Kyle traten Tränen in die Augen. Zärtlich nahm er Helen in die Arme, berührte ihr Gesicht und schloß ihre Augen. Die Wunde in Helens Kehle sah winzig aus, fast lächerlich gegen die tiefen Biß- und Rißwunden, die Gurk und die Jared davongetragen hatten. Und es kam Kyle so ungerecht vor, so grausam - von ihnen allen hatte dieses Mädchen am wenigsten mit ihrem Krieg gegen Stone und seine Heerscharen zu tun. Warum mußte sie sterben?
Als er den Blick nach einer Weile wieder hob, bemerkte er, daß Gyell und andere Jared das Gewölbe betreten hatten und begannen die Körper ihrer toten oder verletzten Kameraden herauszutragen. Ihre Bewegungen waren dabei so präzise und zugleich teilnahmslos, daß sie fast an Maschinen erinnerten.
Gyells Blick glitt über Helens reglose Gestalt. Dann sah er den Megamann an. »Willst du, daß sie lebt?«
Kyle hörte, wie Gurk neben ihm scharf die Luft einsog. Einen Herzschlag lang starrte er den Jared mit einer Mischung aus Unglaube und Schrecken an, dann sah er auf den verletzten Techniker herab. So entsetzlich der Anblick war, der Mann lebte, auf eine andere, völlig unbegreifliche Art zwar, aber er lebte.
Ohne ein Wort hob Kyle Helen auf, und Gyell interpretierte sein Schweigen als die Zustimmung, die es darstellte.
14
Generalmajor Krämer war ein kleiner, untersetzter Mann mit grauen Haaren. Er trug eine maßgeschneiderte Uniform, aber die Art, auf die er sich bewegte, ließ sie trotzdem so aussehen, als wäre er in den Anzug seines großen Bruders geschlüpft. Seine Stimme war leise und hätte angenehm geklungen, hätte er nicht die Angewohnheit gehabt, sich mit knappen, fast abgehackt wirkenden Sätzen auszudrücken.
Allerdings hatte Charity selbst fast die meiste Zeit geredet; die gleiche Geschichte, die sie seit ihrem Erwachen schon unzählige Male erzählt hatte und die Krämer garantiert bereits kannte, denn er hatte das Gespräch gleich mit der Bemerkung eröffnet, daß Leutnant Hartmann ihn bereits über Funk über das Wichtigste informiert hatte. Trotzdem hatte er aufmerksam zugehört, während sie ihm erzählte, was sie seit ihrem Erwachen in den Ruinen von SS01 erlebt hatte.
»... und jetzt sind wir hier«, schloß Charity. »Ich kann nicht unbedingt sagen, daß mich die Art Ihrer Einladung besonders erfreut hat.«
»Die äußeren Umstände waren unglücklich«, gestand Krämer. Er warf Hartmann, der hinter Charity stand, einen Blick zu. »Ist es wahr, was Captain Laird über Lehmann sagt?«
Hartmann antwortete mit einem knappen »Ja.«
»Dann verhaften Sie ihn«, sagte Krämer.
Hartmann wollte widersprechen. »Aber...«
»Er steht unter Arrest«, unterbrach ihn Krämer. »Sobald ich Zeit dazu finde, wird er sich vor mir persönlich verantworten müssen. Ich lasse keine Selbstjustiz in meiner Truppe zu.«
»Wahrscheinlich hat er einfach die Nerven verloren«, hörte sich Charity fast zu ihrer eigenen Überraschung sagen. »Es ging alles so furchtbar schnell und ... er war sehr nervös.«
Krämer zog überrascht die Augenbrauen zusammen. »Sie verteidigen ihn?« fragte er. »Das überrascht mich. Er hat einen Ihrer Freunde erschossen.«
Charity schüttelte den Kopf. »Kyle ist nicht tot«, sagte sie leise. Einige Sekunden lang blickte Krämer sie nachdenklich an, dann wedelte er mit der Hand, um Hartmann fortzuschicken, und stand mit einem Ruck auf. Charity unterdrückte ein Lächeln, als sie sah, daß Krämer dadurch kleiner wurde. Er war kaum größer als Gurk, offenbar hatte er auf einem sehr hohen Stuhl gesessen.
»Ich nehme an«, begann er, nachdem Hartmann sie alleingelassen hatte, »Sie und Ihre Freunde erwarten jetzt Hilfe von uns.«
Charity zögerte einen Moment, dann schüttelte sie den Kopf. »Eigentlich nicht«, sagte sie.
