Charity starrte ihn an. Sie verstand, was Krämer mit diesen Worten sagen wollte - aber es dauerte volle zehn Sekunden, bis sie wirklich begriff, was sie bedeuteten. Ein eisiger, ungläubiger Schrecken machte sich in ihr breit.
»Das hier ist nicht nur eine Überlebensstation, nicht wahr?« fragte sie mit leiser, fast tonloser Stimme.
Krämer antwortete nicht, aber Charity wußte, daß sie recht hatte.
»Sie können alles andere, als sich bloß zu verteidigen, Krämer! Und Ihre verdammten Computer haben einen Gegenschlag ausgelöst!«
»Immer mit der Ruhe«, sagte Krämer. »Wir haben die...«
»Wovon redet ihr?« mischte sich Skudder ein. Seine Stimme klang alarmiert.
Charity drehte sich fast zornig zu ihm herum. Anklagend deutete sie mit der Hand auf Krämer.
»Davon, daß uns diese Idioten um ein Haar alle in die Luft gesprengt hätten! Wenn sie es nicht noch tun!«
»Ich sagte bereits«, unterbrach sie Krämer scharf, »daß wir das Programm gestoppt haben.«
»Oh, wie beruhigend!« sagte Charity sarkastisch. »Lief der Countdown für die Raketen schon?«
»Ich habe diese Anlage nicht entworfen!« verteidigte sich Krämer.
»Nein!« antwortete Charity aufgebracht.
»Aber Sie hätten es bestimmt mit Freuden getan, wenn Sie gekonnt hätten, nicht wahr?«
Sie machte eine wütende Handbewegung. »Allmählich beginne ich mich zu fragen, wieso wir uns nicht schon hundertmal selbst in die Luft gesprengt haben, bevor Sie gekommen sind.«
»Ich sagte bereits zweimal - wir haben das Programm gestoppt«, sagte Krämer zornig. »Es ist absolut nichts passiert.«
»Dann verstehe ich nicht, worüber Sie sich aufregen.«
»Die Raketen wurden nicht gestartet«, sagte Krämer. »Aber die ganze Basis befindet sich in Alarmbereitschaft. Ich bin nicht sicher, ob Sie begreifen, was das bedeutet. Wir haben über zehntausend Soldaten hier, Eliteeinheiten, die sich im Tiefschlaf befinden. Und die sind gerade dabei aufzuwachen.«
»Und wo ist das Problem?« erkundigte sich Skudder.
Krämer maß ihn mit einem Blick, als zweifele er an seinem Verstand, aber Hartmann kam ihm mit der Antwort zuvor.
»Wir haben weder den Platz noch die nötigen Vorräte, um eine so große Zahl von Männern länger als einige Tage zu beherbergen«, sagte er ruhig.
»Dann schalten Sie Ihre Computer ab und lassen Sie sie weiterschlafen«, schlug Skudder vor.
Hartmann schüttelte beinahe traurig den Kopf.
»Das geht nicht«, sagte er. Er zögerte einen Moment, wobei er Krämer einen Blick zuwarf, als müsse er sich seine Erlaubnis einholen, weiterzureden. »Sehen Sie, Captain Laird, diese Soldaten befinden sich nicht in Schlafanks, wie Sie oder ich oder die Männer, die Dienst in den Horchstationen draußen tun. Sie wissen, wie kompliziert und aufwendig die Winterschlaftechnik ist. Es wäre völlig unmöglich gewesen, ausreichend Geräte für eine so große Anzahl von Menschen bereitzustellen. Wir benutzen eine andere Technik. Bitte ersparen Sie mir, Ihnen zu erklären, wie sie funktioniert - genau weiß ich es selbst nicht. Aber sie ist riskant. Nicht alle von ihnen werden wieder aufwachen. Und wir haben nicht die Möglichkeit, sie erneut in Tiefschlaf zu versetzen.«
»Das heißt, wenn diese Männer einmal wach sind, bleiben sie es auch«, sagte Charity. »Im Klartext: Sie haben sie am Hals.«
»Wenn das alles wäre...« sagte Hartmann leise.
»Was soll das heißen?« fragte Net.
Krämer atmete hörbar aus. »Zeigen Sie es ihnen Hartmann«, sagte er.
