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In der Küche musste sie sich setzen. Die Seifenschale stand auf der Frühstückstheke am Fenster. Der Terrassenboden gleich vor der breiten Schiebetür nur noch am Rand feucht und Schneereste. Auf dem Rasenstück bis zur Hecke lag der Schnee nass glänzend und dünn. Spuren im Schnee. Kreuz und quer. Die Füchse.

Sie saß auf der schwarzgraufleckigen Steinplatte der Frühstückstheke am Fenster und schaute auf die Gärten hinaus. Weiß und schwarz. Der Schnee am Boden. Die nackten Äste der Bäume und Sträucher feucht glänzend. Es war nicht kalt genug. Der Schnee blieb nur auf den Rasenstücken liegen. Die schmalen Gärten. Immer ein kleines Rasenstück und Hecken rundherum. Bäume an der Mittelgrenze. Sie schaute hinaus. Sie wollte wissen, wo die Füchse wohnten. Die Füchse waren in der Nacht zu hören und ihre Schatten zu sehen, wenn sie über die Schneeflecken huschten. Die Füchse husteten. Sie hatte sich gefürchtet. Die ersten beiden Nächte. Dann hatte sie Melvin gefragt. Melvin hatte lachen müssen. Foxes. Das wären die Füchse. Ja. Das klänge, als huste ein Orchester von alten Männern da draußen. Am Tag war nichts zu sehen. Wo lebten die am Tag. Die Hecken waren schmal. Der Rasen glatt. Nirgends eine Ecke, die ein Versteck bot. Nirgends ein Schuppen, hinter dem Platz gewesen wäre. Hier kamen die Gärtner mit ihren Gartengeräten her. Hier war der Grund so teuer, dass niemand den Platz für einen Schuppen verschwendet hätte. Wo lebten also diese Füchse. Kamen die von anderswo hierher. Lebten die auf der Straße. Aber die Gärten dieses Blocks. Es gab nur eine Stelle, an der ein Garten an die Straße reichte. Von Woodfall Street gab es eine Möglichkeit. Sie war eigens um den Block gegangen, um das zu sehen. Kamen diese Füchse als Touristen in der Nacht in die Gärten und husteten da herum.

Ihr war elend gewesen. Wochenlang war ihr elend gewesen. Sie war schwer von diesem Elend gewesen. Sie hatte nie wieder aufstehen wollen und dieses Elend herumtragen. Sie hatte nur Kaffee trinken können und sich Alkohol gewünscht. Sie hatte sich die Schärfe von Whisky gewünscht. Dieses Elend im Leib durchzuschneiden. Whisky nippen. Am Fenster sitzend und in diese Gärten hinausstarrend hatte sie sich gewünscht, Whisky zu nippen und das Elend wegzudrücken und die Weinerlichkeit zu vertreiben. Und die Unruhe. Die Unruhe, die Arme und Beine flattern ließ, obwohl sich nichts bewegte. Die Unruhe hatte vom Bauch aus in den Kopf ausgestrahlt und in die Gliedmaßen. Im Kopf war die Unruhe auf die Weinerlichkeit getroffen und hatte sie stöhnen lassen. Sie war am Fenster gesessen und hatte hinausgestarrt und gestöhnt dabei. Den Whisky hatte sie nicht getrunken. Sie war zu schwer gewesen, hinunterzusteigen und eine Flasche aus dem Salon heraufzutragen. Melvin hätte das sicherlich für sie gemacht. Melvin erkundigte sich alle zwei Stunden, ob sie etwas bräuchte. Sie hatte nichts gebraucht. Und Melvin war ihr auf die Nerven gegangen.

Heute. Jetzt. Es war alles wieder klar. In ihr. Es war alles klar und eindeutig, und sie konnte wieder denken. Selbst das Unglück war scharf umrissen und schattenlos. Die Angst war ungenau geblieben. Aber die Angst war tief unten. Hinter allem. Und eigentlich war sie in der Angst. Sie bewegte sich in Angst. In diesem Haus war es nur besonders deutlich. Sie schaute auf die Fuchsspuren hinaus. Sie hätte sich mit einem Fuchs unterhalten wollen. Sie hätte einem Tiergesicht ihre Geschichte erzählen wollen. Einer Person. Einem Menschengesicht. Sie hatte es ja nicht einmal dem Onkel Schottola erzählen können. Das Ausmaß war zu groß. Oben. In der Brust oben. Da, wo sie noch empfinden konnte. Da war das Wissen ausgebreitet, dass diese Geschichte nicht erzählt werden konnte. Nicht das, was sie von dieser Geschichte selber wusste. Und schon gar nicht, was sie vermuten musste, das geschehen war und woraus sich die Folgen ergeben hatten, mit denen sie. Sie dachte nach. Kämpfte sie mit den Folgen. War das kämpfen. Es schien ihr mehr, dass sie entlanggeführt, wurde. Sie wurde die Folgen entlanggeführt und sie konnte nicht sehen, wer das war, der sie führte. Weil diese Person in ihr innen war. Innen in ihr gewesen war. Das war ja nun nicht mehr so. Sie war leer. Ausgeleert. Und anstelle der Schwangerschaft hatte sie die Adresse ihrer leiblichen Mutter, von der sie angenommen hatte. Alle hatten sie in dem Glauben gelassen. Alle hatten genickt und bejaht. Ihre Mutter lebte in Amsterdam. Sie war Künstlerin und ging in die coffee shops. Sie war eine Künstlerin wie die Urgroßmutter und behandelte ihre Kinder wie die Urgroßmutter. Sie ließ ihre Kinder von anderen aufziehen und lud sie zu den Ferien zu sich ein. Sie war nie eingeladen worden. Sie hatte drei Briefe von ihrer Mutter, und weil die aus Amsterdam waren, hatte sie angenommen, dass. Aber das war alles zu viel. Ein stechender Schmerz im Unterleib.

