Gurk betrachtete sie mit gerunzelter Stirn, dann lachte er leise. »Du bist vielleicht ein Herzchen«, sagte er. »Wir haben keine Ahnung, ob wir die nächsten fünf Minuten überleben, und du hast Angst, daß ihm ein Stein auf den Zeh gefallen ist.«
Helen ignorierte den beißenden Spott in Gurks Worten und sah fragend zu dem Zwerg auf. »Was ist dort oben passiert?«
»Woher soll ich das wissen?« antwortete Gurk grob. Trotzdem legte er den Kopf in den Nacken und blickte die Decke aus eng zusammengekniffenen Augen an, als könne er die Antwort auf Helens Fragen dort ablesen.
»Vielleicht ist der ganze Schuppen in sich zusammengebrochen«, sagte er schließlich. »Oder Stones Kanoniere haben endlich unsere neue Adresse herausgefunden und versucht, der Sache ein für allemal ein Ende zu machen. Aber sie haben es wieder einmal verbockt.«
Helen erschrak. Auf den Gedanken, daß die Moroni vielleicht ein neuen Atombombenangriff geflogen waren, war sie bisher nicht einmal gekommen. Dabei sprach einiges dafür: die fürchterliche Explosion, das Beben, die entsetzliche Hitze, die durch den meterdicken Stein zu ihnen herabgedrungen war...
Sie weigerte sich, den Gedanken zu Ende zu denken.
»Wir sollten versuchen, irgendwie herauszukommen«, sagte Gurk. Mißmutig betrachtete er die wenigen überlebenden Jared, die sich zwar wieder auf die Füße erhoben hatten, aber mit leeren Gesichtern und ausdruckslosen Augen herumstanden, als hätten sie überhaupt nicht begriffen, was geschehen war.
»Ich schätze«, sagte Gurk, »von den Wilden haben wir nicht viel Hilfe zu erwarten.« Er legte den Kopf schräg und sah Helen fragend an. »Kannst du graben?«
»Wieso?«
Gurks übergroßer Kahlkopf deutete auf den Eingang, der unter einer Lawine von Steinen und Erdreich verschwunden war. »Weil wir das Zeug da irgendwie zur Seite schaffen müssen«, antwortete er. »Ich weiß ja nicht, wie es dir geht - aber ich habe keine Lust, zu warten, ob sie uns herausholen oder nicht.«
Helen betrachtete den verschütteten Eingang einen Moment lang. Sie glaubte nicht, daß sie es schaffen würden, den Eingang frei zu legen. Trotzdem stand sie auf und folgte Gurk.
Nachdem sie sich davon überzeugt hatten, daß die Decke nicht bei der geringsten Erschütterung vollends zusammenbrechen würde, begannen sie vorsichtig damit, größere Steine und Felsbrocken beiseite zu rollen. Sie kamen überraschend gut voran. Schon nach einer Stunde hatten sie den Schuttberg so weit abgetragen, daß sie die Tür sehen konnten - und Helen registrierte erleichtert, daß der Treppenschacht hinter der geborstenen Eichentür nicht verschüttet war. Von oben drang flackernder Feuerschein herab.
Sie arbeiteten weiter, bis sie auf einen Balken stießen, der gut drei Meter lang war und eine halbe Tonne wiegen mußte. So sehr sie sich anstrengten, es gelang ihnen nicht, ihn auch nur ein winziges Stück von der Tür fort zu zerren. Gurk richtete sich ächzend auf und betrachtete das halbe Dutzend Jared, das ihrem Tun teilnahmslos zusah. »He, ihr stummen Idioten«, keifte er, »wie war's, wenn ihr aufhört, uns anzugaffen und euch ein wenig nützlich macht? Ihr konntet zum Beispiel...« Gurk brach überrascht mitten im Satz ab, als die Jared wie auf ein gemeinsames Kommando hin aus ihrer Starre erwachten. Wortlos, aber mit einer Kraft, die den Gnom erstaunte, stürzten sie vor und begannen gemeinsam, an dem Balken zu zerren. Selbst einige der schwerer verletzten Jared versuchten, auf Händen und Knien zu ihnen zu kriechen, um ihren Kameraden zu helfen.
Gurk trat kopfschüttelnd einen Schritt zurück. »Was ist denn plötzlich in sie gefahren?« wunderte er sich.
»Ich weiß es nicht«, murmelte Helen. »Aber irgend etwas ... stimmt hier nicht.«
Von einem neuerlichen Schrecken erfüllt, sah sie sich um. Nichts in dem kleinen Kellerraum hatte sich verändert, und doch glaubte sie eine Bedrohung, eine unsichtbare Gefahr zu fühlen.
