, als wolle er sich einfach auf den Megamann stürzen. Dann schürzte er trotzig die Lippen. »Ich verbiete es!« sagte er. »Dieser Mann untersteht meinem Befehl. Niemand wird ihn anrühren, solange ich es nicht ausdrücklich erlaube.«
»Ich glaube nicht«, sagte Charity ruhig, »daß Sie oder ich hier irgend etwas zu befehlen haben, Leutnant Hartmann.«
Hartmann antwortete nicht darauf, aber sie sah, wie Lehmann und nach kurzem Zögern auch Felss sich von ihren Plätzen lösten und neben den verletzten Techniker und das Mädchen traten. Felss wirkte unschlüssig und wich ihrem Blick aus, aber auf Lehmanns Gesicht lag ein grimmiger Ausdruck.
Charity musterte die beiden Soldaten eine Sekunde lang, dann drehte sie sich wieder zu Gyell herum, wobei sie Kyle und Skudder einen raschen Blick zuwarf. Die beiden verstanden und näherten sich dem Verletzten und dem Mädchen. Lehmanns Hand sank auf den Kolben der Pistole in seinem Gürtel herab und blieb darauf liegen, während Felss immer unglücklicher aussah und von einem Bein auf das andere zu treten begann.
»Helft ihm«, bat Charity Gyell. Dann wandte sie sich wieder an Hartmann. »Pfeifen Sie Ihre beiden Zinnsoldaten zurück, Leutnant Hartmann. Oder Sie werden sie verlieren.«
Vielleicht war es der ruhige, fast freundliche Ton ihrer Stimme, der Hartmann klarmachte, wie ernst sie ihre Worte meinte. »Also gut«, sagte er schließlich. »Diesmal haben Sie gewonnen, Captain Laird. Aber wir reden noch darüber. Und glauben Sie nicht, daß ich Angst vor Ihnen habe. Ich will nicht, daß diese Wilden sehen, wie wir uns streiten. Das ist alles.«
»Natürlich«, sagte Charity spöttisch.
Auf einen Wink Hartmanns hin zogen sich die beiden Soldaten wieder zurück, und auch Kyle und der Hopi traten wieder beiseite. Das Mädchen stand auf, und auf einen knappen Befehl Gyells hin trat der zweite Jared neben den Verletzten und trug ihn scheinbar mühelos aus dem Raum. Das Mädchen folgte ihm, während Gyell noch zurückblieb.
»Was werdet ihr mit ihm tun?« erkundigte sich Charity.
»Ihm geschieht ... nichts«, antwortete Gyell langsam.
»Bringt ihr ihn zurück?« fragte Charity.
Gyell antwortete nicht darauf.
10
Irgendwie brachte sie das Kunststück fertig, in dieser Nacht doch noch einige Stunden zu schlafen. Mit einem Ruck erwachte sie und sah sich um. Durch die Tür fiel noch immer der flackernde rote Schein der Feuer, die draußen in der Halle brannten, aber in dieses Licht hatte sich jetzt ein grauer Schimmer gemischt. Sie stand auf und fuhr mit einem leisen Schrecken zusammen, als sie sah, daß zwei Mitglieder ihrer Gruppe fehlten: Helen und Gurk.
»Was ist passiert?« fragte sie erschrocken.
Hartmann, der mit vor der Brust verschränkten Armen am Türrahmen lehnte und in den angrenzenden Kellerraum hinausstarrte, warf ihr einen abfälligen Blick zu.
»Ihre Freunde haben sie geholt«, sagte er.
»Gyell und das Mädchen«, erklärte Skudder. »Sie kamen vor einer Viertelstunde und haben mit Gurk gesprochen. Und dann sind Helen und er mit ihnen gegangen.«
Skudders Stimme klang sehr ernst, aber er machte auf Charity trotzdem nicht den Eindruck, daß er sich um Helen und den Zwerg sorgte. Offensichtlich spürte der Hopi wie sie, daß das Geheimnis, das die Jared zweifellos umgab, völlig anders war, als Hartmann und seine Männer glauben mochten.
Langsam trat sie neben den Leutnant und blickte in die Halle hinaus. Der riesige, unterirdische Saal war fast völlig verwaist. Einige Feuer brannten noch, aber bis auf eine Handvoll Männer und Frauen hatten alle Jared den Keller verlassen. Plötzlich kam eine Gestalt mit langsamen Schritten auf sie zu. Es war Gyell. Obwohl er nicht einmal in ihre Richtung gesehen hatte, wußte Charity, daß er nur auf ihr Erwachen gewartet hatte.
»Warum habt ihr mich nicht geweckt?« fragte sie.
Hartmann zog nur die Augenbrauen hoch und schwieg, und Skudder antwortete beinahe verlegen. »Du brauchst deinen Schlaf. Wir sind seit fast achtundvierzig Stunden auf den Beinen.«
Charity wollte etwas entgegnen, aber Gyell war bereits näher gekommen und hob die Hand, um ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Wortlos und mit knappen, aber eindeutigen Gesten forderte er sie und die anderen auf, zu ihm herauszukommen.
Sie durchquerten den Kellerraum und stiegen wieder nach oben. Das graue Zwielicht, das durch den halb verschütteten Eingang herabgefallen war, verwandelte sich langsam in das helle, klare Licht eines frühen Morgens. Plötzlich hörte Charity eine erstaunliche Vielfalt von Geräuschen: das Rauschen des Flusses, das Wispern des Windes in den Baumwipfeln, den Gesang von Vögeln und das seltsame vertraut klingende Bellen eines Hundes - aber auch fremdartige, fast unheimliche Laute, die sie nicht einordnen konnte. All ihre Sinne schienen mit einem Male viel schärfer zu arbeiten als noch am Abend zuvor. Sie hörte Skudders Atem hinter sich, die Schritte jedes einzelnen auf der Betontreppe, das leise Rascheln ihrer Kleidung und die metallischen Laute, die ihre Waffen verursachten. Und sie nahm Farben und Gerüche in einer Intensität wahr, wie sie es schon lange nicht mehr getan hatte. Verwirrt überlegte sie, ob es wirklich nur diese wenigen Stunden Schlaf gewesen waren, die ihre Sinne so geschärft hatten.
Sie blinzelte, als sie hinter Gyell ins Freie trat. Jetzt, im hellen Licht des Morgens, konnte sie sehen, daß der Eindruck, den sie am vergangenen Abend gehabt hatten, richtig gewesen war. Sie schienen sich inmitten einer Stadt der Jared aufzuhalten. Charity bemerkte Hunderte der struppigen Gestalten, aber es war die sonderbarste Siedlung, die sie je zu Gesicht bekommen hatte. Es gab eine Anzahl einfacher, aus Ästen und Blättern errichteter Hütten und einige wenige, niedrige Gebäude aus Stein und rostigem Wellblech. Die Jared hatte sich bemüht, so wenig wie möglich zu verändern und nichts zu zerstören. Die Hütten lehnten sich an den natürlichen Wuchs der Bäume an und folgten dem Verlauf des Bodens, der zum Fluß hin sanft abfiel.
Dann sah Charity den Schatten, drehte sich automatisch herum - und hielt überrascht den Atem an.