Krämer blickte sie mit einem Ausdruck leichter Überraschung, aber auch deutlicher Erleichterung an. »Nein?«
»Das alles hier ist ... sehr beeindruckend«, antwortete Charity zögernd. »Aber ich vermute, wenn Sie die Macht hätten, die Moroni zu schlagen, hätten Sie es bereits getan.«
»Das stimmt«, bestätigte Krämer. »Ich schätze, wir können ihnen einen Denkzettel verpassen, an den sie sich noch in hundert Jahren erinnern, aber wir können sie nicht besiegen.« Er seufzte hörbar. »Wir haben fünfzig Jahre hier überstanden, aber wissen Sie auch warum? Weil wir uns ganz ruhig verhalten haben.«
»Aber Hartmann sagte...«
Krämer unterbrach sie. »Hartmann denkt, was er denken soll, Captain Laird. Er denkt, wir hätten eine Chance. Er denkt, wir brauchten nur lange genug abzuwarten, bis irgendwann der Tag kommt, an dem wir es ihnen zeigen.«
»Aber der wird nicht kommen«, sagte Charity.
Krämer nickte. »Es ist nichts als ein Spiel, Captain Laird. Wir schießen ab und zu einen von ihren Gleitern ab, und sie erwischen ab und zu eine von unseren Außenstationen oder eine Patrouille.«
»Ein sonderbares Spiel«, sagte Charity düster.
»Aber es funktioniert«, widersprach Krämer. »Und solange wir uns an die Regeln halten, tun sie es auch. Wir sind hier unten sicher, solange wir ihnen keinen zu großen Schaden zufügen. Ich bin nicht sehr glücklich über das, was in Köln geschehen ist, glauben Sie mir. Und nicht nur wegen Ihrer Freunde. Sie hätten das Nest nicht zerstören dürfen. Aber ich kann die Piloten verstehen. Wenn überhaupt, dann war es mein Fehler.«
»Wieso?«
»Ich sagte doch bereits, es ist ein Spiel. Aber wenn diese Königin tot ist oder stirbt, dann werden sie es nicht mehr dabei belassen, ein paar von unseren Patrouillen aufzulauern. Sehen Sie - wir sitzen hier isoliert vom Rest der Welt. Wir wissen lediglich, was sich unmittelbar in unserer Nähe abspielt, ansonsten haben wir über die Welt nur wenig Informationen.«
»Aber Sie wußten, daß es diese zweite Königin gibt?«
Krämer nickte. »Das ja«, antwortete er. »Aber wir wußten nicht wo. Meine Männer haben die letzten zehn Jahre nach ihrem Nest gesucht.«
»Aber wozu?« wunderte sich Charity. »Wenn Sie ohnehin nicht vorhatten...«
»Irgendeine Aufgabe brauchen sie, oder?« unterbrach sie Krämer. »Sie sind Soldaten, Captain Laird, und Soldaten brauchen eine Aufgabe. Sie können einen Mann nicht irgendwo hinsetzen und im Ernst von ihm verlangen, daß er ein Jahr lang die Hände in den Schoß legt. Nicht, wenn Sie sich nach diesem Jahr noch auf ihn verlassen wollen.«
»Doch was geschieht jetzt mit uns?« fragte Charity unvermit telt. »Mit Skudder, Net und mir?«
»Geschehen?« Krämer klang ehrlich verwundert. »Nichts«, sagte er. »Ich sagte Ihnen bereits - die Männer waren ein wenig übereifrig. Wenn Sie wert darauf legen, entschuldige ich mich offiziell für ihr Verhalten. Sie und Ihre Begleiter sind unsere Gäste, solange Sie wollen. Sie können bleiben - oder gehen.«
»Aber wir haben keine Hilfe von Ihnen zu erwarten«, vermutete Charity.
»Das kommt darauf an, was Sie unter dem Wort Hilfe verstehen«, antwortete Krämer. »Ausrüstung, Waffen, Verpflegung haben wir genügend, aber mehr können wir Ihnen nicht anbieten.«
»Das heißt, Sie wollen weitere fünfzig Jahre hier sitzen und abwarten, was geschieht?«
»Wenn es sein muß, auch fünfhundert«, antwortete Krämer ungerührt. »Obwohl ich es dann nicht mehr sein werde, der hier sitzt.«
»Das stimmt«, erwiderte Charity bissig. »Wahrscheinlich wird es eine zwei Meter große Spinne sein. Oder ein intelligenter Riesenskorpion.« Sie machte eine ärgerliche Handbewegung, als Krämer auffahren wollte. »Ich verstehe Sie ja. Aber sehen Sie, ich war dort draußen. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, was sie mit diesem Planeten machen. Und ich gebe Ihnen mein Wort darauf, daß sie sich nicht damit zufriedengeben, ihn erobert zu haben. Sie verändern ihn. Sie haben bereits damit begonnen.«