Skudder warf Charity einen spöttischen Blick zu. »Diese ganze Anlage ist ein einziges riesiges Gefängnis. Ich komme mir vor wie lebendig begraben.«
Sie verstand sehr gut, was er meinte. Doch trotz der unglücklichen Umstände ihrer Ankunft war ihr Aufenthalt in dieser Station doch so etwas wie eine Heimkehr für sie. Für Skudder hingegen mußte es alles neu und erschreckend sein. »Ich glaube nicht, daß wir allzu lange hierbleiben«, sagte sie achselzuckend.
»Was ist mit Helen und dem Zwerg?« fragte Skudder plötzlich. »Glaubst du, daß sie noch leben?«
Charity überlegte einen Moment, ehe sie nickte. »Ja, ich glaube, daß wir sie recht bald wiedersehen.« Sie machte einen Schritt auf die Tür zu und blieb wieder stehen. »Du hast nicht nach Kyle gefragt.«
»Ihm passiert schon nichts. Er ist ja eine Art Übermensch.«
»Du magst ihn nicht besonders, wie?«
»Nein«, gestand Skudder. »Muß ich ihn mögen?«
»Natürlich nicht«, antwortete Charity. »Aber es wäre besser. Immerhin...«
»Weiß keiner von uns, was er wirklich vorhat«, unterbrach sie Skudder. »Daß er uns bisher geholfen hat, kann ein Trick sein.«
»Unsinn!« widersprach Charity.
»Vielleicht hat er noch nicht gefunden, wonach er sucht.«
Charity wollte erneut widersprechen, aber statt dessen blickte sie Skudder eine ganze Weile schweigend an und fragte schließlich: »Was hast du wirklich gegen ihn? Bist du eifersüchtig?«
»Habe ich Grund dazu?«
»Nein«, antwortete Charity. Dann drehte sie sich um und verließ das Zimmer.
Krämer, Hartmann und Net standen draußen auf dem Gang und unterhielten sich leise. Als Hartmann sie sah, maß er sie mit einem kurzen, eindeutig bewundernden Blick und nickte anerkennend. »Die Uniform steht Ihnen gut, Captain Laird«, sagte er.
»Ich melde mich trotzdem nicht freiwillig bei Ihnen«, antwortete Charity lächelnd. Sie machte eine Handbewegung zum Ausgang. »Gehen wir?«
»So eilig?«
»Wir haben eine Menge zu besprechen«, antwortete Charity. »Zum Beispiel, was wir wegen Kyle, Gurk und dem Mädchen unternehmen.«
»Im Moment, fürchte ich, können wir gar nichts tun«, antwortete Krämer. »Dort oben ist im Augenblick der Teufel los, wie Sie sich wahrscheinlich selbst denken können. Es wäre zu riskant, die Station jetzt zu verlassen.«
Charity schluckte die scharfe Entgegnung herunter, die ihr auf der Zunge lag. Von seinem Standpunkt aus hatte Krämer wahrscheinlich recht - die Ameisen würden den Tod der Königin nicht so ohne weiteres hinnehmen. Aber um so wichtiger war es, Helen, Kyle und den Zwerg zu finden - bevor Stones Truppen es taten.
»Und außerdem haben wir im Augenblick wirklich Wichtigeres zu tun«, fuhr Krämer fort.
»Zum Beispiel?« erkundigte sich Charity.
Krämers Gesicht verdüsterte sich. »Ich will Ihnen nichts vormachen«, sagte er. »Außerdem müßten Sie schon blind sein, um nicht selbst zu merken, daß wir ... Probleme haben.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, daß es etwas gibt, womit Typen wie ihr nicht spielend fertig werdet«, warf Skudder spöttisch ein.
Charity warf ihm einen warnenden Blick zu, aber die Worte des Hopi schienen Krämer eher zu amüsieren als zu ärgern. »In gewissem Sinne sind sie nicht ganz unschuldig daran, mein Lieber.«
»Ich?«
Krämer schüttelte den Kopf. »Sie alle, oder besser gesagt, die Umstände Ihrer Ankunft hier.«
»Sie haben Angst, daß Ihr kleines Versteck auffliegen könnte, wenn die Ameisen zu intensiv nach uns suchen«, vermutete Skudder.
»Keineswegs«, erwiderte Krämer ruhig. »Sie suchen uns seit fünfzig Jahren, ohne uns zu finden. Und wenn wir keinen Fehler machen, werden sie noch weitere fünfzig Jahre nach uns suchen.« Er wandte sich um und begann, langsam auf die Treppe zuzugehen. Charity und die anderen folgten ihm.
