Sie schaute zur Decke. Ihretwegen konnte sie jetzt hier einschlafen. Am Ende kümmerte sich nur der Wodka um sie. Der Wodka hielt ihr die Welt weit weg und ließ diesen blöden Madrigal unwichtig werden. Sie hob den Kopf und schaute ihn an. Er lag zurückgelehnt auf der anderen Couch. Das Licht hinter ihm draußen. Seine Haare hingen ihm über die Augen. Die geplatzten Äderchen auf seinen Wangen hellrot abgezeichnet. Der Lachanfall hatte sein Gesicht rot zurückgelassen. Er zog sein Stecktuch aus der Brusttasche seines dunkelblauen Blazers und wischte sich die Wangen ab.
Was es denn zu weinen gäbe, fragte sie. Sie senkte den Kopf nicht und sprach zur Decke hinauf. Was er Marina erzählen wolle, wenn er wieder in London sein würde. Sie wolle es nur wissen, damit ihre Geschichten übereinstimmten. Gregory lachte wieder und wischte sich die Tränen ab. Er stand auf. Er faltete das Stecktuch sorgfältig zusammen und steckte es wieder in die Brusttasche. So einfach wäre die Sache längst nicht mehr. Sie solle nicht vergessen, dass sie sich verpflichtet habe, und jetzt begänne die Sitzung gleich. Gregory ging weg. Sie blieb sitzen.
«Gehen Sie weg. «hörte sie von hinten. Sie war nicht sicher. Hatte Gertrud das gesagt. Gertrud hatte bisher noch nie mit ihr gesprochen. Kein einziges Wort. Von Gertrud hatte sie ihre Sicherheitskarte und den Schlüssel für den Garderobenschrank im Umkleideraum bekommen, ohne dass ein Wort gewechselt worden war. Gertrud hatte mit dem Kugelschreiber auf die Zeile gezeigt, auf der sie die Übernahme bestätigen sollte, und dann die Papiere zu sich gezogen. Gertrud hatte nicht einmal aufgesehen. Sie setzte sich auf und schaute sich um. Gertrud sah sie an und senkte dann den Blick.»Haben Sie etwas gesagt?«, fragte sie und lehnte sich über die Lehne der Couch. Gertrud reagierte nicht. Sie saß bewegungslos und schaute auf die Tastatur vor sich. Amy ließ sich zurückfallen. Wut. Einen Augenblick war sie so von Wut erfüllt, dass sie sich aufspringen sah und in der Mitte der Halle einen Schreianfall haben. Dann schob die Wodkamüdigkeit sich zwischen sie und die Wut, und alle Vorstellungen einer solchen Szene brachen in sich zusammen. Sie schüttelte den Kopf.»Danke. «sagte sie in Richtung Gertrud.»Falls Sie etwas zu mir gesagt haben, dann vielen Dank. «Sie stand auf und ging den Gang hinunter davon.
Sie ging in den Umkleideraum. Locker room wurde das genannt. Es war im alten Teil der Gebäude der ehemalige Umkleideraum vor einem Turnsaal. Sie hatte gefragt, ob das hier eine Schule gewesen sei. Draußen waren durch die hochgelegenen Fenster die Seile zu sehen, die von der Decke hingen. Die vergitterten Lampen. Strickleitern. Die obersten Sprossen von Sprossenwänden. Im Turnsaal. Sie war nie drinnen gewesen. Die Türen waren versperrt, und wenn Licht zu sehen war und man drinnen Leute hören konnte. Sie hatte noch nicht herausfinden können, wie das war. Wer da turnte. Trainierte. Sie hatte fragen wollen, aber sie hatte nicht gewusst, an wen sie sich wenden hätte sollen. Für solche Fragen wäre Gertrud am besten gewesen. Aber Gertrud redete ja nicht mit ihr. Sie kicherte. Es war irgendwie schon sehr interessant, wie das hier lief. Wenn einen dann überhaupt niemand haben wollte, dann war das auch ein Ansporn. Das Wort gefiel ihr. Ansporn. Sie summte das Wort vor sich hin. Sie bog nach links und ging durch die Tapetentür neben der Hauptstiege des alten Hauses zum Turnsaal nach hinten. Ansporn. Ansporn. Das passte zu diesem Gebäude. Man kam aus dem Gang von der Rezeption her und stand dann vor dem Stiegenaufgang. Ganz knapp kam man davor zu stehen. Der Gang ein eckiger, dunkler Tunnel hinter einem. Sie hatte ein Gefühl, als würde sie die Stufen hinaufgetrieben. Von der Dunkelheit des Tunnels angetrieben. Die breiten Stufen, die sich im Halbstock teilten und rechts und links in den ersten Stock hinaufführten. Fenster rechts und links über diesen Seitentreppen. Staubig. Die Wintersonne von rechts. Ansporn. Wer diese Stufen hinauflaufen wollte, der brauchte Ansporn. Sie hätte Ansporn gebraucht. Brauchen können. Eine Vorladung zu einem Direktor oben, und man stieg schnell und bang die Stufen hinauf zum Büro. Anton war der Direktor, und er würde ihr sagen, dass sie nicht länger hier gewünscht war, und Gregory würde in der Ecke sitzen und zu den Worten des Direktors nicken. Man hatte es wieder versucht mit ihr, und sie hatte wieder nicht entsprochen. Ansporn, würde sie sagen. Sie hätte mehr Ansporn gebraucht. Mittlerweile redete sie ja zurück.
