Im Gang vom locker room zurück. Es war kalt ohne Mantel. Sie ging schnell. Das Geklapper ihrer Absätze. Hohe Absätze. Cindy schaute immer zuerst auf ihre hohen Absätze und wandte sich dann ab. Verächtlich grinsend. Cindy konnte mit so hohen Absätzen gar nicht gehen. Sie blieb stehen und schaute durch das sternenrissige Glas hinaus. Es waren aber nicht einmal Umrisse wahrzumehmen. Das dicke Glas zerriss alle Konturen in breite Streifen. Sie beugte sich zum Glas und schaute durch den Mittelpunkt eines dieser Sterne. Es wurde alles noch verschwommener, und ihr wurde schwindlig. Sie richtete sich auf und holte die kleine flask aus ihrer Tasche. Der Onkel Schottola hatte sie ihr geschenkt. Für ihre erste Amerikareise hatte er ihr diese flask geschenkt. Damals war sie mit Whisky gefüllt, und der Onkel Schottola hatte gesagt, dass er Whisky viel medizinischer fände als Cognac, und sie solle davon trinken, wenn sie sich den Magen verdorben hätte. Was ja auf Reisen unvermeidbar wäre. Er habe auf Reisen nur die schlimmsten Erfahrungen mit der Verträglichkeit des Essens gemacht, und ihn habe der Flachmann schon oft gerettet. Aber was wüsste er schon. Leute wie er. Leute, die in Stockerau lebten. Was könnten die schon wissen. Und dann kam der alte Scherz mit dem Jahr in Paris. Das Jahr in Paris kam dann immer. Nestroy. Aus dem» Lumpazivagabundus«. Und sie hatte sich geniert für den Onkel Schottola. Wie immer. Aber bei diesem Scherz. Sie hätte gänzlich versinken können. Warum eigentlich. Warum hatte sie sich für die Eltern Schottola mehr geniert als für die Betsimammi, für die Pflegeeltern mehr als für die eigene Mutter. Sie trank aus dem Flachmann. Aber was hatte sie sich geniert für die Eltern Schottola, und was hatte sie sich für das Mammerl geniert. Die Großmutter. Wenn die zu Besuch gekommen war, und was für eine Schmach war es dann gewesen, wenn die Betsimammi dann doch einmal zu den Mutterbesuchstagen aufgetaucht war und das Mammerl noch viel mehr auf sie gewartet hatte als sie. Und sie. Sie war immerhin die Tochter von der Betsimammi gewesen, und das Mammerl nur die Mutter von der. Sie war die Tochter gewesen und hätte sie gebraucht. Alle hatten immer gesagt, dass sie die Betsimammi gebraucht hätte. Aber das Mammerl hatte die Betsimammi mehr gebraucht als sie. Die Eltern Schottola waren schon in Ordnung gewesen. Sie nahm noch einen Schluck. So ausgemachte Eltern. Eltern, die so ein Kind aussuchten und in Pflege nahmen. Das war doch ohnehin der bessere deal. Da wussten alle, worum es ging, und die Tante Schottola hatte ihr immer genau vorgerechnet, wie viel sie vom Pflegegeld des Jugendamts gespart hatte und was sie vom Wirtschaftsgeld vom Onkel Schottola genommen hatte für sie. Die Kleider waren immer vom Wirtschaftsgeld gekommen. Sonst hätte sie in ihrem Leben nie etwas gleichgeschaut. Sie beugte sich wieder dem Glas zu. Jetzt war das Glas selbst verschwommen, und die verschwommenen Konturen rannen noch weiter auseinander. Weil sie immer schon so hübsch gewesen war, war es nie ein Problem gewesen, das Geld für die Kleider abzuzweigen. Der Onkel Schottola konnte nie etwas dagegen sagen, wenn sie die Sachen dann vorgeführt hatte.