Charity hatte erwartet, daß Krämer seine Worte präzisieren würde, aber er beließ es bei einigen Belanglosigkeiten, bis sie das Gebäude verließen und wieder in die Höhle hinaustraten. »Was waren das für Probleme, von denen Sie gerade gesprochen haben?« fragte Charity schließlich.
»Probleme ist vielleicht nicht das richtige Wort«, erwiderte Krämer ausweichend. »Sagen wir, ich habe über zwei, drei Dinge nachgedacht. Unter anderem darüber, weshalb die Ameisen sich solche Mühe machen, Sie umzubringen.«
»Wir haben ihnen ziemlichen Ärger bereitet«, sagte Skudder.
Krämer schüttelte nur den Kopf. »Das glaube ich Ihnen gern«, sagte er. »Aber Ihre Tapferkeit und den Schaden, den Sie ihnen zugefügt haben, in Ehren, Mister Skudder - ich glaube, wir haben ihnen in den letzten fünfzig Jahren eine Menge mehr Ärger bereitet. Und trotzdem werfen sie uns keine Atombombe auf den Kopf.«
»Vielleicht tun sie es ja noch«, sagte Skudder.
»Vielleicht«, antwortete Krämer ungerührt. »Aber das glaube ich eigentlich nicht.« Er machte eine weit ausholende Handbewegung. »Um diese Basis zu zerstören, müßte man schon sehr genau wissen, wo sie ist - oder eine Waffe einsetzen, die die Hälfte dieses Kontinents unbewohnbar macht. Und das werden sie nicht tun. Sie brauchen diese Welt. Sie werden nicht fünfzig Jahre Kolonisationsarbeit wegwerfen, nur weil ein paar Rebellen ein paar ihrer Flugzeuge abschießen.« Er blieb nun selbst stehen, sah Charity eine Sekunde lang durchdringend an und schüttelte schließlich den Kopf, ehe er weiterging. »Nein, es muß etwas anderes sein. Sie haben mir erzählt, wieviel Mühe Sie darauf verwendet haben, sich Zugang zum NATO-Bunker in Paris zu verschaffen. Dort unten muß irgend etwas gewesen sein, das unvorstellbar wichtig für sie ist.«
»Wahrscheinlich«, sagte Charity achselzuckend. »Aber ich gebe Ihnen mein Wort, daß ich nicht weiß, was es ist.«
»Ich glaube Ihnen«, antwortete Krämer.
»Aber unsere Freunde von Moron offensichtlich nicht. Und vielleicht ist das sogar gut so.«
»Wieso?« wunderte sich Charity.
»Weil Sie uns so möglicherweise einen entscheidenden Hinweis gegeben haben«, antwortete Krämer. Charity sah ihn verwirrt an, und er fügte hinzu: »Es kann sein, daß wir das, von dem sie anzunehmen scheinen, daß wir es wissen, doch noch finden.«
»Sie machen Scherze«, sagte Charity alarmiert. »Der Bunker wurde völlig vernichtet.«
Krämer nickte. »Dieser eine Bunker. Aber sehen Sie, es gab drei gleichartige Anlagen in ganz Europa. Eine befand sich in London. Soviel wir wissen, wurde sie bereits in den ersten Tagen der Invasion zerstört. Die zweite haben Sie selbst in die Luft gejagt. Und die dritte...«
»Ist hier?« vermutete Charity ungläubig.
Krämer nickte. »Richtig, Captain Laird. Was immer in den Computern der NATO-Basis in Paris gespeichert war - wir wissen es auch.«
Charity blieb stehen und starrte den kleinwüchsigen Generalmajor verblüfft an. »Ist Ihnen klar, was Sie da sagen?«
»Natürlich«, sagte er. »Was immer die Invasoren in Paris gesucht haben - wir haben es auch.«
15
Die Königin tobte. Die Schreie der riesigen Kreatur ließen den Boden zittern und die Ameisen, die sich um sie hatten kümmern wollen, sich wie unter Schlägen ducken. Ihr riesiger, aufgedunsener Hinterleib zuckte und warf sich wild hin und her, wobei er unentwegt weiter Eier ausstieß, wie eine gewaltige, beschädigte Maschine, die nicht mehr in der Lage war, in ihrer Arbeit innezuhalten.
Kyle spürte, daß es nicht nur der körperliche Schmerz war, der dieses Wesen in Raserei versetzte. Es war das erste Mal, daß er einer Königin so nahe gegenüberstand, aber es war nicht das erste Mal, daß er eine von ihnen sah. Und doch unterschied sich diese Königin von allen anderen, die er je zu Gesicht bekommen hatte. In ihren riesigen Facettenaugen loderte eine gewaltige Intelligenz, gepaart mit der Bosheit eines finsteren Gottes.