Charity schwieg einen Moment. Im Grunde war es nur ein bloßer Reflex gewesen, eine Handlung, die viel weniger von bewußtem Denken als vielmehr vom Instinkt geleitet gewesen war. »Sie sind nur Tiere«, antwortete sie schließlich.
Gyell schüttelte den Kopf. »Nein. Auch sie sehen.«
Charity blinzelte verwirrt. »Aber ihr habt sie gejagt.«
»Sie essen uns, wir essen sie«, antwortete Gyell. »Sie sehen. Wir sehen.« Er machte eine Kopfbewegung zu Hartmann hinauf. »Sie sind blind. Sie töten nur.«
Charity seufzte. »Ich fürchte, ich verstehe dich nicht«, gestand sie.
Gyell nickte, als hätte er keine andere Antwort erwartet. Mit einer erstaunlich fließenden, fast anmutigen Bewegung, die seinem zerlumptem Äußeren Hohn sprach, stand er auf und deutete auf die gewaltige Kathedrale hinter ihnen. »Komm mit«, sagte er. »Vielleicht wirst du dann ... verstehen.«
Charity und die anderen erhoben sich, und Gyell erhob auch keine Einwände, als sich auch Hartmann und seine beiden Begleiter ihnen anschlössen.
Sie näherten sich dem Dom, dessen gigantische Tore offenstanden. Als sie hindurchtraten, war Charity im ersten Moment beinahe blind, denn ihre Augen hatten sich an das grelle Sonnenlicht draußen gewöhnt. Ein kalter, sonderbar stechender Geruch schlug ihr entgegen und ließ sie frösteln, und sie nahm schattenhafte Bewegung in dem riesigen, gefliesten Innenraum vor sich wahr.
Neben ihr stieß Skudder plötzlich einen überraschten Ruf aus, und sie sah aus den Augenwinkeln, wie Hartmann zusammenfuhr und einer seiner beiden Soldaten erschrocken und in einer unbewußten Bewegung nach seiner Waffe griff.
Der riesige Innenraum war nicht leer. Von der ehemaligen Einrichtung war nichts mehr geblieben, aber auf dem gesprungenen Mosaikmuster des Bodens lagen Dutzende, wenn nicht Hunderte formloser, dunkler ... Dinge, die zu pulsieren und zu zittern schienen. Zahllose Jared bewegten sich zwischen diesen pulsierenden Klumpen hin und her, und hoch über ihren Köpfen, unter dem gewaltigen gotischen Spitzbogen des Daches...
Charity unterdrückte mit letzter Kraft einen erschrockenen Aufschrei. Was sie sah, war mit nichts zu vergleichen, was sie jemals zu Gesicht bekommen hatte. Ein Gespinst armdicker, glitzernder, grauer Fäden verwandelte das Dach des Domes in ein titanisches, zuckendes Spinnennetz, in dem sich zahllose dunkle Körper auf glitzernden Gliedern bewegten. Riesige Tropfen einer farblosen, zähen Flüssigkeit drohten herunter zu fallen, ohne sich wirklich zu bewegen. Einige Jared krabbelten emsig auf einem Gestell aus Stahlrohren auf und ab, das sich vom Boden bis unter die Decke spannte.
Und im Zentrum dieses riesigen Gespinstes hockte wie eine absurd große Spinne ein Ungeheuer.
Charity wußte, was sie vor sich hatte, und trotzdem war der Anblick fast mehr, als sie ertragen konnte.
Die Ameise war ein Gigant, dreißigmal so groß wie die Krieger und Arbeiterinnen, und mit einem unförmig aufgedunsenen Leib und riesigen Augen, die voller kalter, berechnender Bosheit auf Charity und die anderen herunterstarrten, die es wagten, in ihr Reich einzudringen. Ihr unförmiger, aufgequollener Hinterleib befand sich in beständiger, pumpender Bewegung und stieß glitzernde Kokons aus; große Eier, unter deren durchsichtiger Oberfläche sich zusammengekrümmte, spinnengliedrige Körper bewegten.
»Das Nest!« murmelte Hartmann. »Verdammt, ich wußte, daß es ein zweites gibt.«
»Habt keine Angst«, sagte Gyell, der ebenfalls stehengeblieben war. »Euch wird nichts ... geschehen.«
Charity schluckte mehrmals, um den bitteren Kloß loszuwerden, der plötzlich in ihrem Hals saß. Sie glaubte Gyell.
Selbst wenn dieses gigantische Monster gewollt hätte - sie war gar nicht in der Lage, ihnen irgend etwas zu tun. Ihre Beine, so riesenhaft sie auch waren, waren viel zu schwach, um den aufgeblähten Hinterleib zu tragen. Das riesige Netz, in dem sie hockte, glich einem Gefängnis, das sie Zeit ihres Lebens nicht mehr verlassen würde. Aber der bloße Anblick dieses Ameisen-ungeheuers lahmte sie.
