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Sie lehnte sich in dem breiten Lederdrehsessel zurück. Im Haus war es vollkommen still. Von draußen Autos. Aber weit weg. Die Fenster schalldicht. Sie schob das Bronzepferd vorne auf dem Schreibtisch zur Seite. Und wieder zurück.

Er müsse aufhören, sagte der Onkel Schottola. Er müsse noch einkaufen. Milch und Brot. Er habe nichts zu Hause. Und dann wolle er den ganzen Nachmittag bei Trude bleiben. Sie habe heute keine Chemo, und er würde ihr vorlesen. Was er ihr denn vorläse, fragte sie.»Don Quixote. «antwortete er und lachte leise. Ob es ihr wieder gutginge. Und ja. Sie konnte das bejahen. Sie glaubte nicht mehr, dass sie sterben müsse. Das sagte sie aber nicht. Sie schickte ihm Bussis, und dann legten sie auf. Sie wusste jetzt auch, was das war. Sie hatte eine Fehlgeburt.

Das, was sie da in der Seifenschale auf das Fensterbrett in ihrem Zimmer oben gestellt hatte. Das musste eine Fehlgeburt sein. Es gab keine andere Erklärung. So, wie das aussah. Wie sich das angriff. Wie sie sich gefühlt hatte. Das Unmögliche war nur, dass sie mit niemandem geschlafen hatte. Seit dem August in Soulac-sur-Mer hatte es niemanden gegeben. Wenn sie davon schwanger gewesen wäre, dann wäre sie im 5. Monat gewesen, und das war nicht möglich. Sie hatte dazwischen die Regel gehabt. Oder doch. War das doch möglich, und sie würde in der nächsten Stunde einen Blutsturz haben und hier in diesem Haus verbluten. Sie hatte heute noch nichts von Melvin gehört. Der war gar nicht zurückgekommen. In der Nacht. Der feierte durch, und sie war allein. Ganz allein. Allein mit ihrem toten Kind. Schon während sie das zu denken begann. Während sie das Wort» totes Kind «zu denken anfing, musste sie den Kopf auf den Tisch legen. Sie legte die Arme auf den Schreibtisch und den Kopf auf die lederne Schreibunterlage. Sie lag so über den Tisch geworfen und fühlte die Kühle des Leders und die Kälte des Holzes gegen das Pulsieren ihres Blutes unter der Haut. Ihr totes Kind. Das Vorwerfen ihres Körpers hatte einen Schwall Blut austreten lassen. Sie musste zu einem Arzt. Sie musste versuchen, ob etwas zu retten war. Aber was sollte gerettet werden. Es konnte nichts geben. Es konnte kein Kind geben. Es konnte keine Schwangerschaft geben. Aber sie wusste es ganz genau. Während des Gesprächs mit dem Onkel Schottola. Während sie ihn über seine Wochenendpläne ausgefragt hatte. Während er über die Krankheit von der Tante Schottola geredet hatte. Es war aus sich heraus klargeworden. Das war eine Fehlgeburt. Ihr Körper wusste das ganz genau. Sie war unsicher. Es tat nichts weh. Jetzt nicht. Es war leer. Tief im Bauch war es leer. Ihre Wange lag auf dem Leder. Das Leder erwärmte sich, und sie begann zu schwitzen. Sie konnte spüren, wie ihre Haut feucht wurde und das Leder an der Haut zu kleben begann. Klebrig. Die Haut wurde klebrig. Die weitausgestreckten Arme. Das Holz blieb kalt. Unerträglich. Alles unerträglich. Warum war sie nicht gestorben. Sie wollte nicht weiter.

