Es war keine Wolke am Himmel. Blassblau und kalt und weißes Sonnenlicht. Die Kopfschmerzen begannen in der Mitte der Stirn. Und wie weit es zu diesem Ding war. Sie kam nicht näher. Ihr war nicht mehr kalt. Sie zitterte nicht mehr. Sie stapfte. Die Schritte ohne ihr Zutun. Das Ding wurde nur langsam größer. Deutlicher deshalb nicht. Es war nicht auszunehmen, um was es sich da handelte. Dunkel. Eine Masse. Die Angst von vorhin. Die Schritte langsamer. Vorsichtiger gesetzt. Es war schon lange klar. Es war nur nicht denkbar. Es war eine Person. Es war ein Mann. Ein Mann hockte da inmitten des Schnees. Ein zusammengefalteter Mann. Die Fesseln waren erst aus der Nähe zu sehen. Näher erst. Die Hände waren zwischen die Beine gefesselt, so dass jede Bewegung an den jeweils anderen Fesseln scheitern musste. Die Fesseln zwangen ins Hocken, um nicht noch mehr gefesselt zu werden. Der Mann trug einen dünnen olivgrünen overall. Er starrte vor sich hin. Bemerkte sie nicht. Sie kam von der Seite. Sie umrundete ihn, ihm von vorne entgegenzutreten. Sie kam in sein Blickfeld. Sie wollte etwas sagen. Es gelang ihr nur ein Grunzen. Der Blick des Mannes. Er schaute nirgendwohin. Sein Blick ohne Bestimmung. Dann sah er sie aber doch und wandte sich ab. Er schloss die Augen und wandte sich ab.
Sie stand da und starrte auf den Mann. Er war mit dem Klettfesselband Polas gefesselt. Sie erkannte das schwarze Band sofort. So war es im Handbuch angeführt. Die bayrische Polizei schwor auf diese Art der Fesselung. Mit diesen breiten Fesseln ließen sich Verletzungen vermeiden. Es waren die sichersten Fesseln. Im Handbuch wurde aber nur die Fesselung angegeben. Die Entfesselung war da nicht als Aufgabe aufgeführt. Sie stand da. Dann hockte sie sich neben den Mann. Sie wollte ihn fragen. Sprechen. Aber was hätte sie sagen sollen. Das war ja. Absicht. Sie hockte da. Es war vollkommen sinnlos, sich von da wegzubewegen. Von irgendwoher wurden sie beobachtet. Sie war den ganzen weiten Weg über das Schneefeld zu dieser Person unter Beobachtung gewesen. Dieser Mann war auch den deutschen Gesetzen entsprechend behandelt. Man würde nichts sehen an ihm. Keine Spuren. Dafür war das Klettfesselband Polas ja erfunden. Spurenlosigkeit. Zumutbarer Stress war das. In Tschechien. Hier war Tschechien. Aber die hatten sicherlich ganz einfach ähnliche Gesetze. So machte man das. Es hatte keinen Sinn, etwas zu melden. Das war ja alles. Absicht. Ernstfall. Sie drehte sich um und schaute zu den Gebäuden zurück. Nichts. Niemand. Stille. Nichts zu sehen. Sie war allein hier. Der Mann. Sie stand auf. Schaute zurück. Sie winkte. Schwenkte die Arme. Sie konnte sehen, was der Mann gemacht hatte. Er hatte sich weggedreht. Er war gesprungen. Er war als der Haufen, zu dem ihn die Fesselung machte. Er war als Körperhaufen gesprungen und hatte sich von den Gebäuden abgewandt. Die konnten nur noch seinen Rücken sehen. Sehen, ob er zuckte. Ob er umfiel. Ohnmächtig. Schmerzkrämpfe. Schmerzstarre. Schmerzhalluzinationen. Und kein Kontakt. Der Mann hatte sich auch abgewandt. Er hatte sich nicht einmal um Hilfe an sie. Aufgeschaut. Wenn sie die Fesseln aufmachte. Wenn sie damit begann. Hier in der Kälte. Sie würden ohnehin beide bald erfrieren. Sie würden kommen und es neu machen. Boris und Schulz. Oder Kunz. Und Cindy. Gregory schickte nur. Heinz schaute nach. Anton wollte von nichts wissen. Die anderen alle.