Seit sie den Schlaftank unter den nordamerikanischen Bergen verlassen hatte, hatte sie sich so oft unter den Invasoren von Moron bewegt, daß ihr Empfinden für die Fremdartigkeit dieses Insektenvolkes abgestumpft war. Aber jetzt war es wieder da, stärker und bedrückender denn je. Sie hatte das Gefühl, nicht mehr atmen zu können. Jeder Mut, jede Kraft schien sie verlassen zu haben. Sie wollte nur noch herumfahren und aus diesem gräßlichen Gebäude stürzen.
»Kommt«, sagte Gyell noch einmal. »Ihr habt nichts zu befürchten.«
Fast beiläufig registrierte Charity, daß er plötzlich schneller und flüssiger sprach, fast als lerne er seine Sprache neu.
Zögernd gingen sie ein paar Schritte weiter, dann blieb Felss plötzlich stehen und deutete mit ausgestrecktem Arm und ungläubig aufgerissenen Augen auf eine der heruntergekommenen Gestalten, die sich zwischen den vibrierenden Eierkokons auf dem Boden bewegte. »Roland!« rief er überrascht aus. »Das ist Roland, Herr Leutnant! Sehen Sie doch!«
Hartmanns Blick folgte dem ausgestreckten Arm des jungen Soldaten. Einen Moment lang sah er die verdreckte Gestalt stirnrunzelnd an, auf die Felss deutete, dann schüttelte er den Kopf. »Nein«, antwortete er. »Das ist er nicht. Sie täuschen sich.«
»Aber...«
»Sie irren sich, Felss«, sagte Hartmann noch einmal mit harter Stimme, so daß Felss nicht wagte, ihm zu widersprechen.
Aber Charity fühlte, daß Hartmann log. Auch er hatte den Mann erkannt, auf den Felss gedeutet hatte. Während sie weitergingen, betrachtete sie die schlanke Gestalt aufmerksam. Der Mann unterschied sich nicht von den anderen Jared. Auch sein Haar war lang und verfilzt, auch sein Gesicht war fast völlig unter einem struppigen Bart verschwunden, und auch er war in Fetzen gekleidet, allerdings in die Fetzen einer hellgrünen Uniform. Sein Blick aber war leer, und in seinen Augen war kein Erkennen, als er aufsah und die vorübergehende Gruppe musterte.
Charity atmete erleichtert auf, als sie das Kirchenschiff durchquert hatten und einen kleineren Raum betraten. Wozu er einmal gedient hatte, war nicht mehr festzustellen, denn seine gesamte Einrichtung war entfernt worden. Die Wände waren völlig unter einem Muster aus rankenden Pflanzen und den gleichen, grauschwarzen Fäden verborgen, die auch das Netz der Ameisenkönigin bildeten. Als Charity versehentlich einen dieser Stränge berührte, stellte sie überrascht fest, daß er sich warm und lebendig anfühlte, obwohl er schleimig und kalt aussah.
Als sie den Raum durch eine rückwärtige Tür wieder verlassen wollten, sah sie etwas, das sie abermals entsetzt stehenbleiben ließ.
In einem Winkel neben der Tür lag eine Gestalt: ein gewöhnlicher Jared mit Armen und Schultern, doch von den Hüften abwärts begann sich sein Körper zu verändern. Seine Haut war rissig und hart geworden, wie schwarzes Hörn, das unter Hammerschlägen zerborsten war. Aus seiner rechten Hüfte wuchs ein dicker, pulsierender Strang, der mit dem lebenden Netz an den Wänden verbunden war, und seine Unterschenkel waren vollständig unter der grauen, pulsierenden Masse verschwunden.
Neben ihr schlug Hartmann entsetzt die Hand vor den Mund. Er begann krampfhaft zu schlucken, als kämpfe er mit aller Macht dagegen an, sich übergeben zu müssen. Felss stieß einen würgenden Laut aus und drehte sich mit einem Ruck um, und selbst Skudder fuhr zusammen und erblaßte. Nur Gurk und Helen zeigten keine sichtbare Reaktion.
»Gott im Himmel!« stieß Hartmann schließlich hervor. »Was ... was ist hier passiert?«
»Es ist nicht das, was ... ihr glaubt«, antwortete Gyell, wobei er aber nicht Hartmann, sondern Charity ansah. Er machte eine einladende Geste auf die Tür hinter sich. »Kommt mit. Dann werdet ihr ... begreifen.«