Kyle erstarrte. Vielleicht hatte er den entsetzten Unterton in Charitys Stimme richtig gedeutet und begriffen, wie gefährlich diese Tiere waren. Vielleicht hatte er auch nur eingesehen, daß er sie nicht alle zugleich erschießen oder aufhalten konnte - und daß es ihm wenig nutzte, wenn er der einzige war, der hier lebend herauskam.
Schritt für Schritt wichen sie von der gewaltigen Armee graubrauner, pelziger Körper vor ihnen zurück, und die Ratten folgten ihnen im gleichen Abstand; nicht schneller, aber auch nicht langsamer.
Ihre Bewegungen hatten nichts von einem Angriff, dachte Charity verstört. Eher etwas von einer ... Warnung.
Und als hätte es ihre Gedanken gelesen, löste sich plötzlich eines der Tiere aus der Front der Ratten und eilte ein paar Schritte auf sie zu, ehe Skudder drohend seine Waffe hob und es wieder stehenblieb. Charity war völlig sicher, daß es kein Zufall war. Das Tier hatte die Bedeutung der Geste erkannt und reagierte darauf.
Die Ratte starrte abwechselnd Skudder, Kyle und Charity aus ihren dunklen, stechenden Augen an, dann zog sie die Lefzen zurück und gewährte ihnen einen Blick auf ein Gebiß, dessen bloßer Anblick Charity einen Schauer über den Rücken laufen ließ.
»Nehmt die Waffen herunter«, sagte sie leise.
Kyle gehorchte sofort, aber Skudder warf ihr einen überraschten, ja fast entsetzten Blick zu, und Charity wiederholte: »Nimm das Gewehr herunter, Skudder. Sie tun uns nichts. Sie wollen uns nur vertreiben. Das ist alles.«
Sie wandte sich wieder der Ratte zu und hob die linke, leere Hand. Ihr Vertrauen in den plötzlichen Evolutionssprung dieser Nager reichte nicht so weit, im Ernst anzunehmen, daß sie ihre Sprache verstanden - aber das Benehmen des Tieres zeigte ganz deutlich, daß es zumindest imstande war, die Bedeutung von Gesten zu begreifen.
Die Ratte folgte ihrer Bewegung aus mißtrauisch glitzernden Augen und stieß ein drohendes Zischen aus, rührte sich aber nicht mehr, und auch die Armee graubrauner Körper hinter ihr kam nicht mehr näher.
Langsam und unendlich vorsichtig hob Charity das Gewehr wieder und hängte sich die Waffe über die Schulter. Kyle steckte seine Pistole wieder unter den Gürtel, und nach einer weiteren Sekunde folgte endlich auch Skudder ihrem Beispiel.
»Vorsichtig jetzt!« flüsterte Charity. »Macht bloß keine hastige Bewegung!«
Langsam drehte sie sich herum, wobei sie die Ratte aufmerksam im Auge behielt, wartete, bis auch Skudder und Kyle sich umgewandt hatten, und deutete dann in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Ohne ein Wort ging sie los.
Zuerst langsam, dann immer schneller gingen sie den Weg zurück, bis sie wieder an die Abzweigung kamen, an der sie abgebogen waren. Erst dann wagte es Charity, stehenzubleiben und wieder zurückzublicken.
Von den Ratten war nichts mehr zu sehen.
4
Mehr als drei Jahre waren vergangen, seit Stone dieses Zimmer das erste Mal betreten hatte, aber der Anblick hatte in all dieser Zeit nichts von seiner Faszination verloren. Stone war immer noch nicht sicher, ob ihn das Bild, das die Stadt unter den Fenstern bot, mehr faszinierte oder erschreckte, oder ob es eine Mischung aus beidem war, die ihn immer wieder hierherkommen und Stunde um Stunde aus dem Fenster blicken ließ. Was einmal Manhattan gewesen war, das war jetzt...
Er wußte nicht, was es war. Er war der Herr dieser Stadt, ihr unumschränkter Befehlshaber, zumindest die meiste Zeit, und trotzdem wußte er nicht, was sie mit dieser Stadt taten. Es war noch immer eine Stadt voller brodelndem Leben, aber es war auch ein Dschungel, ein verwirrendes Gebilde aus unverständlicher Hypertechnik und sonderbar organischen Formen, und manchmal kam es ihm vor wie eine gigantische, lebende Einheit, die aus zahllosen einzelnen Individuen bestand und viele Millionen Zellen zusammensetzte; Zellen, von denen vielleicht auch er schon eine war, ohne es zu wissen.