Sie konnte nicht mehr so gut denken. Die Schneeweiße in den Kopf geraten und füllte. Die Arme waren um die Tasche wie festgefroren. Sie hielt die Tasche wie ein Schild vor sich. Sie hockte sich hinter den Mann. Griff nach den Fesseln. Der Mann war schmutzig. Urin und Kot. Eis am Stoff des overalls. Der Griff wollte nicht gelingen. Der Arm nicht zu bewegen. Wenn das ein Tier wäre. Sie würde alles tun können. Für ein Tier hätte sie aufstehen können und winken. Hilfe herbeiwinken. Sie hätte die Arme hoch über dem Kopf schwenken können. Signale. Signalisieren. Und angreifen. Ein Tier hätte sie angreifen können. Sich weniger gefürchtet. Bei einer Klettfesselung musste man den Anfang des Klettbands finden und mit einem Ruck wegreißen. Ein Klettbandverschluss hatte den Vorteil, dass die Fesselung sich durch das Fesseln selber festzurrte. Weg dann. Wie ein Pflaster. Mit einem Ruck. Ihre Finger hingen nur noch an der Hand. Ein Ruck. Das ging nicht. Nicht mehr. Vorhin. Beim Schuppen. Da hatte sie die Kälte noch gespürt. Jetzt war nichts mehr da. Watte. Ihre Finger waren Watte. Von der Hüfte hinunter. Watte. Im Kopf. Watte. Weiße. Gib dir einen Ruck. Eine Stimme im Kopf. Von wem. Niemand naher. Ärgerlich. Es ärgerte sich wieder jemand über sie. Nur schön und nichts im Hirn, würde die Stimme gleich sagen. Schule. Berufsberatung. Studienberatung. Bewerbung. Marina. Gregory. Sie riss an dem schwarzen Band. Der Mann fiel zur Seite. Keinen Ton. Sie kratzte mit dem Zeigefinger an dem Band. Die Handgelenke waren mit den Fußfesseln verwoben. Der Anfang der Fessel genau zwischen den Handgelenken und den Fußgelenken. Sie spürte nichts. Krabbeln. Was sie da tat. Das war Krabbeln. Krabbeln. Wo war dieses Ding. Der Anfang. Der Mann lag auf der Seite. Die Arme nach hinten überdehnt und die Beine hoch angezogen. Obszönes Krabbeln. Wenn jemand das sah. Von der Ferne. Es musste aussehen, als wollte sie etwas von dem. Ihn ankrabbeln. Diesen Mann. Und dann knallte er auseinander. Sie flog nach hinten. Das Band irgendwie erwischt. Der Mann auseinandergefaltet. Stöhnte. Sie lag im Schnee. Auf dem Rücken. Sie schaute in den Himmel. In die Sonne. Wenn sie die Augen zumachte. Erfror sie dann. Es war friedlich. Die Watte überall. Musste sie in die Sonne schauen. Genügte nicht der Himmel. Wo war der aber. Es gab nur Sonne. Das war nicht schön. Sie schloss die Augen. Das grelle Licht vom Schnee durch die Lider. Aber es war schöner. Schwebend. Schwebender. Betrunken. Sie war vollkommen betrunken. Sie musste lachen.
Dezember
Die Sonne schien noch. Über dem Schnee auf den Hügeln draußen rosiger Dunst. Die Hänge hinab blau. Lichtblau dunstig. Kalt. Sehr kalt und schon grau am Grund. Die Obstbäume schwarzzackig verkrümmt gegen den Schnee. Ragten über den Hügelrand in den Himmel. Wolken zogen vor die Sonne. Weißscheinend und dunkelgraue Fetzen. Rotbrennend am Rand. Die Sonne. Das Licht zwischen den Wolken in Strahlenbündel zerteilt. Das Kirchlein über Kötzting aus der Dämmerung gerissen und in dieses Licht getaucht. Kurz. Die Wolken verschwammen. Die Sonne ein oranger Ball hinter dunklen Wolkenstreifen. Goldglühende Ränder. Das graue Blau aus den Tälern. Stieg auf. Der Himmel dunkelviolettblau. Der Widerschein der Sonne orangefleckig auf den Wolken. Noch lange. Während längst schon die Nacht.
Sie lag da und sah der Sonne nach. Dass nur keine Leute kämen, dachte sie, und während sie es dachte, musste sie sich vom Eingang wegdrehen. Angst. Sie hatte Angst. Sie hatte Angst, es käme jemand durch den Gang von der Rezeption herunter. Käme in die Poolhalle. Ginge auf sie zu. Sie hätte weinen mögen. Dann wunderte sie sich über dieses Weinen und warum sie es nicht gut fand. Warum sie es nicht gut finden konnte, dass jetzt niemand da war. Dass sie jetzt allein war. Dass sie allein in der Poolhalle lag und das ganze Panorama ihr gehörte. Ihr allein. Dass niemand in dem pool schwamm. Und dass niemand im pool schmuste oder ohnehin fickte. Die Wochenendgäste stürmten das Hotel erst am Freitag und machten sich dann aber gleich daran. Es war Donnerstag, und sie hatte das Hotel für sich allein.