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Sie konnte dann aufstehen. Sie schob erst das linke Bein über den Bettrand. Dann das rechte. Sie ließ die Beine hinunterhängen. Das half. Sie konnte tief Luft holen. Die Angst schien gleich lächerlich. Sie stand auf. Ließ die Füße auf den Boden gleiten und stellte sich auf. Sie hielt sich am Nachtkästchen fest. Es ging. Es war zwar, als wäre sie in ihrem Leben noch nie gegangen. Als lernte sie das gerade. Aber sie würde hier wegkommen. Es war sehr wichtig. Es war dann mit einem Mal das Wichtigste. Sie ging zum Kasten. Der Schlüssel für ihre Kastentür steckte. Sie schlurfte auf den Schrank zu. Es war schwierig, die Füße zu heben. Sie riss ihre Kleider aus dem Kasten und kehrte zum Bett zurück. Sie musste sich hinsetzen und warten. Sich zu bewegen. Das war mühselig. Langsam. Ganz langsam begann sie, sich anzuziehen. Sie ließ die Unterwäsche weg. Sie zog die Strumpfhose über das Netzhöschen mit der dicken Binde. Den Rock. Das dunkle shirt über die nackte Haut. Das Spitalshemd war nach vorne abzustreifen, und sie musste nichts über den Kopf ziehen. Sie war dankbar dafür. Die Vorstellung die Arme in die Höhe und an einem Kleidungsstück zerren. Die Vorstellung ließ ihre Schultern in Erschöpfung sinken. Die Jacke. In Strümpfen ging sie ins Badezimmer. Auf der Toilette. Sie starrte das helle Blut an. Ein langer Streifen dickfeuchter Watte und hellrot. Das Dunkelbraun des Dings in der Glasdose fiel ihr ein, und sie wurde noch müder. Dann nahm sie eine neue Binde. Ein Stapel davon vor dem Badezimmerspiegel. Sie zog sich an. Fuhr sich mit dem Handtuch über das Gesicht. Trocken. Sie konnte sich nicht waschen. Sie hatte einen ungeheuren Abscheu gegen die Nässe davon. Wasser. Auf den Händen. Im Gesicht. Der Abscheu löste ein Schluchzen aus. Einen einzigen Schluchzer. Sie warf die blutige Binde in den Abfallkübel. Sie hob den Deckel mit der Hand und hielt die Binde noch lange. Das war es also, dachte sie. So sah das aus. Der Schneewittchen-Fleck im Schnee. So rot wie Blut. Aber ihre Mutter war nicht gestorben. Ihre Mutter war zu ihrer bösen Stiefmutter geworden. Sie. Sie war nun keine Mutter geworden. Ohne von der Möglichkeit zu wissen. Überhaupt. Das war traurig, wie alles traurig war und wie alles nichts mit ihr zu tun hatte. Mit ihr persönlich. Sie ließ den Kübeldeckel über der Binde zufallen. Sie sah sich kurz im Spiegel. Beim Vorbeigehen. Sie hatte den Kopf gebeugt. Ihr Kopf war gesenkt, und sie sah sich selbst von unten. Darüber hätte sie weinen mögen. Wenn sie die Kraft gehabt hätte.

Im Zimmer stand eine Krankenschwester. Sie trug eine Mappe.»Frau Schreiber. «sagte sie. Das wäre ja schön, dass sie schon auf sei. Dann könne sie ihre Abmeldung gleich erledigen. Sie müsse nur hinunterfahren in die Halle und in die Aufnahme gehen und wieder zurückkommen. Die Frau drückte ihr die Mappe in die Hand, warf einen Blick auf die schlafende Frau in dem anderen Bett und ging. Mit einer energischen Drehung rannte sie aus dem Zimmer. Das Frühstück käme dann auch gleich, rief sie noch ins Zimmer zurück. Und die Visite. Die müsse sie abwarten.

Sie zog ihre Handtasche aus dem Fach des Nachtkästchens unter dem heruntergeklappten Tischchen. Das war ihre Sicherheitsmaßnahme gewesen. Sie hatte gedacht, dass sie aufwachen würde, wenn jemand diese Tischplatte hochklappen würde und die Tür des Nachtkästchens aufzerren, um an ihre Handtasche zu kommen. In der Handtasche war der Abholschein für das Kriminallabor. Sonst war da nichts Wertvolles. Aber so weit war die Ausbildung an ihr erfolgreich gewesen. Und es war alles da. Sie stellte die Tasche auf das Bett. Der grüne Zettel war im Seitenfach eingezippt. Dieser grüne Zettel würde sie zum großen bösen Wolf führen.

