Sie machte die Augen zu. Sie kniff die Augen zu. Die Ritzen des Lichts blendeten. Wie hatte sie das nicht begreifen können. Gregory war ihr Mörder. Gregory sollte sie beseitigen, und die ganze Geheimhaltung war nicht wegen der Agentur und wegen des Jobs, sondern nur, damit sie verschwinden sollte. Sie riss die Augen auf. Ihre Hände waren auf etwas gestoßen. Holz. Sie war in einem Schuppen. Es roch nicht nur wie beim Onkel Schottola. Die Tür war genauso. Ein Schuppen an das große alte Gebäude angelehnt. Sie tastete die Tür vor sich ab. Rohes splitteriges Holz. Späne. Sie durfte sich keinen Span einziehen. Oder vielleicht sollte sie sich einen Span einziehen, damit man bei ihrer Obduktion diesen Span fand und dann auf die Suche nach dem Ort gehen musste. Aber sie würde keinem CSI in die Hände fallen. Die gab es ja nur in New York und in Miami. Hier an der bayrisch-tschechischen Grenze gab es gar nichts, und sie war ganz allein. Ihre Hände fanden einen Riegel oben an der Tür. Sie schob den Riegel nach unten. Die Tür klaffte ein wenig. Sie fand den zweiten unten und hob den Riegel nach oben aus der Verankerung. Das ging nicht gut. Sie rutschte ab. Das Metall eiskalt und alles ineinandergerostet. Wie sie es sich gedacht hatte. Seit den 60er Jahren nichts mehr gemacht. Und vorher Kriegsqualität. Also nichts. Wie würden sie es machen.
Der Riegel rutschte dann aus der Verankerung. Sie hockte vor der Tür. Ihr Atem war so laut, dass sie nichts anderes hören konnte. Sie blieb sitzen und bemühte sich, tiefe Atemzüge. Eins, zwei, drei. Einatmen. Eins, zwei, drei. Ausatmen. Das war eine der Fallen. Dass die innere Aufgeregtheit die äußeren Phänomene überdeckte. Man musste dann auf das Adrenalin warten, das einen wachsam und ganz nach außen gelenkt zurückließ. Deshalb trank man keinen Alkohol. Bei richtigen Aufträgen trank man keinen Alkohol, weil das die Adrenalinausschüttungen durcheinanderbrachte. So viel hatte sie in den Skripten vorausgelesen. Sie hatte aber nun ihren Wodka in sich. Auf das Adrenalin konnte sie also nicht warten. Sie musste selber handeln. Kein Fluchtinstinkt würde sie weitertragen. Und wie das alles immer bei dem einen blieb. Sie würde an der Wiedergutmachung sterben, weil die Tante Marina das lieber alles für sich haben wollte. Die anderen waren wegen dieser Bilder abgeholt worden. Es ging immer auch darum, und sie hatte ihren Anteil haben wollen. Den würde jetzt Gregory kassieren. Der musste ja etwas bekommen. Und irgendwie. Es war nicht wirklich logisch. Wenn die Marina den Gregory beauftragt hatte. Dann konnte Mr. Madrigal sie immer weiter daran erinnern, wie er die Nichte weggezaubert hatte, und kassieren. Oder bei einem Auftrag leider ein Unfall. Im Dienst. Es könnte über sie heißen, dass sie im Dienst. In Erfüllung ihrer Pflicht. Und das war nicht falsch. Für die Marina war ihre Pflicht ja, nicht da zu sein. Abzukratzen. Der Marina nach hätte keine von ihnen existieren sollen. Schon das Mammerl nicht. Nicht die Betsimama. Und sie schon überhaupt nicht. Eine Kette von Ungewollten waren sie. Die Urururenkelin. Die Großnichte. Die Miterbin. Das war sie. Warum wunderte sie sich immer noch in manchen Augenblicken, dass es sie war. Wie als sehr kleines Kind vor dem Spiegel. Wie es gekommen war, dass das nun sie war, und wieso sie niemand anderer geworden war. Sie war erstaunt. Sie war immer noch erstaunt über sich. Das war nicht gesund. Oder es war der Wodka. Und eigentlich war nichts so richtig wirklich. Selbst die Panik. Wenn sie es sich genau überlegte. Es war dann doch vergnüglich weit weg.
Die Tür fiel gegen sie. Das rohe ungehobelte Holz schlug gegen ihre Stirn. Ein harter Schlag. Kantig. Da gehört ganz schnell ein Eisbeutel drauf, dachte sie. Vor ihr. Draußen. Links die Baracken. Vor ihr ein riesiges Schneefeld. Weit außen rechts die Betonmauer. Hinten. Fast schon in den Hügeln ein Wachturm. Die Kälte. Sie trat in die Sonne vor der Tür. Sie zitterte. Die Sonne wärmte nicht, aber es war da nicht mehr die feuchte Kälte wie in diesem Schuppen. Trockener. Trockener und damit wärmer. Sie sah sich um. Es war niemand zu sehen. Sie sah zum alten Gebäude hinauf. Die Fenster lagen im Schatten. Sie konnte nichts erkennen. Ob da jemand herunterschaute. Ob da überhaupt jemand war. Die Büros gingen alle auf die andere Seite hinaus. Der Sitzungssaal schaute in den Hof. Sie war dazwischen und darunter. Um die Ecke vom Sitzungssaal.
