Der Mann fuhr dahin. Sie saß in ihren Sitz gelehnt. Alle Ruhe war verschwunden. Die Familie. Die Großmutter. Die Großtante. Ihre leibliche Mutter. Wie die mit ihr redeten. Auf sie einredeten. Wie die sie anschwiegen. Wie sie sich abwandten. Sie umarmten. Sie hatte plötzlich das Gefühl, alle zu spüren. An sich zu spüren. Umarmt zu sein. Umfangen. Aber eng, und nichts zu sehen. Ihr Kopf in die Brüste gerammt bei diesen Umarmungen, und sie musste den Stoff spüren. Sie hatte gelernt, den Kopf rasch zur Seite zu drehen, nicht in die Stoffe beißen zu müssen. Wenn sie so von einer dieser Frauen an sich gezogen worden war. Heute nicht mehr. Heute war sie größer als alle diese Frauen. Sie ließ sich nicht mehr umarmen. Sie schaute diesen Frauen in die Augen und verbot ihnen das. Näher zu kommen. Sie wurde schwierig genannt. Deswegen. Aber schwierig war besser als Stoffe fressen müssen. Vor allem wenn das Stofffressen das Einzige war, was man von denen bekam.
Ob sie Schmerzen habe, fragte der Onkel. Nein, warum frage er. Weil sie so unruhig geworden wäre. Nein, sagte sie. Es wäre wegen der Verwandten gewesen. Sie habe sich plötzlich erinnert. Der Onkel kniff die Lippen zusammen und schaute starr nach vorne. Dann nickte er. Sie würden sich jetzt ein paar schöne Tage machen. Wenn es ihr besserginge. Könnten sie dann nicht wieder einmal eine Wanderung machen. Sie nickte. Ja. Eine Wanderung. Sie waren aufgebrochen und mit Bussen oder der Bahn und dann zu Fuß oder manchmal mit den Fahrrädern. Sie hatte sagen können, in welche Richtung es gehen sollte. Nach rechts. Nach links. Geradeaus. Sie waren dann den ganzen Tag unterwegs gewesen. Weit waren sie gekommen. Durch das weite leere Land rund um Stockerau oder nach Wien hinein. Am Abend riefen sie dann die Tante Schottola an, und die kam mit dem Auto und holte sie. Hatte sie geholt. In zwei, drei Tagen könnten sie das schon machen, sagte der Mann. Woher er das wissen wolle. Er schaute sie kurz an. Er fuhr dann wieder. Die Trude habe Fehlgeburten gehabt. Ob sie das nicht wisse. Mehrere. Deshalb wisse er, wie das ginge. Er schwieg dann. Machte einen schmalen Mund.
Sie saß da und schaute auf die Autobahn hinaus. Ließ die Straße auf sich zukommmen. Sie fühlte sich wieder sicher. Sie hatte das mit den Fehlgeburten von der Tante Schottola vergessen gehabt. Sie war der Ersatz für diese Kinder gewesen. Aber so eine verlassene Person wie sie. Die musste nehmen, was sie bekam. Und mit Onkel und Tante Schottola. Sie hatte es besser gehabt als mit der Betsimammi. Eine Giftlerin. Es hätte sicher nie Wanderungen gegeben, die nur in ihre Richtung geführt hatten. Bei denen sie die Richtung alleine bestimmt hatte. Sie saß im Fahren. Schläfrig. Es wäre schön gewesen, wenn diese Zwillinge gefunden worden wären. Sie konnte sich zu gut erinnern, wie das gewesen war. Allein. Und niemand da. Zu sagen, wohin. Die Mutter nur dagelegen und der Speichel aus ihrem Mund geronnen. Aber nach den statistischen Daten. Die lebten nicht mehr. Ziemlich sicher hatten diese beiden kleinen Mädchen es hinter sich. Waren in Sicherheit. Irgendwie.
Sie wachte erst vor dem Haus wieder auf. Das Auto stand vor dem Haus in der Uhlandgasse. Sie solle sich hinlegen, sagte er, er müsse noch einkaufen. Es gäbe aber Kaffee im Thermos, und er zwinkerte ihr zu. Der Onkel Schottola war evangelisch H.B. und er sollte eigentlich keine Genussmittel zu sich nehmen. Kaffee war eine Sünde für ihn. Eigentlich. Aber sie waren sich in dieser Sünde einig. Die Tante Schottola trank Kakao. Diese Sünde teilten nur sie beide. Sie stieg aus und ging ins Haus. Der Onkel sperrte ihr die Tür auf und ging zum Auto zurück. Sie trat ins Haus. Es roch wie immer. Sie begann zu weinen.