Sie ging auf den Gang. Das war alles lächerlich. Sie verstand, was Alter war. Erschöpfung. So musste es sein mit 90 Jahren. Geh schneller, sagte sie sich. Und nichts passierte. Der Befehl kam nirgends an. Sie schlurfte nach rechts auf den Gang und in die Halle mit den Liften. Schon auf dem Gang Leute. Vor den Liften. Viele. Sie konnte nicht Lift fahren. Sie konnte Lift fahren, aber sie konnte keine Person nahe haben. Sie konnte niemanden nahe vor ihrem Bauch haben. Sie wollte zu Fuß gehen. Sie schaute sich nach der Stiege um. Sie war im 16. Stock. Ein Lift kam. Der Pfeil über der Lifttür am anderen Ende leuchtete auf. Es ging hinunter. Sie ließ alle Leute einsteigen. Dann schob sie sich in den Lift. Knapp an der Tür. Gleich bei den Schaltknöpfen. Sie drehte sich der Tür zu. Drehte allen Personen in dem Lift den Rücken zu. Der Lift blieb dreimal stehen, und Leute stiegen zu. Sie musste jedes Mal dagegen ankämpfen, auszusteigen. Sich davonzumachen. Und sie fühlte, wie ihr Genick sich zusammenkrampfte und sie den Kopf nicht mehr heben konnte. Den Kopf nicht mehr tragen. Es war dann aber keine Erleichterung, in die Halle zu gehen. Es schienen ihr alle Leute auf sie zuzusteuern. Auf sie zuzulaufen. In sie hineinzulaufen. Sie hielt diese Mappe an sich gepresst. Die Tasche unter den Arm geklemmt.

In der Aufnahme. Sie ging an den Schalter mit der Aufschrift» Entlassung«. Sie schob die Mappe unter dem Glas durch. Die Frau verlangte ihre e-card. Sie suchte die Karte aus dem rotledernen Etui heraus. Schob die e-card unter dem Glas durch. Die Frau steckte die Karte in ein Gerät. Schrieb etwas in ihren Computer. Dann schob die Frau alles unter dem Glas durch zu ihr zurück und wandte sich ab. Die Frau stand auf und ging nach hinten weg. Sie nahm die Mappe und ihre e-card und ging hinaus. In der Halle. Es roch. Es roch nach Kaffee und Kebab und Pommes frites. Es war gerade 8 Uhr. Pommes frites. Vor der Information stand eine lange Schlange Wartender. Menschen kamen durch die Eingangstüren. Kamen von den Liften. Fuhren mit den Rolltreppen in die oberen Stockwerke hinauf. Gingen in den Supermarkt. Standen an der Kassa da an. Ein Getöse. Das Gehen und Sprechen. Ein Summen und Tosen.

Sie ging zu den Liften zurück. 16.Stock. Sie musste in den 16.Stock. Die Wartenden standen vor den Liften. Sie konnte nicht einsteigen. Es waren zu viele. Aber sie musste hinauf. Sie überlegte, ob sie musste. Sie hatte ihre Handtasche mit. Was brauchte sie von oben. Sie konnte die Mappe in der Aufnahme abgeben und abhauen. Weggehen. Sie musste da nicht mehr hinauf.

Sie schaffte es dann doch. Sie wartete so lange vor einem der Lifte, bis der ankam. Sie drückte 16 und stellte sich nach hinten in die Ecke. Der Lift fuhr zuerst ins Parkhaus. Erstes Untergeschoss. Zweites Untergeschoss. Dann war sie allein im Lift bis zum Erdgeschoss. Dann strömten die Menschen in den Lift. Bis zum 16.Stock waren die meisten wieder weg. Sie ging zuerst in die falsche Richtung. Sie war in der 2. gynäkologischen Abteilung. Sie fand sich in der 1. Sie musste an den Liften vorbei. Alles sah genauso aus wie in der anderen Abteilung. Sie sah dann ihren Namen an der Zimmertür. Sie zog das Namensschild aus dem Rahmen. Es war widersinnig. Niemand suchte sie. Niemand wusste, dass sie hier war. Sie wollte nicht benannt werden. Sie wollte ihren Namen nicht lesen.

Im Zimmer. Die Frau im anderen Bett schlief. Das Tischchen an ihrem Nachtkästchen war aufgeklappt. Ein Tablett stand da. Eine Tasse Kaffee. Joghurt. Ein Kipferl. Butter. Marmelade. Sie setzte sich auf das Bett und schaute das Essen an. Sie musste sich zurücklehnen.