Amalia, wandte Marina sich an sie. Was solle jetzt geschehen. Ein für alle Mal. Ganz einfach, antwortete sie. Sie käme jetzt mit ihr mit. Sie führen jetzt zu Marina, Wellington Square. Ein Taxi bekäme man ja vor dem Hotel. Sie schaute Gregory an. Sie zwang sich, Gregory anzuschauen. Der strich sich über die Stirn. Sie stand auf und schaute ihn an. Sie konnte im Augenwinkel sehen, wie Marina zwischen ihnen beiden hin- und herschaute. Wie sie sich nicht auskannte. Gregorys Wut. Sie nahm ihre Tasche unter den rechten Arm. Klemmte die Tasche da fest. Sie bot Marina den linken Arm. Sie solle kommen. Sie sollten jetzt gehen. Marina schaute noch einmal zu Gregory. Dann nahm sie den angebotenen Arm. Sie gingen. Sie ließ Marina vor sich gehen. Schob die alte Frau zwischen den Tischen durch. Sie zwang sich, nicht zu laufen zu beginnen. Presste die Tasche an sich. Marina ging vor ihr. Kopfschüttelnd. Sie war verwirrt. Sie drehte sich einmal zu ihr zurück. Sie lächelte sie beruhigend an und schob sie weiter. Marina konnte es nicht begreifen, dass sie am Ziel war. Konnte es nicht glauben. Aber wie sollte sie ihr das erklären. Wie sollte sie ihr den Zusammenhang klarmachen. Zwischen dem kleinen Mädchen aus dieser Tschernobyldokumentation. Wegen Japan zeigten alle Fernsehstationen Tschernobyldokus. Damit man wusste, was auf einen zukam. Und wie sie im kleinen Gemeinschaftsraum sitzend. Am Rand von Nottingham. Ferngesehen. Wie dieses kleine Mädchen in der Nähe von Tschernobyl. Wie das auf die Kinderschwester in dem Kinderheim zulief und es erst beim Hochheben zu sehen war. Das kleine Mädchen hatte keine Beine. Die Füße waren an den Hüften angewachsen. Es waren Flossen. Entenbeinchen. Die Kinderschwester hob das Kind in die Höhe, und unter dem Nachthemdchen war es zu sehen gewesen. Nur einen Augenblick. Und alle hatten gelacht. Im kleinen Gemeinschaftsraum mit dem Fernsehapparat. Alle, die mit ihr dagesessen. Die hatten gelacht. Ned und Bennie hatten gelacht und zum Lachen ihre Zahnstocher aus dem Mund genommen. Wie sollte sie ihrer alten Großtante Marina erklären, dass sie dieses Mädchen war. Und weil sie dieses Mädchen war. Dass deshalb das alles gleichgültig. Die Anliegen von der Marina. Sie waren nicht wichtig. Sie selbst war nicht wichtig. Sie hatte keinen Augenblick mitgelacht. Sie war sofort erschrocken gewesen. Sie hatte die Hände vors Gesicht schlagen müssen. Das hatte niemand bemerkt. Die hatten gleich über die Atombombe zu reden begonnen.
Sie führte Marina durch die Lobby hinaus. Ein Taxi wurde herbeigewinkt. Sie half Marina hinein. Stieg nach. Schloss die Tür. Sie befahl sich, nicht zurückzuschauen. Marina sagte dem Fahrer die Adresse. Sie beugte sich über sie und schaute zum Hoteleingang zurück. Gregory hätte sich verabschieden können, sagte sie. Sie sagte das auf Deutsch und lachte. Sie lehnte sich zurück. Sie könne jetzt schlafen. Das sei alles so anstrengend. Diese Gefühle. Diese Aufregungen. Marina lehnte sich gegen sie und seufzte. Sie war starr. Sie hätte stundenlang mit diesem Taxi herumfahren mögen und so starr sitzen bleiben. Aber es war nicht weit bis zu Wellington Square.
