»Das Mädchen?«
Kyle nickte. Gyell antwortete nicht darauf, aber sein Schweigen war beredt genug.
»Ihr müßt gehen«, sagte Gyell noch einmal. »Sie werden euch nichts tun, solange die Königin lebt. Aber wenn sie stirbt, werden sie auch euch töten.«
»Wäre einer der Herren vielleicht so freundlich, mir zu erklären, worum es überhaupt geht?« mischte sich Gurk ein.
Kyle ignorierte ihn. Sein Blick wanderte zwischen Gyells ausdruckslosem Gesicht, den riesigen, allmählich verlöschenden Kristallaugen der Königin und der kalten, weißen Gestalt des Inspektors hin und her. »Aber es muß einen Weg geben, sie zu retten!« protestierte er.
»Ihre Verletzungen sind zu schwer«, antwortete Gyell mit ausdrucksloser Stimme. Auch der Tod schien dem Jared keine Angst einzujagen. »Geht!« sagte er noch einmal. »Solange wir euch noch schützen können.«
Verwirrt und von einem Gefühl völliger Hilflosigkeit erfüllt, wandte sich Kyle um, machte einen Schritt auf die Front der Ameisen zu und blieb wieder stehen. Wieder glitt sein Blick über den riesigen, zuckenden Leib der Königin, die furchtbaren, tödlichen Verbrennungen auf ihrem Hinterleib und die riesigen Augen, in denen das Leben nur noch als schwacher Funke glomm. Und jetzt endlich begriff er, was die Jared wirklich waren.
Eine faltige Greisenhand ergriff plötzlich seine Finger. »Komm«, sagte Gurk leise. Anders als gewohnt war seine Stimme sanft, fast warm, und auch das spöttische Glitzern war aus seinen Augen verschwunden. Das Mitgefühl, mit dem er Kyle ansah, war nicht gespielt. »Wir können nichts mehr für sie tun.«
»Helen wird sterben«, murmelte Kyle.
Gurk schüttelte ganz sacht den Kopf. »Sie ist schon tot«, sagte er. »Ich weiß, daß es weh tun, aber die Wahrheit tut manchmal weh.«
»Ich ... werde ihr helfen«, sagte Kyle.
Gurk lächelte schmerzlich. »Das kannst du nicht, mein Freund«, sagte er sanft. »Ich weiß, du kannst eine Menge - aber eine Tote wirst auch du nicht erwecken können. Und du hilfst Helen nicht, wenn du dich selbst umbringst.«
Kyle rührte sich nicht. Fast eine Minute lang starrte er den Zwerg an, ohne ihn wirklich zu sehen, dann hob er noch einmal den Blick, sah den Inspektor und die Armee schwarzer, riesiger Ameisen hinter ihm an, und drehte sich dann ganz langsam zu Gyell und der Königin herum. Die Bewegungen der gigantischen Ameise waren fast nicht mehr wahrzunehmen. Eine klare, zähe Flüssigkeit sickerte aus ihrem halbgeöffneten Maul, und ihr gewaltiger Hinterleib hatte aufgehört, unentwegt Eier auszustoßen.
Kyles Blick begegnete Jared. Eine unausgesprochene Frage stand in Gyells Augen, kein Fordern, nicht einmal eine Bitte - nur die bloße Bestätigung, daß es möglich war.
»Vielleicht täuscht du dich, Zwerg«, sagte Kyle endlich, während er langsam an Gyells Seite trat und dann zusammen mit ihm auf die Königin zuging.
*
Die Computerzentrale der Eifel-Basis war kleiner als die Anlage in Paris. Aber hier war der halbrunde Saal mit der riesigen Monitorwand keine tote Gruft, sondern von pulsierendem Leben erfüllt. Die meisten Computerpulte auf der anderen Seite der Glasscheibe waren zwar im Moment unbesetzt, aber nur weil Krämer die meisten Männer hinausgeschickt hatte, als sie angekommen waren. Ansonsten wurde hier an jedem Computer gearbeitet.
Charity ahnte auch, warum sich für sie ein so großes Empfangskomitee eingefunden hatte. Sie waren nicht einfach nur Fremde, die ein Zufall hierhergebracht hatte und die in einigen Tagen wieder verschwinden würden, sondern sie stellten wahrscheinlich die ersten Menschen dar, die jemals von außen in diese Welt aus Beton und Neonlicht eingedrungen waren. Die ersten Überlebenden der großen Katastrophe, die die Männer und Frauen hier unten seit einem halben Jahrhundert zu Gesicht bekamen. Mit einem erschöpften Seufzer fuhr Charity sich mit beiden Händen durch das Gesicht. Ihre Augen brannten vom langen, angestrengten Starren auf den Bildschirm, und wenn sie die Lider schloß, dann sah sie noch immer grüne Leuchtschrift. Sie war ziemlich sicher, daß Krämer mit seiner Vermutung recht hatte. Irgendwo in den unergründlichen Datenspeichern dieser Rechneranlage war etwas verborgen, was für die Moroni entweder von ungeheurer Wichtigkeit - oder ungeheuer gefährlich war. Aber sie wußten nicht was, und solange sie nicht wenigstens einen Anhaltspunkt hatten, war ihre Suche vollkommen aussichtslos.