Sein Blick wanderte nach Osten, wo das Wasser der Hudson-Bay in grauen Nebelschwaden verschwand. Manchmal kam Wind auf, der diese flimmernde graue Wand zerriß, und dann konnte er die Eisbarriere erkennen: eine zweihundert Meter hohe, massive Wand aus Eis, die innere Grenze des Kälteschirmes, der New York umgab.
Das aufdringliche Summen des Intercom-Gerätes riß ihn in die Wirklichkeit zurück.
Zum ersten Mal seit Jahren wieder verspurte Stone Angst, die Hand auszustrecken und das Gerät einzuschalten, auf dessen Bildschirm jetzt das ziselierte Flammen-›M‹ Morons flackerte. Er selbst hatte dieses Symbol entworfen, und damals war es ihm passend erschienen. Etwas, das die Macht und Unbesiegbarkeit Morons deutlicher symbolisierte als alles andere. Und das seine eigene, kleine Rache an den Invasoren darstellte, denn für ihn bedeutete dieses ›M‹ nicht nur Moron, es stand auch für Monster, für die Ungeheuer von den Sternen, die sein Volk vernichtet und ihm seine Welt gestohlen hatten.
Jetzt begann er es zu fürchten. Was er in Paris erlebt hatte, hatte ihm gezeigt, wie hilflos er in Wahrheit war. Er war ein mächtiger Mann, vielleicht der mächtigste Mann dieses Planeten - und trotzdem war er ein Nichts. Seine Macht währte, solange sie es wollten. Keine Sekunde länger.
Und vielleicht war die Gnadenfrist, die sie ihm gewährt hatten, schon abgelaufen.
Innerlich angespannt, schaltete Stone das Gerät ein. Das flackernde, rote ›M‹ auf dem Bildschirm erlosch und machte der ausdruckslosen Chitin-Maske Luzifers Platz, seines persönlichen Adjutanten. Vor drei Jahren, als man ihm dieses riesige, ameisenähnliche Geschöpf zugeteilt hatte, hatte Stone diesen Namen witzig gefunden; mittlerweile war er nicht mehr sicher, ob er sich nicht wirklich auf einen Pakt mit dem Teufel eingelassen hatte.
»Ja?« begann er. »Irgend etwas Neues aus Paris?«
»Das Bombardement wurde eingestellt«, antwortete Luzifer.
»Warum?«
»Die Flüchtlinge sind mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit tot«, antwortete Luzifer.
»Was heißt ›mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit?‹ « brüllte Stone. »Sind sie tot oder nicht?«
»Das wissen wir nicht, Herr«, antwortete Luzifer. »Der abgestürzte Gleiter wurde aufgespürt und vernichtet. Eine Fortsetzung der Bombardierungen würde die Strahlenwerte unzulässig erhöhen. Es gibt eine Königin im Gebiet dieser Stadt.«
»Das weiß ich«, antwortete Stone gereizt. »Aber ich dachte, ihr seid resistent gegen radioaktive Strahlung?«
»Das trifft zu, soweit es die Arbeiter und Soldaten angeht«, bestätigte Luzifer. »Aber die unausgeschlüpften Eier könnten geschädigt werden. Die Sicherheit der Brut hat Vorrang gegenüber der Vernichtung der Entflohenen.«
Obwohl seine Stimme so kalt und ausdruckslos wie gewöhnlich klang, spürte Stone, wie wenig Sinn es hatte, Luzifer in diesem Punkt zu widersprechen. Das Insektengeschöpf war sein persönlicher Adjutant; sein Diener und Sklave, über den er nach Belieben befehlen konnte. Er zweifelte nicht daran, daß Luzifer ohne eine Sekunde zu zögern sein Leben geopfert hätte, hätte er es von ihm verlangt. Und doch würde er ihm in diesem Punkt nicht gehorchen. Manchmal fragte sich Stone, ob er vielleicht in Luzifers Augen ein ebenso minderwertiges Geschöpf war wie umgekehrt die Ameise in seinen. Es war eine verwirrende Situation - sie waren beide Sklaven, und bis zum heutigen Tag hatte Stone niemals geklärt, wer nun wessen Sklave war.
»Also gut«, sagte er nach kurzem Überlegen. »Dann laß ein Schiff und eine Begleitmannschaft startbereit machen. Ich will mich mit eigenen Augen davon überzeugen, daß Captain Laird und ihre Begleiter tot sind.« Und vor allem dieser Megamann, fügte er in Gedanken hinzu. Wenn Kyle noch lebte, und wenn er aus irgendeinem Grund gefangengenommen und verhört wurde, dann war es um ihn geschehen. Es hatte Stone ohnehin überrascht, daß er mit der Behauptung, der flüchtende Megakrieger hätte die beiden Inspektoren getötet, so ohne weiteres durchgekommen war.