Es war dann, weil sie erstaunt war. Sie schüttelte den Kopf. Vor Staunen. Was ihr da geschah. Geschehen war. Geschehen würde. Das passierte ihr nicht. Das konnte ihr nicht passieren. So etwas passierte nicht. Ihr nicht. Und beim Schütteln blieb das Leder an der Wange kleben. Sie hob den Kopf. Die Schreibunterlage verrutschte. Papier kam zum Vorschein. Sie schob die Schreibunterlage zur Seite. Sie kannte den Briefkopf. Das war der Anwalt, der die Sammelklage organisiert hatte. Wegen dieser Sammelklage saß sie hier. In London. Weil die Marina ihre Unterschrift brauchte. Weil sonst der österreichische Staat nicht über die Rückgabe des Bilds weiterverhandeln würde. Wenn nicht alle Erben in einer Erbengemeinschaft zusammengefasst aufträten, dann würde es keine Restitutionsverhandlungen geben. Es sollten alle Forderungen gebündelt vertreten werden. Der Anwalt hatte sie mit Briefen verfolgt. Die Marina war sogar zum Mammerl nach Wien gekommen, und die hatte brav unterschrieben. Wie immer. Das Mammerl war der Marina noch nie gewachsen gewesen. Dabei war die Marina die jüngere Halbschwester. Um 15 Jahre jünger, aber trotzdem selber uralt. Sie hatte sich geweigert. Sie hatte sich geweigert, weil die Betsimammi nicht vertreten gewesen wäre. Sie hatte ihrer leiblichen Mutter die Treue gehalten. Ihretwegen konnte die ganze Geschichte mit diesem blöden Bild ins Wasser fallen. Wenn ihre Mutter nicht beteiligt war, dann war das nicht die vollständige Erbengemeinschaft, und das galt alles nicht. Das konnte alles nicht gelten. Aber da war ihre Unterschrift. Sie kannte diese Schrift. Krakelig, eckig. Elisabeth Armbruster, geborene Schreiber. Adresse. 1130 Wien, Auhofstraße 56.

Sie nahm die Papiere. Stapelte sie vorsichtig. Sie öffnete die einzelnen Laden. Sie fand keine Plastikmappe. Kuverts. Aber nur in der halben Größe. Sie faltete die Papiere und steckte sie in ein Kuvert. Sie schob die Schreibunterlage zurecht. Stand auf. Wischte den Sitz des Ledersessels mit der Daunendecke ab. Sie warf sich die Daunendecke über die Schultern und ging in ihr Zimmer. Die einzige freie Zeile war neben ihrem Namen. Sie war die Letzte, die von der Marina eingefangen werden musste.

Im nächsten Stockwerk. Sie stand auf dem dunkelrot-schwarzen Spannteppich und schaute die Stiegen hinauf. Sie rief nach Melvin. Sie schrie» Melvin«. Irgendjemand sollte da sein. Sie wollte ihn auch nur sehen. Sie wollte nur die Gewissheit, dass überhaupt noch jemand anderer existierte. Sie schrie noch einmal und löste wieder einen Schwall Blut aus. Das Blut lief die Beine hinunter. Tropfte auf den Teppich. Es kam keine Antwort. Melvin war nicht da. Es war niemand da. Sie ging in Marinas Schlafzimmer. Auch hier lief die Heizung. Sie ließ sich auf Marinas Bett fallen. In Marinas Schlafzimmer war alles golden und pfirsichfarben mit scharlachroten Akzenten. Sie ließ sich auf das Bett fallen. Auf die Daunendecke und stand dann schnell wieder auf. Sie ging in Marinas Ankleidezimmer und schaute sich um. Sie fand keine Binden oder Tampons. Das würde es bei Selina geben. Sie nahm ein Prada-Wochenendcase aus dem Kasten mit den Koffern und Taschen und einen hellgrauen Schal. Ein spinnwebfeines Gewebe.

Bei Selina versorgte sie sich mit allem. Sie duschte in Selinas Badezimmer. Türkis und dunkelblau. Sie zog ein Paul-Smith-Kleid an und nahm dunkelbraune Stiefel. Mantel. Die Mäntel von Marina und Selina waren alle zu madamig. Wirkten ältlich. Upperclass. Spießig. Sie stieg zu ihrem Zimmer hinauf. Stopfte ihre Sachen in die große Prada-Tasche. Sie rollte die Daunendecke zusammen. So klein es ging, und rammte sie in die Plastiktasche vom Flughafen München, in der sie die Handcreme aus dem duty free transportieren hatte müssen. Die Daunendecke passte nicht ganz hinein. Außerhalb der Plastiktasche sprang sie auf. Braunblutige Schmierer zeigten sich. Sie trug ihre Taschen. Nahm die zusammengerollte Daunendecke unter den Arm. Balancierte die Seifenschale und ging hinunter. Sie ließ alles im Salon zurück und ging in die Küche. Sie hielt die Seifenschale weit von sich weg.