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»Fünf oder sechs Tage...« Stones Blick wanderte gegen seinen Willen zu der geschlossenen Tür hinter Luzifer, der Tür zu dem Raum, in dem er erwacht war. Irgendwo dort drinnen waren seine Erinnerungen gespeichert, all seine kleinen und großen Geheimnisse - und dieser eine verfluchte Moment, der ihn vielleicht das Leben kosten konnte.

Aber vielleicht, dachte er, hatte er doch noch eine Chance. Sie war winzig, und allein der Gedanke an das Risiko, das er damit einging, bereitete ihm fast körperliche Schmerzen. Er kam sich vor wie ein Mann auf einem brennenden Schiff, der nicht schwimmen konnte.

*

Hätte sie es nicht besser gewußt, dann hätte sie geschworen, daß der Mann tot war. Er saß aufrecht und stocksteif auf der Kante der schmalen Pritsche, die die gesamte Einrichtung der Kammer auf der anderen Seite der Glasscheibe darstellte. Seine Augen waren so leer wie die der Jared, nur daß in ihnen nicht zugleich dieses tiefe, verborgene Wissen schlummerte. Seine Brust hob und senkte sich im Rhythmus schwerer, gleichmäßiger Atemzüge.

»Das ist ... grauenhaft«, flüsterte Charity. Ihr Blick war starr auf das bleiche Totengesicht des jungen Mannes gerichtet, und obwohl sie wußte, daß die Glasscheibe nur von einer Seite her durchsichtig war, konnte sie sich des unheimlichen Gefühls nicht erwehren, daß diese toten Augen sie anstarrten.

»Was habt ihr mit ihm gemacht?« fragte Skudder gepreßt. Charity konnte in einer Reflexion auf der Glasscheibe vor sich erkennen, wie er herumfuhr und zornig einen Schritt auf Hartmann zu machte.

Mühsam riß sie sich vom Anblick der bleichen Gestalt im Nebenzimmer los und drehte sich herum. »Skudder - bitte«, sagte sie.

Skudder blieb stehen, aber seine Augen flammten vor Zorn. Es hätte Charity in diesem Augenblick nicht gewundert, wenn er sich kurzerhand auf den kleineren Mann gestürzt hätte.

»Wir haben überhaupt nichts mit ihnen gemacht«, sagte Hartmann matt. Auch ihm war deutlich das Entsetzen anzusehen, mit dem ihn der Anblick der Gestalt auf der Pritsche erfüllte. »Ich sagte Ihnen bereits - es gibt gewisse Schwierigkeiten.«

»Schwierigkeiten!« Skudder lachte schrill und deutete anklagend auf den Soldaten.

»Schwierigkeiten nennen Sie das?! Das ist ein ... ein verdammter Zombie, Hartmann!«

Mit einer müden Geste wandte Charity sich an Hartmann. »Was ist passiert?«

»Ich weiß es nicht«, gestand Hartmann. »Aber einige von denen, die aufwachen, sind ... so.«

»Einige?« hakte Charity nach. »Das heißt, nicht alle?«

»Nein«, antwortete Hartmann. »Etwa ein Drittel.«

Charity schloß mit einem lautlosen Seufzen die Augen. Ein Drittel ... das bedeutete nichts anderes, als daß es in dieser unterirdischen Festung mehr als dreitausend Männer in diesem entsetzlichen Zustand gab.

»Haben Sie das gewußt?« fragte sie leise.

Hartmann schüttelte den Kopf. »Daß es ein Risiko gab, war uns klar. Jeder einzelne dieser Männer hat sich freiwillig hierher gemeldet, Captain Laird. Und jeder einzelne wurde darüber aufgeklärt, daß seine Chancen, wieder zu erwachen, bestenfalls bei achtzig Prozent lagen. Aber diese Entwicklung konnte niemand voraussehen.«

»Auch wenn Sie es gewußt hätten, hätten Sie es in Kauf genommen, nicht wahr?« fragte Skudder böse. »Immerhin bleiben Ihnen ja noch zwei von drei Männern.«

»Wir wußten es nicht!« verteidigte sich Hartmann. »Verdammt, wir haben auch früher schon Männer aufgeweckt, aber so etwas ist noch nie vorgekommen!«

»Was ist mit ihnen geschehen?« fragte Charity hastig, ehe Skudder etwas einwerfen konnte. »Ich nehme doch an, Sie haben sie untersucht?«

»Natürlich«, antwortete Hartmann mit einem letzten, bösen Blick auf den Hopi. »Organisch sind sie völlig gesund. Sie sind nur völlig katatonisch. Sie reagieren kaum auf äußere Reize. Nicht einmal auf Schmerz.«

»Vielleicht liegt es an der Technik, mit der Sie sie in Tiefschlaf versetzt haben«, warf Net mit einer Sachlichkeit ein, die Charity überraschte.

