In der vergangenen Nacht hatte sie nichts als einen verschwommenen Umriß wahrgenommen, eine weitere Ruine in einer Stadt aus Trümmern, der sie kaum einen flüchtigen Blick geschenkt hatte, aber jetzt erkannte sie das Bauwerk als das, was es war: ein gigantischer Dom, dessen Doppelspitze sich Hunderte von Metern über den Fluß erhob.
Der riesige Keller, in dem sie übernachtet hatten, mußte sich unter seinen Fundamenten befinden.
»Das ist...«
»Der Dom«, sagte Hartmann.
Er seufzte. »Ich bin sicher, Sie haben selbst in den Staaten davon gehört. Irgendwie hat er die Invasion überstanden.«
Abgesehen von einigen kleinen Schäden, war die imposante Kathedrale tatsächlich unversehrt geblieben - ein absurder Anblick in einer ansonsten völlig zerstörten Stadt.
Gyell deutete heftig gestikulierend auf eine Stelle unweit des Flußufers, an der einige Jared um ein Feuer saßen, über dem sie auf großen metallenen Spießen Fleisch brieten. Sein Geruch war fremdartig, aber nicht unangenehm. Und er allein reichte aus, um sie daran zu erinnern, daß sie seit fast achtundvierzig Stunden nichts mehr gegessen hatte. Gyell mußte seine Einladung nicht wiederholen, als er sich an einen Platz am Feuer setzte und sich vorbeugte, um einen der Spieße aus den Flammen zu klauben.
Skudder, Net und Kyle folgten Charity, während Hartmann und seine beiden Begleiter unschlüssig in zwei Schritten Entfernung stehenblieben.
»Worauf warten Sie, Hartmann?« fragte Charity. »Sind Sie nicht hungrig?«
»Doch«, antwortete Hartmann.
»Dann essen Sie etwas«, sagte Charity.
Hartmann verzog nur trotzig das Gesicht, und Charity wandte sich mit einem Achselzucken um und griff dankbar nach dem Stück Fleisch, das ihr Gyell hinhielt.
Sein Aussehen war so fremdartig und beunruhigend wie sein Geruch, aber Charity biß entschlossen hinein. So seltsam das Stück Fleisch roch und aussah, so gut schmeckte es. Nach der ersten Sekunde vergaß sie all ihre Hemmungen und kaute genüßlich.
»Wissen Sie eigentlich, was Sie da essen?« fragte Hartmann hinter ihr.
»Nein«, antwortete Charity mit vollem Mund. »Und ich will es auch gar nicht wissen.«
Gyell blickte sie an, und für einen Moment glaubte sie, ein Lächeln in seinen Augen zu entdecken.
Sie aßen schweigend. Zu dem Fleisch reichte ihnen Gyell Obst und klares Wasser aus dem Fluß, das mit irgendeinem Gewürz versetzt zu sein schien, denn es schmeckte köstlich und hinterließ einen angenehmen Nachgeschmack auf ihrer Zunge.
Nach einer Weile hörte sie Schritte, und als sie aufsah, erkannte sie Helen und Gurk, die sich in Begleitung zweier erwachsener Jared und des blonden Mädchens vom vergangenen Abend dem Feuer näherten. Helen wirkte erschöpft, während auf Gurks faltigem Gesicht ein zutiefst verwirrter Ausdruck lag, der Charity beunruhigte. Aber sie beherrschte ihre Ungeduld und wartete geduldig, bis auch Helen und der Zwerg ihren ärgsten Hunger gestillt hatten.
»Wie geht es Stern?« fragte sie schließlich.
Helen sah sie an und fuhr sich müde mit dem Handrücken über die Augen. »Nicht gut«, sagte sie. »Aber ich glaube, er überlebt es.« Sie sah das Mädchen neben sich an.
»Sie hat ihm das Leben gerettet«, sagte sie leise. »Ich weiß nicht wie, aber sie hat es geschafft.«
Charity wandte sich an Gurk. Sie sagte nichts, aber der Zwerg spürte ihren Blick und ahnte, was sie ihn fragen wollte. Kauend bemerkte er: »Stimmt. Sie hat irgend etwas mit ihm gemacht.«
»Was meinst du damit?« fragte Skudder, der neugierig geworden war.
Gurk zuckte abermals mit den Achseln und verschlang ein Stück Fleisch, das so groß wie seine geballte Faust war.
»Euer Freund ... wird ... leben«, sagte Gyell, der zwar wie gewohnt vor sich hingestarrt, aber offensichtlich auch sehr aufmerksam zugehört hatte.
»Warum tut ihr das?« fragte Charity.
Gyell sah sie fragend an.
