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Sie nahm den Onkel am Arm und zog ihn ins Haus hinauf. Grüß Gott. Das war die größte Provokation. Der Onkel grüßte Gott nicht. Das stand ihm nicht zu. Das stand niemandem zu. Schon gar nicht den Vertretern der Staatsmacht. Den Vertretern der Staatsgewalt. Den Vertretern der falschen Staatsmoral. Es war dem Onkel immer schwergefallen, sich mit Beamten zu arrangieren. Das hatte die Tante Trude gemacht. Das war ihre Aufgabe gewesen.

Im Haus. Er müsse jetzt weg, sagte der Onkel und zog seinen Mantel an. Sie brachte ihm den Autoschlüssel. Was die Marina denn habe. Was passiert sei. Aber es wäre jetzt einmal nicht wichtig. Sie solle niemandem aufmachen. Sie solle im Haus bleiben. Und sie solle die Marina anrufen und das alles klären. Aber er wisse ja, dass es der nur um das Geld ginge. Sie habe den Dominik Ebner getroffen, sagte sie. Ob sie sich bei dem erkundigen sollte, was ihre Situation sei.»Ach. Die Ebners. «Er wickelte den Schal sorgfältig um den Hals. Da hätte es einen Skandal gegeben. Die wären irgendwie an diesem Bankendeal beteiligt gewesen, der jetzt die Staatsanwaltschaft interessiere. Er glaube nicht, dass man noch einmal etwas davon hören würde. Aber die Klienten hätten reagiert, und da hätte es noch einmal Schwierigkeiten gegeben. Krisen halt. Aber sie wisse ja, wie wenig ihn das interessiere. Jedenfalls glaube er nicht, dass sie einen Rechtsanwalt bräuchte. Er käme in 2 Stunden spätestens. Sie küsste ihn auf die Wange.»Und. «sagte er.»In Österreich herrscht Ausweispflicht. Du musst immer einen Ausweis bei dir haben. Da sind wir noch gut davongekommen, dass die dich nicht mitgenommen haben. Dann hätten wir zum Dr. Seidler gehen müssen. Deinen Freund Ebner. Den brauchen wir hier nicht. «Er schüttelte den Kopf. Angewidert.

Er solle vorsichtig fahren. Der Onkel blieb in der Tür einen Augenblick stehen. Er dachte nach. Wollte etwas sagen. Dann lächelte er ihr zu und ging hinaus. Sie konnte ihn sehen, wie er im Auto den Sitz zurückschob. Sie ging ins Wohnzimmer und schaute in den Garten hinaus. Sie stellte sich an das Fenster. Sie setzte sich auf die Couch. Sie setzte sich in einen Fauteuil. Stand wieder auf. Ging auf und ab. Die Unruhe um ihren Nabel tobend. Sie konnte nicht stillsitzen. Das Wohnzimmer. Unverändert. Alles genauso wie damals. Als sie das Kind im Haus gewesen war. Die venezianische Gondel im Bücherregal. Die Puppensammlung. Die» Reader’s-Digest«-Hefte. Die» Time-Life«-Bücher über ferne Länder, Wissenschaft und Kunst. Über die Eroberung des Nordpols und des Südpols und des Himalaja. Über Krankheiten und den menschlichen Körper. Aber sie hatten das nie gelesen. Diese Bücher waren angekommen, und sie waren von außen bewundert worden. Gelesen wurden sie nicht. Der Onkel las nur die Bibel, und die Tante hatte diese anderen Bücher bestellt. Aber das war ihr genug gewesen. Sie hatte sie dann nicht gelesen. Die Bücher standen in den Bücherregalen der Wohnwand. Die Puppen dazwischen. Alles die Tante Schottola. Ihre Verschwendung, und viel darüber geredet werden hatte müssen. Diese Bücher. Eines von diesen Büchern zu lesen. Wenn sie eines dieser Bücher aufmachte. Sich hinsetzte und zu lesen begänne. Sie blieb am Fenster stehen. Da konnte sie sich gleich erschießen. Sie konnte sich sehen. Das Einschussloch in der Schläfe. Sie hätte sich nie in den Mund schießen mögen. Aber in die Schläfe. Und wie sie hinfiel. Wie sie da hingefallen wäre, in dasselbe Nichts wäre sie mit so einem Buch gefallen. Sie wäre in diesem Text zu liegen gekommen. Wie tot. Sie hätte über die Schwierigkeiten gelesen, wie so eine Polarexpedition auszustatten wäre, und wäre tot gewesen. Hätte sich totgelesen. Wenn sie nur eines der» Reader’s-Digest«-Heftchen öffnete und einen dieser Ratschläge läse, wie sie ihrem Leben einen Sinn verleihen könnte. Sie hätte sich liegend in der vollkommenen Sinnlosigkeit gefunden. Und es war nicht ihre. Es war nicht ihre Sinnlosigkeit. Sie war lebenslustig. Gerade in diesem Haus hatte es sich herausgestellt. Die Schottolas hatten den Kopf geschüttelt darüber. Sie hatte Kraft. Sie hatte immer Kraft gehabt. Sie hatte ihre Mutter überstanden. Sie hatte sich freiwillig von ihrer Mutter getrennt. Sie hatte ihre Großmutter überstanden. Das Mammerl ja wahrscheinlich die nächste Ursache von allem. Aber beim Blick hinaus in den Garten. Auf die Tanne hinten neben dem Haus. Es war ein Geschmack. Ein Geschmack tief in der Kehle. Schmeckte Verzweiflung so. Platzend wirbelnd und im ganzen Körper.