Sie suchte in den Schubladen. Sie fand dann eine flache Glasdose mit Plastikdeckel. Zum Aufbewahren von Schinken im Eiskasten. Oder Käse. Geschnittener Käse.

Sie ließ das Ding in diese Glasdose gleiten. Sie rammte die Seifenschale zur Daunendecke in den Plastiksack. Warf das alles in einen riesigen Müllsack aus wasserblauem Plastik. Glänzend. Sie verknotete den Müllsack. Sie öffnete die Sicherung an der Glastür zur Terrasse. Das war eine Einladung an die Einbrecher. Sie wünschte sich, dass jemand einbrechen würde. Am liebsten solche, die in den Häusern wüteten. Die Fäkalien über alles schmierten. Die alles zerschnitten. Die alles zerschlugen. Die Sammlung von Jugendstilvasen. Das kostbare Glasservice. Die Lobmeyr-Gläser. Alles, alles Scherben und ein scharf bitterer Geruch. Und vielleicht kamen dann die Füchse ins Haus und wohnten da. Vielleicht wohnten die Füchse in solchen Häusern wie diesem hier. Die Aunt Marina. Sie war doch fast nie da. Das Haus in Italien. Das Haus in Los Angeles. Der Mann in Stockholm. Töchterchen Selina auf St. Andrews. Studierte. Oder so. Sie nahm die Glasdose und den Müllsack.

Sie ging noch einmal zurück und öffnete die Tür zur Terrasse hinaus. Einen schmalen Spaltbreit ließ sie die Tür offen stehen. Sie wollte nicht feig vor sich dastehen. Dass sie wieder zu höflich gewesen wäre. Das musste Rache sein. Wenn die Marina so einen Fuchs in ihrer Designerküche antreffen würde. Sie stieg zum Salon hinauf. Sammelte ihre Sachen ein. Im Vorzimmer zog sie dann doch ihren alten Dufflecoat an. Sollte sie die Schlüssel zurücklassen oder mitnehmen. Was würde denen mehr Sorge machen. Dass sie in London verloren herumirrte oder dass sie den Schlüssel zum Haus hatte und sie das Schloss ändern mussten, weil sie nicht wussten, wo sie war und was sie vorhatte. Sie steckte den Schlüssel ein. Die Marina würde ohnehin immer glauben, dass sie mit einem Mann zusammen war. Weil die Marina sich das selber wünschte. Sie ging. Sie ließ die Haustür hinter sich ins Schloss fallen. Aber sie versperrte die Tür nicht.

In der underground. Sie fuhr nach Euston Square. Sie hatte oft genug das Spital gezeigt bekommen, in dem ihre Urgroßmutter gestorben war. In dem die Gebärmutter ihrer Urgroßmutter in den Sondermüll geworfen worden war. Es war dann trotzdem nicht genug herausgeschnitten gewesen, und die Metastasen hatten sie noch gelähmt. Vor dem Sterben. Zum Sterben war sie aber in ihr Haus in Golders Green gegangen. Gestorben war sie da nicht. In diesem Spital. Und das hinter Marinas Haus. Royal Hospital. Royal. Das brauchte sie nicht. Das hatte sie auf der Moira House Girls School gelernt. Dazu war sie nicht gestört genug. Sie saß in der Circle Line. Sie war zu Sloane Square geeilt. Schnee war nur noch rund um die wenigen Bäumchen auf King’s Road gelegen. Sonst alles nass und kalt. Mit dieser Kälte, die an die Haut kroch und sich unter der Kleidung einnistete. Sie hätte einen Pelzmantel von Marina anziehen sollen. Aber sie hatte keinen gesehen. Wahrscheinlich waren die beim Pelzhändler und hingen in einem Kühlschrank. Oder sie waren alle mit in Italien. In Italien konnte man ja Pelze tragen. Da waren alle von Pelzen begeistert. In London gab es doch immer noch Widerstand, und es wurde mit Farbbeuteln auf Pelze gezielt. Unter dieser konservativen Regierung verhaftete einen die Polizei sicherlich gleich. Wenn man nur in die Nähe von Pelzen kam und einen Plastikbeutel in der Hand trug, wurde man abgeführt. So einen Plastiksack, wie sie neben sich liegen hatte. Wo sollte sie den loswerden. Es gab nirgends Papierkörbe oder Mülltonnen. Nirgends. Wenn sie diesen Sack stehen ließ, wurde sie von einer Kamera sicherlich gefilmt. Sie sah aus wie eine bag lady. Mit diesem Zeug in der Hand. Sie sah sich um. Sie saß allein auf der Bank. Gegenüber ein Paar. Sie hatten Kaffee von» McDonald’s «in der Hand. Sie schauten vor sich hin. Ließen sich schaukeln. Wie spät war es eigentlich. Sie wusste nicht, wie spät es war. Sie hatte das Aufladekabel für ihr handy vergessen, und Uhr trug sie keine. In der underground station. Sie hatte sich nicht umgesehen. Sie versuchte, einen Blick auf die Uhr des Mannes zu werfen. Sie wünschte sich ihr snowboard und einen Hang und lockeren Naturschnee und sonst nichts. Sie sah sich boarden. Weiche lange Bögen. Die Hüften. Das Genick. Die Schultern. Alles gefasst. Alles bereit zu springen und easy. Den Bogen vom Boden in die Luft hinaufziehen und in der Leichtigkeit da den Umschwung. Dann der nächste Hügel.