Sie drehte den Verschluss der flask zu und hielt die Flasche kopfüber. Der Verschluss blieb trocken. Das wäre etwas gewesen, wenn mitten im lustigsten Rollenspiel plötzlich der Wodka aus ihrer Tasche zu tropfen begonnen hätte. Sie würden gerade die Sicherheitsanforderungen der Übersiedlung eines IT-Dienstleisters durchspielen. Sie wäre die Leiterin der human resources des Auftraggebers und die Schwachstelle. Sie musste ja immer die Schwachstelle spielen, und es würde zu riechen beginnen. Leder in Wodka eingeweicht, und dann würde es tropfen. Die Tasche würde auf der Lehne ihres Sessels aufgehängt sein, und es würde sich ein kleiner feuchter Fleck auf dem Spannteppich unter der Tasche bilden. Zuerst würde nur sie es bemerken. Aber sie konnte sicher sein, dass Cindy und Gregory es zugleich sehen würden. Die Fragen würde Heinz stellen, und Anton traf dann die Entscheidung. Die Tasche würde auf den Tisch gelegt werden. Wahrscheinlich holte Cindy irgendwelche Tücher. Küchenrolle. Klopapier. Cindy würde Gertrud anrufen, und die würde das bringen, und dann würde die Tasche ausgeräumt. Alles fein säuberlich auf den Tisch gelegt. Und.
Sie schaute auf. Jemand schaute sie an. Sie sah hinter dem Fenster hoch oben in dem Gang ein Gesicht. Es war die Frau aus dem locker room. Sie schaute von oben auf sie herunter. Sie schaute hinauf. Sie sahen einander an. Sie wollte winken. Oder lächeln. Oder springen und» juhuu «rufen. Die Frau sah sie unverwandt an und verschwand dann. Sie ging schnell durch den Gang davon. Sie wollte laufen. Sie zwang sich aber, langsam zu gehen und die Tapetentür normal hinter sich zu schließen und nicht in Panik zuzuwerfen. Gregory kam gerade die Stiegen herunter, als sie versuchte, die Türklinke wieder in das Schloss einzusetzen. Wo sie denn wieder geblieben sei. Die Sitzung. Sie holte ihr handy aus der Tasche und klappte es auf. Es war 9.59 Uhr. Sie hielt Gregory das handy hin. Ja, ja, meinte der. Aber man erwarte ein gewisses Interesse. To show interest. Da wäre es auch einmal gut, zu früh zu kommen. Nein, sagte sie.»No. I don’t think so. «Wäre das nicht genauso unpräzise, wie zu spät zu kommen. Imprecise.»Wouldn’t that show bad manners also. «Gregory probierte die Klinke aus. Er nahm sie dann um die Schultern. Schob sie die Stiegen hinauf.»That’s hairsplitting, my darling. «sagte er beim Schieben.»And you know it. «Sie spürte seine Hand mitten im Rücken und lehnte sich dagegen. Er schob kräftig und zog die Hand dann weg. Sie brauchte die Balustrade, nicht die Stiegen zurück hinunterzustürzen. Bis sie sich abgestützt hatte und gerade dastand, war Gregory schon auf dem Stiegenabsatz und lief rechts hinauf. An der Wand des Absatzes hing ein Bild des Laokoon mit seinen Söhnen. Das Bild in einem dunkelbraunen Rahmen. Fast schwarz. Die Körper der Männer bräunlich vergilbt. Die Schatten grau. Der Hintergrund ein dunkles Ocker. Das Bild füllte die Wand aus. Sie zog sich an der Balustrade hinauf. Durch die Säulchen konnte sie Gregorys Beine sehen, wie er rechts hinaufhastete. Sie stieg links die Stiege hinauf. Sie fühlte sich verletzt, obwohl nichts passiert war. Sie hätte davongehen sollen. Noch in der Halle hätte sie es sagen sollen. Sie fühlte den Trotz sich ausbreiten. Ein Widerwille. Brust und Kopf und der Hals nicht zu spüren. Der Kopf war durch den fühllosen Hals von der Brust getrennt, und sie musste darüber lachen. Sie dachte, sie könnte ihren Kopf auch unter dem Arm tragen und so in den Sitzungssaal gehen. Sie ging laut mit den Absätzen klappernd über den Terrazzoboden des Gangs zum Sitzungssaal. Die Tür stand offen.