»Hier stimmt etwas nicht«, sagte sie noch einmal. »Komm! Wir müssen hier raus!«
Sie traten zwischen die Jared und halfen ihnen, den Balken von der Tür weg zu zerren.
Doch obwohl sie mit gemeinsamen Kräften arbeiteten, schafften sie es nicht, aus dem Keller herauszukommen.
Aber dafür kam etwas zu ihnen herein.
13
Auf Hartmanns Befehl hin hatten sie noch gute zehn Minuten abgewartet, ehe die drei Helikopter weitergeflogen waren; sehr tief und so schnell, daß es Charity unmöglich war, die Entfernung zu schätzen, die sie in der folgenden Viertelstunde zurücklegten. Außerdem änderten die Maschinen ständig ihren Kurs und flogen einige großräumige Ausweichmanöver, wenn auf den Radarschirmen Moroni-Gleiter auftauchten.
Die Landschaft wurde hügeliger, nachdem sie das Gebiet der Stadt verlassen hatten. Bald tauchten die ersten Wälder unter ihnen auf, zwischen denen gelegentlich die Ruinen kleinerer Städte vorüberhuschten. Schließlich steuerten die Helikopter auf ein silbernes Funkeln zu, das rasch zu einem kleinen See heranwuchs. Die Maschinen wurden schließlich langsamer. Der Orkan der wirbelnden Rotorblätter peitschte das Wasser, während die drei Helikopter allmählich tiefer sanken. Als sich die Maschinen noch zehn Meter über dem Wasser befanden, sah Charity Hartmann besorgt an.
»Erzählen Sie mir nicht, daß die Dinger auch tauchen können«, sagte sie.
Hartmann lächelte geheimnisvoll. »Lassen Sie sich überraschen«, antwortete er.
Doch noch ehe sie eine weitere Frage stellen konnte, hatten die Maschinen das Wasser berührt - und glitten widerstandslos hindurch.
Für eine Sekunde sah Charity nichts, außer silberne Schleier, die an der Kanzel des Helikopters vorbeizogen, und sie mußte all ihre Willenskraft aufbieten, um nicht in Panik zu geraten.
Dann erlosch das verwirrende Flirren, und sie erkannte, daß sich die Maschine nicht unter Wasser befand. Unter ihnen erstreckte sich der schwarze Lava-Trichter des Sees, auf dessen eingeebnetem Grund eine ganze Anzahl weiterer Stealth-Copter abgestellt war.
Überrascht hob Charity den Kopf und blickte auf. Über ihnen erstreckte sich ein weiteres Flimmern, das sich ihren Blicken immer wieder zu entziehen schien. »Eine ... Holographie?!« murmelte sie erstaunt.
Hartmann nickte. »Perfekt, nicht wahr? Wir haben verdammt lange daran gearbeitet, das System so zu vervollkommnen, aber es hat sich gelohnt.«
Verblüfft beugte Charity sich über die Schulter des Piloten, um mehr erkennen zu können. Der Krater war ungefähr eine halbe Meile tief; sein Boden bestand aus der gleichen schwarzen Lava wie die Wände, war aber sorgsam geglättet. Zwischen den im Halbkreis abgestellten Helikoptern bewegte sich eine Anzahl winziger Gestalten, die hastig beiseite rannten, um nicht vom Wirbeln der Rotoren von den Füßen gerissen zu werden. Auf der offenen Seite des Halbkreises, den die Maschinen bildeten, führte ein gewaltiges, zweiflügliges Stahltor tiefer in die Erde hinein. Rechts und links davon erkannte Charity eine Anzahl halbrunder Betonkuppeln, aus denen die Läufe großer Laserwaffen ragten. Der vermeintliche See war nicht nur ein geheimer Helikopterhangar, sondern auch eine Festung.
Der Helikopter setzte mit einem leichten Ruck auf. Die große Tür an der Seite der Maschine glitt summend auf, und Hartmann machte eine einladende Handbewegung, schüttelte aber den Kopf, als Charity sich umwenden und zu Skudder zurückgehen wollte. »Man wird sich um Ihren Freund kümmern«, sagte er. »Er wird sofort zu Ihnen gebracht, sobald er das Bewußtsein zurückerlangt, darauf gebe ich Ihnen mein Ehrenwort.«
Mit einem beruhigenden Blick in Nets Richtung stieg Charity schließlich aus. Die Männer, die vor dem landenden Helikopter zurückgewichen waren, kehrten zurück. Charity fiel auf, daß sie ausnahmslos recht jung waren; keiner von ihnen war älter als Felss oder Lehmann. Sie waren alle sehr groß und breitschultrig und bewegten sich sehr hastig. Ihnen allen schien eine sonderbare Spannung anzuhaften, fast als wäre die Landung der drei Helikopter etwas, das sie vielleicht schon tausendmal geübt, aber niemals wirklich erlebt hatten.