Sie wandte sich zur Tapetentür links. Die ging nicht gleich auf. Sie rüttelte an der Tür. Die Türklinke blieb in ihrer Hand. Sie steckte die Klinke wieder zurück und drückte sie hinunter. Vorsichtig. Das Schloss funktionierte. Sie zog die Klinke heraus. Die Tür fiel hinter ihr ins Schloss. Sie schwang die Klinke und ging. Der Gang hatte Fenster links. Vergittert. Das Glas war undurchsichtig. Sternrissig. Rissglas. Niemand zu hören. Es roch staubig. Schule, dachte sie. Das war sicherlich eine Schule gewesen. Das alles sah nach Schule aus. Aber das Ganze im Nirgendwo. Wer sollte hier in die Schule gegangen sein. Sie stieß die Tür zum locker room auf und ging zu ihrem locker. Mein locker, dachte sie. Locker. Lockerer Ansporn. Sie sang leise. Lockerer Ansporn. Lockerer Ansporn. Singend beugte sie sich zum Schloss des Blechspinds mit der Nummer 37. Die Nummer 37 war am Ende der zweiten Reihe der Blechkästen, die aneinandergereiht dastanden. Die Blechschränke waren abgeschlagen und rund um die Schlösser zerkratzt. 50er Jahre, dachte sie und summte. Nein. Doch 70er Jahre.»Lockerer Ansporn. «Sie versuchte aufzusperren, ohne das Schlüsselband über den Kopf ziehen zu müssen. Sie summte und stand zum Schloss vorgebeugt und fummelte mit dem Schlüssel herum. Nach langem bekam sie das Schloss auf und hängte ihren Mantel an den Haken im Spind. Sie wollte wieder zusperren. Eine Frau stand neben ihr. Ganz nahe stand sie neben ihr und schaute mit ihr in den Kasten. Das wäre ein schöner Mantel, sagte sie und griff den Pelz ab. Warm wäre der. Sie zöge nur Mikrofaser an. Das wäre für diese Wetterlage oder für jede Wetterlage das Beste. Aber so ein altmodischer Pelz. Das wäre schon auch nett. Die Frau hatte den Mantel in die Hand genommen und strich mit dem Zeigefinger den Pelz entlang. Pelz, sagte sie. Pelz. Das reguliere sich natürlich. Auf natürliche Weise. Das wäre auch ein Vorteil. Die Frau seufzte. Ein Vorteil. Das wäre nicht immer genug. Sie bräuchte Sicherheit in solchen Dingen und keine Vorteile. Dann lachte die Frau.»Aber deshalb arbeiten wir ja auch hier. «sagte sie. Sie nahm die Türklinke aus Amys Manteltasche und hielt sie ihr hin. Amy bedankte sich und nahm die Klinke. Die Frau ging um die Ecke. Es raschelte. Amy blieb vor ihrem Kasten stehen und schaute ihren Pelzmantel an. Er war schön und praktisch. Das Mammerl hatte ihn ihr gekauft. Eine junge Frau bräuchte einen ordentlichen Mantel, hatte sie gesagt, und sie waren zum Liska gegangen. In die billigere Abteilung. Das Mammerl glaubte an solche Sachen. Pelzmäntel und eine Perlenkette und schöne Koffer. Das Mammerl war seit Jahrzehnten nicht aus Wien hinausgekommen.
Das Rascheln. Was machte diese Person. Sie zog das Schlüsselband über den Kopf und sperrte den Mantel ein. Ihr handy brummte. Es war Gregory. Sie machte sich auf den Weg. Die Türklinke in der Hand. Die Frau stand im vorderen Gang der Blechkästen. Sie war nackt. Sie stand breitbeinig, und der Faden eines Tampons baumelte zwischen ihren Beinen. Die Frau hatte die Hände in die Hüften gestemmt und musterte ihre Oberschenkel. Sie seufzte. Sie winkelte das eine Bein am Knie an und beugte das andere. Sie ließ sich in diese Position gleiten und blieb so stehen. Sie sah lächelnd auf und verdrehte die Augen. Amy hob ihr brummendes handy hoch und ging zur Tür. Gregory fragte, wo sie denn bliebe. Sie komme ja schon, sagte sie. Sie komme ja schon. Sie drehte sich um. Die nackte Frau war auf ihr stretching konzentriert und sah nicht mehr auf. Die nackte Frau war besonders nackt. Die Schamhaare waren wegrasiert, und unter den Achseln der hochgereckten Arme war die Haut glatt.