März
Alles grau. Seit sie in der Uhlandgasse angekommen war. Es war nur der erste Tag so ein heller Wintertag gewesen. Blauer Himmel. Wolken. Die Sonne. Schneetreiben. Aprilwetter im Winter. Es hatte fröhlich gemacht, wie die Schneeflocken in der Sonne vom Himmel heruntertanzten. Dann wieder trüb. Schon am nächsten Tag. Der Himmel bedeckt. Nebelig. Feucht. Raureif am Morgen. Aber keine Sonne, dieses Glitzern auszulösen. Der Raureif taute weg. Der Boden nass. Am Abend dann Glatteiswarnungen in den Wetterberichten. Und keine Änderung in Sicht. Ein massives Hochdruckgebiet über Russland. Dort war minus 15 Grad die Höchsttemperatur. Ein Tief über dem Atlantik. Das schob die Wolken gegen Osten, und die Kälte hielt sie über Europa fest. Bis nach Afrika. Regen im Mittelmeer.
Sie hatte einen Parkplatz am Anfang der Bahnhofstraße gefunden. Gleich nach der Ampel zur Hauptstraße. Sie konnte zum» Heiner «gehen. Die Mandeltüten für die Tante Trude besorgen. Solche Sachen äße sie noch gerne. Pariser Creme. Schokolade und Butter. Die Besorgungen ins Auto legen und eine Runde gehen. Auf dem Verkehrsschild stand» kostenpflichtige Kurzparkzone«. Sie beugte sich vor und schaute sich nach einem Automaten um. Sie sah keinen. War das wie in Wien. Man musste Scheine besorgen und ausgefüllt unter die Windschutzscheibe legen. Sichtbar. Die Scheine aber bekam man in der Tabak-Trafik und nur in den Geschäftszeiten. In so kleinen Orten wie Stockerau. Die stellten doch normalerweise Automaten auf. Sie öffnete das Handschuhfach, ob da irgendetwas herumlag. Formulare. Scheine. Eine Parkuhr. Nichts. Sie stieg aus und schaute sich um. Sie ging ein paar Schritte in Richtung Bahnhof. Kehrte wieder um. Ging zum Karl-Renner-Platz. Sie hätte auch da parken können. Aber der Range Rover war ihr zu groß für aufwendige Parkmanöver. Sie war dieses Auto nicht gewohnt. Sie hatte die letzten Tage nur Ausfahrten in die Hügel gemacht. War an die Donau gefahren. In die Wachau. Dahingefahren und geschaut. Die Donau. Das rechte Ufer hinauf. Bei Krems. Die Donaubrücke bei Melk und das linke Ufer hinunter. Die Donau immer rechts. Halbe Tage war sie nur mit diesem Auto gefahren und war dem Onkel Schottola dankbar gewesen. Dass er dieses riesige Auto fuhr. Dass er mit den Autos nie genügsam gewesen war. Das lag vor allem am Dr. Singer. Der Dr. Singer hatte als Steuerberater dem Onkel vorgeschrieben, ein ordentliches Auto für den Betrieb abzuschreiben, und das Auto war übriggeblieben. Nach dem Verkauf. Man saß hoch über der Straße in diesem Auto. Man segelte über die Landschaften hin. Es war auf eine erhebende Art befriedigend, so ruhig sitzend die Landschaft hinter sich liegen zu lassen. Erobernd. Es hatte etwas Eroberndes. Nur geparkt hatte sie kein einziges Mal. Irgendwo. Sie war vom Haus weggefahren und in die Garage zurück. Kein Aufenthalt. Keine Unterbrechung des Fahrens. Und wenn der Onkel ins Spital fuhr. Er hatte sie dahin nicht mitgenommen. Die Trude würde sowieso gleich nach Hause kommen. Sie sollte diese Umgebung nicht. Das würde ihr nicht guttun. Sie müsste erst wieder Ruhe finden. Sie habe mit sich selber genug zu tun. Und dann waren zwei Wochen vergangen. Die Tante Schottola wollte sie nicht dahaben. Wollte nicht, dass sie sie im Spital sehen sollte. Aber sie sollte heute nach Hause kommen. Deshalb sollte sie in einer Stunde zurück sein. In der Uhlandgasse. Mit dem Auto. Damit er sie holen fahren konnte. Nach dem Mittagessen in der Klinik. Die Schottolas verschwendeten keinen Cent. Wenn das Mittagessen in der Klinik von der Krankenkasse bezahlt wurde, dann musste das gegessen werden.
Sie ging durch den falschen Eingang in die Bäckerei-Konditorei. Sie ging bei der Bäckerei in das Geschäft. Sie war die einzige Kundin, und die Verkäuferin fragte sie schon beim Eintreten, was sie wolle. Sie schaute sich um. Brot und Gebäck. Nein. Sie bräuchte hier nichts. Sie müsse nach rechts. In die Konditorei. Die Frau hatte sich längst abgewandt und leerte Semmeln aus einem Riesenkorb hinter das Glas der Vitrine. Das Geräusch. Ein hohles Reiben und Rascheln. Sie schaute zu. Wie die Semmeln übereinanderpurzelten. Einen spitzen Berg bildeten und dann das Fach ausfüllend auseinanderrutschten. Die Verkäuferin schaute wieder auf. Fragend. Sie ging schnell nach rechts. Der Geruch der Semmeln. Des Brots.