16
Als die Panik allmählich verebbte, war es zu spät. Er war erwacht, den Bruchteil einer Sekunde, ehe eine unsichtbare Kralle aus Stahl nach seinen Gedanken und seiner Seele gegriffen und beides aus seinem zerstörten Körper herausgerissen hatte, und vielleicht hätte die Zeit noch ausgereicht, einen Befehl zu schreien, sie daran zu hindern, diese fürchterliche Maschine einzuschalten, und ihm damit ein neues Leben zu schenken und gleichzeitig sein Todesurteil auszusprechen. Aber er war vor Angst wie gelähmt gewesen, und als er begriff, daß Luzifer ihn belogen hatte und die Zeit, die ihm noch blieb, nicht mehr nach Wochen, nicht einmal mehr nach Stunden, sondern nur noch nach Augenblicken gezählt wurde, da waren die letzten kostbaren Augenblicke auch bereits verstrichen, und das letzte, zu dem er fähig gewesen war, war ein gellender Entsetzensschrei.
Was danach kam, war nichts als ein böser Traum. Stone wußte, daß er nichts von alledem, woran er sich zu erinnern glaubte, wirklich erlebt hatte. Und doch würde er diese entsetzlichen Bilder nie wieder vergessen. Etwas hatte seinen Geist aus seinem Körper herausgerissen und in die Unendlichkeit geschleudert, in der es kein Hier und Jetzt, keine Zeit, in der es überhaupt nichts gab. Für Ewigkeiten war er in einem Universum voller Schwärze und Einsamkeit gefangen, bis er gespürt hatte, daß etwas Kaltes und Maschinenhaftes nach ihm griff und seine Gedanken sondierte und jeden Augenblick seiner Existenz erforschte. Und schließlich war der schwarze Abgrund der Unendlichkeit einem anderen, noch dunkleren Gefängnis gewichen.
Er wußte nicht, wie lange er in jenem Gefängnis gewesen war, das seine Gedanken und Gefühle zu einer bloßen Aneinanderreihung gespeicherter Informationen reduzierte, ein Computerprogramm mit dem Namen Daniel Stone, das darauf wartete, aktiviert zu werden. Seine nächste bewußte Erinnerung war das Gefühl, wieder einen Körper zu haben. Er öffnete die Augen und sah Luzifers Gesicht über sich. Als er versuchte, sich aufzusetzen, wurde er mit einem schmerzhaften Ruck zurückgerissen. Sein Körper war mit einer Unzahl von Schläuchen, Drähten, Anschlüssen und dünnen Kabeln versehen.
»Was ist passiert?« fragte er. »Wo bin ich?« Noch einmal, aber sehr viel vorsichtiger jetzt, drehte er den Kopf und sah seinen Adjutanten an. »Du hast mich belogen!« herrschte er Luzifer an.
»Ich hatte keine andere Wahl, Herr«, antwortete die Ameise. »Es gab Komplikationen. Einige Ihrer wichtigsten Körperfunktionen versagten plötzlich. Sie drohten zu sterben.«
»Du hättest es mir sagen müssen!«
Luzifer deutete ein Nicken an. »Ich weiß. Ich bin bereit, die Strafe für mein Fehlverhalten auf mich zu nehmen. Aber der Schutz Ihres Lebens hat oberste Priorität. Es blieb keine Zeit, Sie zu informieren.«
Stone starrte die Ameise mit einer Mischung aus brodelndem Zorn und einer vagen Hoffnung an. Der devote Ton, in dem Luzifer sprach, war nicht der, in dem er sich mit einem Verräter unterhielt. Möglicherweise wußte er noch nicht, was Daniel getan hatte.
»Mach mich los«, verlangte er.
Luzifer zögerte. »Es wäre besser, wenn...«
»Mach diese verdammten Dinger ab!« unterbrach ihn Stone zornig. »Sofort!«
Gehorsam trat das riesige Insektengeschöpf näher und löste die zahllosen Anschlüsse, mit denen Stones neuer Körper mit den Computeranlagen verbunden war. Was Luzifer tat, war sehr schmerzhaft, aber Stone verbiß sich jeden Laut. Sein Blick wanderte über die glitzernden Apparaturen und blieb an dem riesigen, rechteckigen Schirm haften, der wie ein starrendes blindes Auge auf den Tisch herabblickte. Er hatte eine ähnliche Anlage vor nicht einmal allzu langer Zeit in Paris gesehen. Sie hatte jede Erinnerung, jedes Bild aus dem Gedächtnis des gefangenen Megamannes gezeigt.
Nachdem Luzifer die letzte Nadel aus seiner Vene gezogen hatte, befahl er ihm barsch, ihm etwas zum Anziehen zu besorgen, und setzte sich vorsichtig auf. Luzifers Warnung war nicht übertrieben gewesen, ihm wurde sofort schwindelig, und seine Glieder fühlten sich so schwach an, daß er Mühe hatte, auf der Kante des Operationstisches sitzen zu bleiben. Er wartete, bis der Raum aufgehört hatte, sich um ihn herum zu drehen, dann stand er sehr behutsam ganz auf, hielt sich mit der linken Hand an der Kante des Tisches fest und blickte forschend an seinem neuen Körper herab.