»Was ist mit Ihrer Freundin?« fragte Hartmann. »Kommt sie nicht mit?«
Charity schüttelte den Kopf. »Nein. Sie möchte ... bei Skudder bleiben.«
Hartmann lachte leise. »Ich verstehe Ihr Mißtrauen, Captain Laird. Aber glauben Sie mir, es ist durch und durch unberechtigt.«
Sie näherten sich dem Panzertor, das sich einen Spaltbreit öffnete, als sie noch fünf Schritte davon entfernt waren. Charity tat so, als bemerke sie es nicht, aber ihr entging keineswegs, daß eine der Laserkanonen ihren Bewegungen lautlos folgte. Der Mann an den Kontrollen dieser Waffe, dachte Charity spöttisch, mußte sehr mißtrauisch sein - und ein kompletter Idiot. Wenn er diese Kanone hier abfeuerte, dann würde sich dieser getarnte Hangar in einen wirklichen Vulkan verwandeln.
Bevor sie das Tor durchschritten, blieb Hartmann stehen und streckte die Hand aus. »Dürfte ich Sie um Ihre Waffe bitten, Captain Laird?« fragte er.
»Wie bitte?« fragte Charity überrascht.
Hartmann zuckte bedauernd mit den Schultern. »Vorschriften - Sie kennen das ja.«
»Nein«, antwortete Charity ruhig, »das kenne ich nicht. Gehört bei Ihnen zu den Vorschriften, Verbündete zu entwaffnen?«
»Eigentlich nicht«, gestand Hartmann, »aber die ganze Anlage wird von einem Computer überwacht, der leider starrsinnig ist. Er glaubt nicht so ohne weiteres, daß Sie zu uns gehören.«
Charity war zu erschöpft, um sich auf einen weiteren Streit mit dem Leutnant einzulassen. Mit einem resignierenden Seufzer nahm sie das Gewehr von den Schultern und reichte es einem der Soldaten, die Hartmann und sie begleiteten.
Sie durchschritten das Tor, hinter dem sich ein halbrunder, vielleicht hundert Meter langer Gang aus nacktem Beton erstreckte. Er war groß genug, auch den Helikoptern Platz zu bieten, sollte ein Notfall es erfordern.
»Was ist das hier?« fragte sie, während sie sich neugierig umsah.
»Das, wonach dieser Stone und seine Kreaturen gesucht haben«, antwortete Hartmann. »Erinnern Sie sich noch, was Sie mir gestern erzählten? Von SS01, dem Bunker in Amerika, aus dem Sie kommen?«
Charity nickte, und Hartmann verschränkte die Hände hinter dem Rücken und ging mit leicht vorgebeugten Schultern neben ihr her, während er weitersprach. »Sie haben ganz recht mit Ihrer Vermutung, Captain Laird. Das hier ist das deutsche Gegenstück, eine Bunkeranlage, in die sich die Regierung und wichtige Persönlichkeiten zurückziehen konnten, wäre es jemals zu einem nuklearen Krieg gekommen.«
Charity sah sich mit unverhohlenem Zweifel in dem gewaltigen Gang um. »Ein wenig groß für einen Regierungsbunker, nicht wahr?«
Hartmann nickte. »Die gesamte Anlage ist auch weit mehr. Wir können ein Jahrhundert hier unten durchstehen, wenn es sein muß.«
»Und ich vermute, Sie haben auch genug Waffen, um danach den Rest der Welt zurückzuerobern - oder das, was davon übrig ist«, sagte Charity.
Hartmann runzelte die Stirn, als wäre er sich nicht ganz darüber im klaren, wie sie diese Worte meinte. Dann grinste er plötzlich. »Vielleicht«, sagte er knapp.
Sie hatten das Ende des Tunnels erreicht, und Charity erlebte eine neuerliche Überraschung. Sie hatte ein Gewirr von Gängen und Katakomben erwartet, wie es SS01 in den amerikanischen Rocky Mountains gewesen war, aber vor und unter ihr erstreckte sich eine gewaltige Höhle, die offenbar natürlichen Ursprungs war. Eine Unzahl riesiger Natriumdampflampen tauchten sie in blendende Helligkeit. Auf dem Boden der Höhle erhob sich eine Stadt aus unterschiedlich großen Gebäuden, die aus gleichförmigen Kunststoffteilen errichtet war. Manche Bauwerke waren kaum größer als ein Einfamilienhaus, andere wiederum gewaltige Hallen, groß genug, ein Flugzeug aufzunehmen. Hunderte von Gestalten in grünen Uniformen bewegten sich zwischen diesen Gebäuden, dazwischen flitzten winzige Elektrowagen hin und her, wie summende kleine Insekten, die geschäftig ihrer Wege gingen.
»Beeindruckend, nicht wahr?« fragte Hartmann stolz.