In der Sonne. Sie hielt die Tasche vor die Brust. Ihr warmer Pullover und der dicke Rock. Auf den Bildern vor dem Exil. Die Urgroßmutter beim Skifahren am Arlberg. Die hatte nur Pullover an. Beim wüstesten Schneesturm. Und sie hatte Thermounterwäsche. Weil man bei den Gruppenversuchen nie wusste, wohin oder was getan werden musste, und weil es auf den Toiletten ungeheizt war. Im ganzen compound gab es keine geheizte Toilette. Sie war einmal extra deswegen ins Hotel zurückgefahren. Es war unzivilisiert. Man konnte doch wenigstens kleine Elektroöfen aufstellen. Beim Mammerl gab es auch nur so eine Heizschleife über der Tür. Den Arsch wärmte das auch nicht. Aber es war doch ein höflicher Versuch. Sie wollte nach rechts gehen und rund um das Gebäude. Immer knapp am Gebäude entlang. Dann musste sie zum Parkplatz kommen und zum Auto, und dann fuhr sie einfach davon. Natürlich war es eine halbe Million, die ihr zustand und die die Marina ihr geben musste. Das war schon viel, und die Marina war so ungebeugt überzeugt, dass nur sie etwas davon verstand, was man mit dem Geld machen musste. Verschwender dachten so. Die Marina wusste ja auch, dass eigentlich nur sie auf der Welt sein sollte. Alle anderen Menschen. Die nahm sie hin, weil es halt sein musste. Weil sie es sonst ja nicht wissen hätte können. Wie viel von dem Geld würde Gregory reichen. Und wie viel würde Cindy bekommen müssen. Cindy würde ja nicht danebenstehen und für den Gregory lügen.
Sie konnte es dann aber gleich wieder nicht mehr glauben. Wie sollte sie ein Opfer sein. Sie war nicht einmal wichtig genug. Es war alles ein Versuch, ihr zu helfen, aus ihrem Dahintreiben herauszukommen. Vielleicht sollte sie selber der Sache eine Chance geben und zu Gertrud in die Rezeption gehen und sich aufwärmen. Einen Kaffee trinken und Gertrud fragen, was sie gemeint hatte. Sie konnte dann noch immer weg.
Sie ging den Verschlag entlang. Es waren grobe Holzbretter aneinandergenagelt und bildeten einen Verschlag. Wahrscheinlich war hier Holz gelagert worden. Für die Heizung. Es hatte so gerochen. Jetzt gab es einen Tank für den Generator und Strom aus der öffentlichen Leitung und einen Gastank für die Heizung. Der Normalbetrieb wurde mit einer Pelletsheizung bestritten. Alle anderen Energiekreisläufe waren für Krisen gedacht. Emergencies. Sie hatte das für eine Art didaktische Anordnung gehalten. Aber es ging schon darum, autark zu sein. Der Schnee war nicht so hoch hier. Windschatten. Sie kam an die Ecke. Sie schaute vorsichtig. Wie konnte sie da nun ungesehen entlangkommen. Wenn sie sich an die Wand drückte. Sie sollte von oben nicht gesehen werden können.
Lange Eiszapfen hingen um die Ecke von den Holzbrettern, die das Dach des langen Verschlags bildeten. Es tropfte noch nichts. Die Enden der Eiszapfen schienen aber schwimmend glasig bereit, sich in Tropfen aufzulösen. Sie drehte sich um. Etwas hatte sich bewegt. In der Mitte des riesigen Schneefelds zwischen den Baracken und der Betonmauer in den Hügeln hinten hatte sich etwas bewegt. Sie kniff die Augen zusammen. Der Schnee. Die Sonne auf dem Schnee. Kopfschmerzen, wie die Helle sich hinter die Stirn drängte.
Es war etwas in der Mitte des Schneefelds. Sie zitterte nicht mehr. Die Kälte schüttelte sie. Die Sonne hatte nur kurz die Illusion von Wärme hergestellt. Was war da. Da. Wieder. Etwas erhob sich und fiel dann in sich zusammen. Und es war eine Gestalt. Aber dann doch nicht. Hüpfen. Hüpfte da ein Tier. War da ein Tier in eine Falle geraten. Sie wandte sich zurück und ging auf das Schneefeld.
Darin waren sich alle einig gewesen. Alle. Und immer. Das Mammerl. Die Eltern Schottola und die Betsimama. Einem Tier in Not. Dem wird geholfen. Sie watete im Schnee. Der Schnee auch hier nicht so hoch, wie es aussah. Der weiche Schnee machte den Eindruck, als läge er meterhoch. Es waren aber nur 30Zentimeter. Oder ein halber Meter. An manchen Stellen war es ein halber Meter. Dann wieder sehr viel weniger. Die Oberfläche war aufgerührt. Verweht. Schuppig verweht. Der Hubschrauber. Unter dem Schnee war es eben. Sie konnte einfach gehen. Die Sonne im Rücken. Das Gleißen und Glitzern rundum. Sie ging auf dieses Ding zu. Es schien etwas Großes zu sein. Wenn das ein Reh war. Oder ein riesiger Hund. Es war nicht klug, einfach auf diese Sache loszugehen. Warum war sie nicht zu den anderen zurückgegangen und hatte die Tür aufgemacht. Dann hätte sie jetzt Hilfe haben können. Hilfe holen. Dann hätte sie das Ding gar nicht bemerkt. Sie konnte immer noch zurück. Aber jetzt musste sie genau schauen und dann berichten. Vielleicht konnte sie das alles noch einmal für sich herumreißen. Sie konnte zu Gregory gehen und ihm berichten und das alles als ihre Eigeninitiative verkaufen. Sie ging der Sache jedenfalls auf den Grund. Es würde sich bei dem Tier ja nicht gerade um ein Sicherheitsrisiko handeln, aber man konnte ein verendendes Wesen nicht einfach daliegen lassen.