Charity deutete auf Hartmann, dann auf sich. »Sie haben uns erzählt, ihr wärt ... ihre Feinde.«
Gyell schüttelte langsam den Kopf. »Nein. Sie sind blind. Wir sehen. Sie sind unsere Feinde. Nicht wir ihre.«
Hartmanns Gesicht verdüsterte sich bei diesen Worten noch mehr, aber zu Charitys Erleichterung sagte er nichts, sondern blickte den Jared nur feindselig an.
»Aber der Angriff gestern abend«, fuhr Charity fort. »Ihr habt den Wagen mit Steinen beworfen und ... eine Falle gestellt.«
Gyell nickte. Sein Blick streifte Hartmann und blieb einen Moment an der Maschinenpistole über seiner Schulter hängen. Doch was Charity in Gyells Augen las, während er die Waffe betrachtete, war weder Zorn noch Furcht, sondern nur eine tiefe Mißbilligung. »Wir wehren uns«, sagte Gyell. »Sie greifen uns an. Wir vertreiben sie.«
»Blödsinn!« sagte Hartmann. »Wir...«
Charity brachte ihn mit einer hastigen Handbewegung zum Verstummen. »Du willst behaupten, ihr hättet sie niemals angegriffen?« vergewisserte sie sich.
Gyell schüttelte den Kopf und sagte: »Niemals.«
Hartmann lachte abfällig. »Sie haben nur drei unserer Basen überrannt und die Besatzung verschleppt; ein halbes Dutzend Wagen zerstört und den Großteil unserer Vorratsdepots geplündert. Aber sonst sind wir richtig gute Freunde, wissen Sie?«
»Du hörst, was er sagt«, sagte Charity.
»Willst du behaupten, daß er lügt?«
»Nein«, antwortet Gyell. »Er glaubt ... die Wahrheit ... zu sagen. Er ist blind. Wir sehen.«
»Was meinst du damit?« fragte sie.
Gyell lächelte. Aber es war ein Lächeln, das Charity einen eisigen Schauer über den Rücken laufen ließ. Mehr denn je hatte Charity plötzlich das Gefühl, einem Wesen gegenüber zu sitzen, dem menschliche Gefühle nicht fremd waren, dem sie aber nicht so viel bedeuteten wie ihr.
»Ihr seid ... anders ... als sie«, sagte Gyell und deutete auf Hartmann und die beiden Soldaten.
Charitys Blick folgte der Geste. Hartmanns Gesicht war völlig ausdruckslos, während Lehmann den Jared mit unverhohlenem Haß anstarrte. Felss hingegen blickte die Bratspieße über dem Feuer und das Fleisch daran an, und Charity konnte sehen, wie dem jungen Soldaten das Wasser im Munde zusammenlief. Er mußte ebenso hungrig und erschöpft wie sie selbst sein.
»Das stimmt«, antwortete sie. »Aber nicht so sehr, wie du glaubst.«
»Sie sind blind«, beharrte Gyell. »Auch ihr ... seid blind. Aber ihr ... könnt nicht ... sehen. Sie wollen nicht.«
Charity schüttelte hilflos den Kopf. »Ich verstehe nicht, was du meinst.«
Gyell machte eine hilflose Geste. »Du hast ... uns geholfen, Charity Laird«, sagte er.
Charitys Augen wurden groß. »Woher kennst du meinen Namen?« fragte sie. Sie war absolut sicher, daß keiner der anderen ihn ausgesprochen hatte, seit sie sich in der Gefangenschaft der Jared befanden.
Gyell überging die Frage. »Du hast auf die ... Ratten geschossen. Nicht ... auf uns.« Er hob wieder die Hand und deutete auf Hartmann. »Sie töten uns. Wir töten sie. Vielleicht können wir ... aufhören.«
»Wunderbar!« knurrte Hartmann. »Gleich wird er eine Friedenspfeife herausholen und sie stopfen.«
»Warum halten Sie nicht endlich den Mund?« fragte Charity matt.
Doch diesmal gehorchte Hartmann nicht. Im Gegenteil - seine Stimme wurde noch schneidender. »Wieso zum Teufel glauben Sie diesem Irren jedes Wort und uns überhaupt nicht?« fragte er. »Fragen Sie ihn, was sie mit all den Männern und Frauen gemacht haben, die sie verschleppen. Fragen Sie ihn, was sie mit Stern gemacht haben. Fragen Sie ihn, ob wir ihn wiedersehen werden!«
»Sehen wir ihn wieder?« fragte Charity den Jared.
Gyell schüttelte langsam den Kopf. »Nein«, antwortete er.
»Aber er wird leben?«
Der Jared nickte.
»Er wird sehen. Aber du ... hast meine Frage ... nicht beantwortete. Du hast ... die Eier ... gerettet. Du hast auf ... die Ratten geschossen, nicht ... auf uns. Warum?«