Charity nickte widerwillig. Die unterirdische Station war nicht halb so groß wie SS01, aber während die amerikanische Anlage ein unterirdisches System von Kammern und endlosen Gängen und Treppen gewesen war, in denen man tagelang herumirren konnte, war diese Basis eine wirkliche Stadt, die man eine Meile weit unter die Erde gebaut hatte.
»Wie viele Männer haben Sie hier?« fragte Charity.
»Ich fürchte, zu viele«, sagte Hartmann.
»Wie meinen Sie das?«
»Sie werden es bald verstehen«, antwortete Hartmann ausweichend. Er machte eine einladende Handbewegung auf einen offenen Lastenaufzug, der zum Boden der Höhlenstadt herabführte. »Kommen Sie. Ich stelle Sie Generalmajor Krämer vor, unserem Kommandanten. Er erwartet Sie bereits.«
*
Der Laserstrahl hatte ihn getroffen und zu Boden geschleudert, und er hatte - ungewöhnlich genug - für Minuten das Bewußtsein verloren. Zwar brachte Kyle es fertig, den Schmerz abzuschalten und die Blutung zu stillen, doch war es ihm nicht mit gewohnter Schnelligkeit gelungen, die Wunde in seiner Schulter zu schließen. Seine Zellen regenerierten sich längst nicht so schnell, wie es notwendig gewesen wäre. Er hatte zehn Minuten gebraucht, bis er wieder soweit bei Kräften war, daß er aufstehen konnte.
Vielleicht verlor er seine schier übermenschlichen Fähigkeiten allmählich, dachte er. Vielleicht hatten sie während seiner Gefangenschaft in Paris irgend etwas mit ihm getan, das ihn vom Übermenschen wieder zu einem ganz normalen Mann werden ließ. Voller plötzlichem Schrecken begriff Kyle, daß er kaum mehr in der Lage sein würde, einen Kampf mit einem anderen Megamann zu bestehen.
Eine Bewegung bei den gelandeten Gleitern riß ihn aus seinen Gedanken. Kyle erhob sich vorsichtig hinter seiner Deckung und spähte zu den silbernen Flugscheiben hinüber. Es waren fünf, drei kleinere Jagdschiffe, wie sie sie aus Paris her kannten, und zwei größere, mattgraue Kriegsschiffe. Es war das erste Mal, daß Kyle einen dieser Zerstörer aus der Nähe sah. Aber während seiner Ausbildung zum Megakrieger hatte er genug über sie gelernt, um zu wissen, daß ein einziges Kriegsschiff in der Lage war, eine Stadt in Schutt und Asche zu legen.
Kyles Blick löste sich von den gelandeten Schiffen und wanderte zum Dom hinüber. Nachdem die Flammen erloschen waren und sich der Rauch verzogen hatten, konnte man sehen, daß das riesige Gebäude weniger schwer beschädigt worden war, als es im ersten Moment den Anschein gehabt hatte. Ein Teil des Daches war eingestürzt, und einer der beiden großen Türme hatte einen Riß bekommen, ansonsten hatte der Titan aus Stein den Explosionen getrotzt. Hunderte von Jared und eine Unzahl von Ameisen bewegten sich zwischen den Trümmern hin und her. Während die Jared damit beschäftigt waren, ihre verwundeten Kameraden zu versorgen, bildeten die Ameisen eine Kette zwischen dem zerborstenen Tor und den Gleitern. Schnell und mit der Präzision von Maschinen reichten sie die Eierkokons weiter, die den Raketenangriff des Helikopters überstanden hatten.
Kyle war sehr sicher, daß diese Eier der einzige Grund waren, aus dem er und alle anderen hier überhaupt noch lebten. Hätte es die ungeschlüpfte Brut nicht gegeben, deren Schutz absoluten Vorrang hatte, dann hätten die Piloten der beiden Kampfschiffe keine Sekunde gezögert, den Angriff auf den Gleiter mit gnadenloser Härte zu bestrafen. Es gehörte zur Taktik Morons, jeden Widerstand im Keim zu ersticken.
Kyle lauschte einen Moment in sich hinein und stellte fest, daß sich sein Körper weiter von den erlittenen Verletzungen erholt hatte. Behutsam veränderte er sein Aussehen und paßte auch Farbe und Aussehen des Chamäleon-Anzugs der zerfetzten Lumpenkleidung der Jared an, bis ihn äußerlich nichts mehr von einem der Barbaren unterschied. Es fiel ihm noch immer schwer, sich zu bewegen, als er hinter seiner Deckung hervortrat, aber das war im Moment eher von Vorteil. Viele der Jared, die den Platz vor dem Dom bevölkerten, waren verwundet, so daß ein weiterer, humpelnder Mann zwischen ihnen kaum mehr auffallen konnte.