Ihr Eintritt blieb unbemerkt. Alle saßen weitverstreut an dem riesigen Konferenztisch. Der Tisch war für 34 Personen. Sie hatte das gezählt. Jetzt waren. Sie setzte sich an das untere Ende und begann zu zählen. Anton und Heinz oben. Cindy bei ihnen. Mit dem Rücken zu den großen Fenstern. Cindy beachtete jeden Vorteil. Cindy war eine Art lebendes Lehrbuch. Sie schaute Cindy an und dachte, dass sie nur so hinsehen hätte müssen wie jetzt gerade und sie hätte alles lernen können. Ob sie dann aber auch so aussehen musste wie Cindy. Cindy war mager. Cindy war nicht schlank. Sie war mager. Sie schaute zum Fenster hinaus. Draußen. Der Schnee auf den Dächern der Baracken und Hallen. Alles hatte diese Weihnachtsfestlichkeit. Die Sonne ließ die Schneedächer glänzen und die langen Eiszapfen schimmern. Wann war jemand mager und wann schlank. Die Betsimammi war auch mager.
«Worst case scenario. «hörte sie. Ein Mann rechts oben donnerte.»We have here a worst case scenario and we are helpless. «Sie schaute zu Gregory. Gregory sah dem Mann rechts oben zu. Er beobachtete ihn und wandte sich dann Anton zu. Anton schaute auf den Notizblock vor sich hin.»Ja. «sagte Anton. Hilflos. Das wäre der passende Ausdruck. Nun wüssten aber alle, wie die Lage sei, und man könne mit dem Programm fortfahren. Cindy stand auf und stellte sich ans Fenster. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und schaute die Männer an. Jeden einzeln. Alle sahen sie an. Sie trat einen Schritt an den Tisch zurück. Dann wandte sie sich brüsk wieder dem Fenster zu. Sie könne sich nicht so leicht abfinden. Ihr reiche ein Bericht nicht. Sie wolle alles wissen. Da wäre nichts zu wissen, sagte Heinz. Es wüsste ja niemand etwas. Auch Cindy müsse sich damit zufriedengeben. Es gäbe immer einen Weg. Immer eine Möglichkeit. Cindy stand wieder am Fenster. In diesem Fall nicht, sagte Gregory. Und dass er Cindy verstünde. Er sympathisiere mit ihr. Es sei immer ein neuer Horror, wenn ein Kamerad in die Hände des Feinds falle. In diesem Fall wäre Grotowski allerdings in die Hände der befreundeten Regierung gefallen, was aber die Sache noch schlimmer mache. Was die Sache noch schlimmer machen könne. Cindy setzte sich. Wenigstens Zigaretten könne man schicken, sagte sie böse. Gregory beugte sich über den Tisch ihr zu. Das mache die British Embassy routinemäßig. Wenn etwas funktioniere, dann die Versorgung von britischen Staatsangehörigen in ausländischen Gefängnissen mit Zigaretten. Es gäbe jeweils einen eigenen attaché dafür. Gregory war schon wieder ironisch geworden. Cindy saß zusammengesunken da. Heinz schaute auf. Grotowski wäre Nichtraucher gewesen. Cindy schlug mit der Hand auf den Tisch. Gregory zuckte mit den Achseln.»Ja dann. «sagte er auf Deutsch. Cindy drehte sich um und lehnte sich über die Rückenlehne ihres Sessels. Sie schaute über den Hof in die Hügel hinter den Feldern. Alle blieben still.