Wodka. Fiel ihr ein. Wodka würde helfen. Sie konnte den Wodka in sich spüren. Wie die Unruhe verebbte. Ruhig. Gelassen. Wenn sie Wodka bekommen konnte. Oder irgendetwas. Dann konnte sie ruhig warten. Gelassen dasitzen und die Tante erwarten. Und das war es. Sie hatte Angst. Zu allem anderen hatte sie auch noch Angst. Vor dem Anblick. Davor, wie sie aussehen würde. Es waren ja nur Bemerkungen gewesen, die der Onkel Schottola gemacht hatte. Aber die Tante musste sehr verändert aussehen. Sie setzte sich. Schaute auf das handgestrickte Tischtuch auf dem Couchtisch. Ließ den Kopf hängen. Bekam feuchte Augen. Dann stand sie wieder auf. Richtete sich auf. Ging in die Küche. Sie begann zu putzen.

Sie räumte die oberen Küchenkästchen aus. Wischte die Böden mit nassem Wettex. Wischte sie trocken. Sie schaute die Ablaufdaten der Packungen an. Reis. Nudeln. Polenta. Linsen. Stellte Abgelaufenes zur Seite. Staubte Gläser und Dosen ab. Sie stieg auf einen Küchensessel und wusch die Oberseite ab. Eine dicke Schicht von Staub und Fett oben auf den Kästen. Neglected. Das hier war vernachlässigt. Die Küche. Das war das Zentrum des Lebens gewesen. Blitzsauber und immer Vorräte. Blumen an den Fenstern. Es war nicht schmutzig. Jetzt. Nicht richtig. Aber unbenutzt. Ungepflegt. Als wohne hier nur manchmal jemand. Der Onkel Schottola aß Ravioli aus der Dose. Bohnen. Gulasch. Sie hatte die Dosen wenigstens gewärmt. Sie hatte ja selbst keinen Appetit gehabt und lieber eine Pizza geholt. Sie ordnete die Vorräte wieder ein. Begann mit dem Geschirr. Teller. Teetassen. Kaffeehäferln. Untertassen. Gläser. Eierbecher. Kompottschüsselchen. Salatschüsselchen. Dann die Unterschränke. Die Töpfe und Reindln. Die Pfannen. Die Tortenformen. Die Backformen. Die Bratenformen. Die Auflaufformen. Sie rieb die Fächer aus. Wusch das Geschirr. Die Backbleche. Die Schienen des Backrohrs. Den Herd. Sie verbog sich und putzte die Unterseite der Oberkästen. Die Dunstabzugshaube. Die Kacheln an der Wand. Sie holte den Schrubber aus dem Wandschrank und machte sich an den Boden. Sie schrubbte mit Cif und dann mit Spülmittel und zweimal mit klarem Wasser. Der Boden wurde wieder hellgrau. Die Fugen zeichneten sich ab. Aber es war auch das Alter deutlicher zu sehen. Es waren die Einrisse an den Kanten der Kästchen deutlich. Die Verfärbungen, wo die Sonne hinkam und der Lack ungebleicht hellbraun geblieben war. Die Brandmale auf der dunkelbraunen Arbeitsplatte zeichneten sich klar ab. Die Risse in den Kacheln. Die Dellen im Email des Herds. Die Trittspuren vor den Arbeitsflächen. Sie konnte die Tante Schottola hören, wie sie immer gesagt hatte, dass die Küche frisch gestrichen werden müsse und dass man dann gleich neue Küchenschränke kaufen sollte und mit Induktionsstrom kochen. Aber der Onkel Schottola hatte nicht einmal einen Mikrowellenherd erlaubt. Und jetzt musste er die Dosen kalt essen. Aber es war auch, weil er es nicht gut haben wollte, wenn sie es nicht gut hatte. Sie wusch sich die Hände und ging ins Wohnzimmer zurück. Wenn sie das Geld bekam. Wenn sie dieses Geld wirklich bekommen sollte. Dann konnte sie der Tante Schottola eine neue Küche schenken. Sie stellte sich die Küche für sie vor. Die Tante Trude war eine dunkle Person. Ein Persönchen. Eine helle grüne Küche, in der die Arbeitshöhe für sie stimmte und nicht so hoch wie jetzt war. Mikrowelle. Induktionsherd. Elektrobackrohr. Und alles neu und glatt und glänzend.