Выбрать главу

Sie wollte protestieren. Sie wollte sagen, dass sie Gino mochte. Dass sie mit Gino so ein Verlorene-Kinder-im-Pfadfinderlager-Verhältnis hatte. Dass sie beide allein da gewesen wären. Die Einzigen ohne Ziel. Dass sie Gino liebte. Aber nicht so, wie Gregory sich das vorstellte. Dass es noch mehr gab als Gregorys einfache Welt von Macht und Ohnmacht. Sie konnte aber nichts sagen. Sie hielt den Kopf gebeugt. Sie hielt das Gesicht in den kalten Luftstrom von vorne. Sie konnte keinen Ton von sich geben. Sie konnte auch nur atmen, weil die Luft so kalt war. Wäre die Luft wärmer gewesen. Sie hätte keine Luft bekommen können. Ihre Brust wie verriegelt. Die Erklärungen. Die Einsprüche. Die Wahrheiten. Ihre Meinung. Es brandete gegen diese Verriegelung an. Und dann gleich die Angst wie vor Erbrechen. Dass diese tobende Masse von Sprechen-Wollen den Riegel durchbrechen und sich in einem Schwall ergießen. Sie spürte es. Sie konnte spüren, wie das sein würde. Schreien. Schreien war das. Alle diese Dinge, die gesagt werden sollten. Die gesagt werden mussten. In einem Schwall. Und Gregory sie einliefern konnte. Würde. Musste. Und sie nie sagen können würde, was geschehen war. Was wirklich geschehen war. Was sie wirklich erlebt hatte. Was die Wahrheit gewesen war. Was die Wahrheit war. Und sie nickte. Sie deutete Gregory zu gehen. Sie spielte eine Rolle und sah sich zu. Sie war die gebrochene überforderte Freundin dieses halbtoten Mannes. Gregory grinste. Sie spürte Gregory grinsen. Das mache sie sehr gut. Selbst wenn jetzt noch jemand zusähe, wäre sie glaubhaft. Sie müsse es für ihn nicht machen, aber wenn sie es für sich bräuchte, die Rolle durchzuhalten, dann solle sie das ruhig tun. Sonst wäre es ja nicht notwendig, für einen solchen toyboy Gefühle zu verschwenden. Es täte ihm ja leid, aber man müsse einfach sehen, dass es besser wäre, dieser kleine Stricher wäre drangekommen als Cindy. Cindy ginge es schlimm genug. Und sie solle diesem Ingotypen ausrichten, dass Allsecura sich erkenntlich zeigen würde. Die Kosten für das Krankenhaus jedenfalls. Sie schaute Gregory fragend an. Der wäre bestimmt nicht versichert. Das würde er jedenfalls annehmen. Aber das wäre ja gleichgültig. Es wäre nichts passiert, was nicht wieder gut werden könne, und sie. Amy. Sie habe sich bestens bewährt. Das freue ihn, dass er der lieben Tante in London Gutes berichten könne. Er habe es ja gewusst. Sie wäre ein Talent. Und wäre es nicht erstaunlich, was eine schöne Frau alles behaupten könne, ohne dass jemand nachfragte. Wie dieser Mann am Eingang ihm gesagt hatte, dass die Ehefrau schon bei Ingo Denning sei und er ihr Auto auf dem Parkplatz gesehen habe.

Gregory war in Hochstimmung. Er wetzte beim Reden und fuchtelte mit den Händen. Er riss ihre rechte Hand in seiner eingefangen mit herum. Sie wurde herumgerissen. Seine Begeisterung riss sie in alle Richtungen. Dann hob Gregory die Hand, um mit ihr abzuklatschen. Sie schaute aber weiter nach vorne. Gregory wurde ruhig und beugte sich vor. Er entließ ihre Hand. Er zog den Handschuh von der rechten Hand. Er legte den Handrücken der rechten Hand gegen ihre linke Wange. Er ließ den Handrücken an ihrer Wange liegen. Dann stieß er sie mit einem kleinen Schubs weg.»Attagirl. «sagte er. Leise. Verschwörerisch. Dann schwang er sich nach rechts und stieg aus. Er schloss die Autotür und schlug mit der flachen Hand auf das Autodach. Zweimal. Sie stieß den Schaltknüppel in den Rückwärtsgang. Stieg auf das Gas. Sie schoss auf den Parkplatz hinaus. Schaltete. Wandte den Wagen und raste davon. Ein großer dunkelgrüner SUV stand links in der Ecke des Parkplatzes. Mit laufendem Motor. Einen Augenblick der Impuls, dagegenzufahren. Einfach auf dieses Auto und hinein. Dann war sie schon auf der Straße. Sie war zu schnell um die Kurve. Sie hatte Mühe, das schleudernde Auto auf der Straße zu halten. Sie fuhr dann langsamer. Davon. Nur davon. Es war wieder dunkel geworden. Es begann zu schneien. Auf dem Weg zurück ins Hotel. Es schneite dicht. Sie fuhr zum Hotel zurück, weil sie zu müde war, gleich nach Wien zu fahren. Zum Mammerl. Oder in ihre Margaretenstraße. Zu den Schottolas konnte sie ja nicht. Die hatten ja jetzt diese Sandra. Noch einmal ein Pflegekind, hatten sie gesagt. Sie hatte nichts sagen können. Was konnte sie, das Pflegekind Nummer 3, schon sagen. Aber es würde nicht gut ausgehen. Das war traurig. Das war sehr traurig. Es war überhaupt das Traurigste, wenn es die Netten traf. Sie. Sie kannte die Welt. Sie hatte eine drogensüchtige Mutter. Mehr musste niemand von der Welt wissen. Aber die Schottolas. Oder Gino.