Hartmann sah die Wasteländerin eine Sekunde lang fast hilflos an, ehe er mit den Achseln zuckte. »Das ist möglich, aber nicht wahrscheinlich. Ich sagte bereits: nur acht von zehn wachen überhaupt wieder auf. Aber das da ist ... völlig unerklärlich.«

Während Net und Hartmann weiter diskutierten, trat Charity wieder an die Glasscheibe heran und betrachtete den jungen Mann auf der anderen Seite. Der Soldat bewegte sich. Langsam, wie eine Marionette, an deren Fäden ein unerfahrener Spieler zog, stemmte er sich in die Höhe, machte einen unbeholfenen Schritt auf die Glasscheibe zu und hob die Arme.

Charity wich instinktiv ein Stück von der Scheibe zurück, und hinter ihr verstummte das Gespräch abrupt.

»Was zum Teufel...?« murmelte Skudder.

Der Soldat prallte mit einem hörbaren Laut gegen die Glasscheibe, die von seiner Seite aus ein Spiegel war, und preßte die Hände dagegen. Der Blick seiner leeren, erloschenen Augen suchte Charity.

»Charity! Hilf ... uns...« flüsterte er.

Skudder sog hörbar die Luft ein, während Charity das erschlaffte Gesicht auf der anderen Seite der Scheibe fassungslos anstarrte.

»Hilf ... uns«, wiederholte die flüsternde Stimme.

»Aber das ist doch unmöglich!« stammelte Hartmann. »Er ... kann Sie nicht gesehen haben. Und er kann Ihren Namen nicht kennen!«

Der Soldat taumelte. Seine Hände glitten mit einem furchtbaren Geräusch an der Glasscheibe herunter, während er ganz langsam in die Knie brach, als wiche jede Kraft aus seinem Körper, aber sein Blick hielt Charity weiter fest, und obwohl es noch immer die leeren, toten Augen waren, spürte Charity deutlich die verzweifelte Bitte, die in ihrem Blick lag.

Und plötzlich wußte sie es. Von einer Sekunde auf die andere begriff sie, woran sie diese Augen erinnert hatten. Und sie begriff auch, wie entsetzlich sie sich alle geirrt hatten.

Noch bevor der Soldat völlig zusammengebrochen war, fuhr sie herum und stürmte aus der Tür.

»Sie sind ja völlig verrückt!« sagte Krämer. Er bemühte sich krampfhaft, wenigstens äußerlich die Ruhe zu bewahren. Eine Sekunde lang starrte er Charity an, als warte er auf irgendeine Reaktion auf seine Worte, dann ließ er den Stift, den er in den Händen hielt, mit einem Ruck fallen und sprang auf. »Ich habe Ihnen erklärt, daß im Moment niemand diese Station verlassen darf. Und Sie verlangen von mir, daß ich Ihnen einen Hubschrauber zur Verfügung stelle, damit Sie zurück zu jenen Wilden fliegen, aus deren Gewalt unsere Leute Sie gerade mit Mühe und Not befreit haben?«

»Das ist nicht ganz die Version, die ich abgeben würde«, sagte Charity, aber Krämer unterbrach sie mit einer zornigen Geste.

»Und Sie wollen mir nicht einmal den Grund verraten!« fuhr er aufgebracht fort. »Ich bitte Sie, Captain Laird - was würden Sie an meiner Stelle tun?«

»Das weiß ich nicht«, gestand Charity. »Aber ich würde zumindest darüber nachdenken.«

»Worüber?« Krämer versuchte spöttisch zu lächeln, aber es wurde nur eine Grimasse daraus. »Über diese ... diese völlig verrückte Geschichte, die Sie da erzählen?«

»Ich weiß, daß sie sich verrückt anhört«, sagte Charity. »Aber ich weiß auch, daß ich recht habe. Was immer mit Ihren Soldaten geschehen ist, es hat etwas mit den Jared zu tun. Und ich fürchte, es wird eine Katastrophe geschehen, wenn wir nichts unternehmen.«

Krämer lachte hart. Er schien auffahren zu wollen, beließ es aber dann bei einem neuerlichen Kopfschütteln und ließ sich in seinen gepolsterten Ledersessel zurücksinken, der unter der Bewegung heftig zu wippen begann. »Selbst wenn ich es wollte, Miß Laird, ich kann Sie im Moment nicht gehen lassen.«