Plötzlich stand Hartmann neben ihr. »Sind Sie weitergekommen?« fragte er mit einer Geste auf den Monitor.
Charity schüttelte stumm den Kopf, schaltete das Terminal mit einer resignierenden Bewegung aus und drehte sich mit dem Stuhl herum.
»Keinen Schritt«, gestand sie und ballte zornig die rechte Hand zur Faust.
»Ich weiß einfach nicht, wonach ich suchen soll.«
Hartmann sog an seiner Zigarette, hustete und wedelte hektisch mit der Hand vor dem Gesicht in der Luft herum, um den Rauch zu vertreiben. Er stand auf und warf der Klimaanlage unter der Decke einen zornigen Blick zu.
»Irgendwann nehme ich mir eine Handgranate und sprenge das ganze verdammte Ding in die Luft!« versprach er.
»Anscheinend funktioniert hier unten doch nicht alles so einwandfrei, wie Sie gesagt haben.«
»Das verdammte Ding hat noch nie funktioniert. Wie wäre es, haben Sie Lust mit mir ein wenig hinauszugehen? So wie Sie aussehen, müssen Sie totmüde sein.«
Charity sah auf ihre Uhr - und erschrak. Sie hatte mehr als vier Stunden vor dem Computerterminal verbracht. Kein Wunder, daß sie kaum noch in der Lage war, die Augen offenzuhalten. Sie stand auf, warf dem erloschenden Monitor des Terminals einen letzten, fast vorwurfsvollen Blick zu und folgte Hartmann aus dem Raum.
Die Computerzentrale befand sich in einem speziell abgesicherten Raum zwanzig Meter unter der Höhlenstadt. Mit einem Aufzug fuhren sie nach oben und durchquerten einen langen, vollständig kahlen Gang, unter dessen Decke die mißtrauischen Videoaugen einer vollautomatischen Überwachungsanlage ihren Schritten folgten. Obwohl Charity wußte, daß die Computer nur auf nichtautorisierte Eindringlinge ansprechen würden, konnte sie sich eines unbehaglichen Gefühls nicht erwehren, während sie hinter Hartmann durch den Gang schritt. Sie atmete erst wieder auf, als sie durch die dreifach gesicherte Schleuse nach draußen traten. Obwohl ihr ihre Logik sagte, daß es völliger Unsinn war, hatte sie wirklich das Gefühl, hier draußen freier atmen zu können.
»Sind Sie müde?« fragte Hartmann mit beinah sanfter Stimme.
»Nein, nur enttäuscht«, antwortete Charity.
»Was haben Sie erwartet?«
Charity zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht«, gestand sie. »Irgendwie hatte ich wohl die naive Vorstellung, nur ein paar Tasten drücken zu müssen, um auf alles Antworten zu bekommen.«
»Wahrscheinlich haben Sie nur nicht die richtigen Fragen gestellt.«
»Wissen Sie sie denn?«
Hartmann schüttelte den Kopf, griff in die Jackentasche und zündete sich eine neue Zigarette an. »Nein«, sagte er. »Und ich bin nicht sicher, ob ich sie überhaupt wissen will.«
Ein leises, aber durchdringliches Piepen drang aus Hartmanns Brusttasche. Der Leutnant griff in sein Hemd, zog ein rechteckiges Gerät hervor und blickte eine Sekunde lang stirnrunzelnd darauf. Dann drückte er einen Knopf auf seiner Oberseite, und das Piepen verstummte. Charity sah ihn fragend an.
»Mein Herr und Meister ruft«, sagte Hartmann spöttisch.
»Krämer?«
Hartmann nickte. »Ja. Es ist besser, wenn ich gleich hingehe. Begleiten Sie mich?«
Charity zögerte. Sie hatte im Grunde keine Lust, Krämer wiederzusehen, aber die Vorstellung, allein hier zurückzubleiben, gefiel ihr noch viel weniger. Nach einigen Augenblicken nickte sie, und Hartmann drehte sich herum und deutete auf das kleine Gebäude am anderen Ende der Höhle, in dem Krämers Büro lag.