Sie wurde angehupt. Sie hatte das Licht nicht aufgedreht. Sie schaltete das Licht ein.

Auf dem Parkplatz des Hotels. Die Heizung hatte das Auto endlich warm gemacht. Sie hatte auf die höchste Stufe geschaltet und sich aufgewärmt. Sie blieb im Auto sitzen. Sie sah den Schneeflocken zu, wie sie auf der Windschutzscheibe auftrafen. Einen Augenblick waren sie noch Schneeflocken, dann zerrannen sie zu winzigen Tropfen. Das Schlimmste war der Kaschmir gewesen. Die Erinnerung an diesen weichen, seidig glänzenden schwarzen Stoff gegen ihre Vliesjacke. Gegen ihren Arm. Wie dieser Stoff gegen ihre kalte Hand. So leicht gelegen. Und ihr plötzlich die Tiere einfallen hatten müssen und wie sie geschoren wurden. Wie sie, an den Hinterbeinen gehalten, geschoren wurden. Wie die Wolle um sie im Abdruck ihrer Körper zu liegen kam und die bleich rosigen Körper davonsprangen.

Sie saß da. Das Auto kühlte aus. Im Motor knackte es. Sie war so ein bleich rosiger Körper, dachte sie. Aber warum sprang sie nicht davon. Was machte sie so. Drückte sie nieder. Wieder fiel ihr der Kaschmirstoff ein. Wie die Arme von ihm und ihr. Wie die Ärmel. Nebeneinander. Und wie elend sie dabei. Und jetzt. Sie blieb sitzen. Nach und nach stockten die winzigen Tropfen, und eine verschwommen schlierige Schicht Eis bildete sich.

Jänner

Sie wusste nicht gleich, dass sie in London war. Wellington Square. Im Haus von Marina. Sie lag in einem kleinen Zimmer mit sehr niedriger Holzdecke. Das Holz weiß gestrichen. Eine gestreifte Tapete an den Wänden. Himmelblau und weiß mit einer Rosengirlande. Auf weißem Untergrund waren die Rosen rosenrot. Auf dem blauen Untergrund waren sie weiß. Das war das andere Dienstmädchenzimmer auf Wellington Square. Melvin wohnte im anderen. Melvin, der schwedische Au-pair-Boy.

Es war kalt im Zimmer. Sie griff unter der Decke heraus nach der Heizung. Lauwarm. Gerade nicht kalt. Sie zog die Hand zurück. Die Tante Marina hatte die Heizung so sparsam eingestellt, dass hier oben gerade nichts einfror. Sie setzte sich auf und schaute nach. Der Heizungsschalter war auf die höchste Stufe gestellt. Die Heizung war einfach schwach. Sie musste ins Badezimmer laufen und dann gleich die Dusche aufdrehen und das Badezimmer mit dem Wasserdampf aufheizen. Dann konnte sie sich nicht im Spiegel sehen, aber wenigstens war es im Badezimmer dann angenehm. Angenehmer.

Aber sie fühlte sich wohl. Sie lag still. Ja. Sie fühlte sich wohl. Klar. Innen war alles klar. Diese Magenverstimmung oder was das gewesen war. Dieses Elend tief in der Mitte. Es war weg. Sie hatte Hunger. Sie würde heute frühstücken. Sie würde zu» Whole Foods «wandern und dort ein riesiges, gesundes Frühstück essen. Obstsaft. Porridge. Kaffee. Alles frisch und bio. Und dann in den Park. Und dann. Was dann.

Sie verschränkte die Hände hinter dem Kopf. Was sollte sie dann tun. Sie hatte in Wien sein wollen. Mit dem Mammerl zum Ausverkauf. Sie war aber gefangen. Gefangen in London. Die Marina hatte aus Italien nicht zurückkommen können. Wegen des Schnees. Kein Flugverkehr wegen des Schnees. Dabei war es nicht so viel. Hier. In der Stadt. Da lag Schnee nur noch auf den Grasflächen. Überall sonst war er vom Wind fortgeblasen oder geschmolzen. So kalt war es dann doch nicht. Es reichte nur dazu, dass dieses Zimmer eiskalt war. Sie zog die Decke bis zum Mund herauf. Drehte sich auf die Seite. Dann schlug sie die Decke weg und stand auf. Sie war taumelig und ging schnell zur Toilette. Sie musste auf den Gang hinaus und in das Badezimmer zwischen den beiden Zimmerchen. Sie gähnte noch an der Tür und wollte die zwei Schritte über den Gang machen. Sie blieb stehen. Musste stehen bleiben. Ein schneidendes Gefühl in der Scheide. Glatt. Schneidend. Ganz kurz. Dann war ihr Slip feucht, und es rann Blut den rechten Schenkel hinunter. Warm und klebrig. Sie raffte das Nachthemd zwischen die Beine und ging ins Badezimmer. Sie horchte noch, ob sie etwas von Melvin hörte. Sie versperrte die Tür hinter sich. Leise. Melvin nicht aufzuwecken. Sie stand da. Hielt mit der rechten Hand das Nachthemd zwischen die Beine. Es rann nicht mehr. Aber es war etwas Festes durch ihre Scheide gerutscht. Etwas Festes, das einen scharfen Rand haben musste. Nicht scharf genug für einen richtigen Schnitt. Aber scharf genug, in Erinnerung zu bleiben.