August
Sie saß auf dem Bett. Das Fenster. Die nächtliche Stadt. Lichter. Ein dunkel wolkiger Himmel. Keine Sterne. Die Flugzeuge aus dem Westen unter den Wolken zu sehen. Es musste Ostwind sein. Die Flugzeuge flogen den Flughafen vom Westen an. Überflogen die Stadt. Sie zählte die Flugzeuge. Sie kam aber gleich durcheinander. Sie hatte sich umgedreht. Es waren Schritte auf dem Gang zu hören gewesen. Sie hatte sich umgedreht, um zu sehen, ob man die Füße sehen konnte. Unter der Tür ein breiter Spalt. Das Licht fast eine Handbreit. Sie hatte sich gewünscht, diese Füße gehen sehen zu können. Sie hatte sich gewünscht, eine Person draußen zu wissen. Die Schritte. Sie hatte gehofft, es käme jemand ins Zimmer. Irgendjemand. Sie war allein. Nach einer Viertelstunde. Es konnte nicht viel länger gewesen sein. Sie fühlte sich einsam, als wäre sie die letzte Person auf der Welt. Sie sehnte sich nach einer Person. Nur irgendeine Person, die ins Zimmer kam. Die das Licht aufdrehte. Die sich vergewisserte. Die sah, dass sie da war. Die ihr zunickte. Sie etwas fragte. Die etwas holte. Etwas brachte. Die nachsah. Jedes Wort hätte ihr geholfen. Der Anblick einer anderen Person. Die Anwesenheit.
Es konnte noch nicht lange sein. Sie verbat sich, auf die Uhr zu schauen. Dazu hätte sie das Licht über dem Bett einschalten müssen. Kurz. Wenigstens. Das Licht über dem Bett schaltete sich mit einem Geräusch ein. Ein klickendes Geraschel, bis die breite Leuchtröhre zu strahlen begann. Das war dann gedämpft. Aber das Geräusch weckte auf. Die regelmäßigen Atemzüge. Sie würden ins Taumeln kommen. Es war zu sehen. Wenn die Tante Trude aus dem Schlaf gerissen wurde. In ihrer Vorstellung war sie vor etwas davongelaufen und hatte mit den Armen um ihre Balance gerudert. Erschöpft und verwirrt. Als wäre sie gelaufen und hingefallen und wieder aufgetaumelt. So wachte sie auf.
Später in der Nacht. Die Tante Trude. Sie begann dann zu reden. Stöhnte. Seufzte. Greinte. Sie greinte trostlos. Ein zweijähriges Mädchen. Dann wollte sie auch reden. Am Anfang der Nacht. Am Anfang der Nacht schlief sie tief. Man war überflüssig. Noch. Sie hätte den Rat der Krankenschwester befolgen sollen.»Setzen Sie sich in die Ecke und lesen Sie. Das Licht wird Ihre Mutter nicht stören. Im Gegenteil. Und Sie können sich beschäftigen. Nächte sind lang. Ich weiß das.«
Es waren 15 Minuten gewesen. Sie hatte ihr handy aus der Tasche gefischt und unter das Bett gehalten. Das bläuliche Licht des displays unter dem Bett. Es waren genau 15 Minuten vergangen, seit die Nachtschwester das Licht abgedreht hatte. Sie konnte nicht hier sitzen. Es ließ sich nicht machen. Ruhig sitzen. Sie stand auf. Ging zur Tür. Sie horchte. Die Atemzüge gleichmäßig. Sie ging an die Tür. Sie wartete wieder. Horchte. Sie zog die Tür auf und drängte sich aus dem Krankenzimmer hinaus. Schloss die Tür hinter sich.
Die Station war schon geschlossen. Die Tür zum Liftfoyer hinaus zu. Ein Schild.»Geschlossen. Bei Wiedereintritt bitte klingeln. «Sie stand auf dem Gang. Eine Frau weit unten. Da, wo das Mineralwasser zu holen war. Sie ging dahin. Sie hatte die falschen Schuhe an. Jeder Schritt. Die Absätze. Sie ging. Kam an den Tisch. Kekse. Mineralwasser. Äpfel. Tee. Sie nahm eine Flasche Mineralwasser und ging zurück.
Sie hatte gehofft, hinausgehen zu können. Im Liftfoyer zu sitzen. Andere Personen kommen und gehen sehen. Den Lift klingeln hören und sich fragen, wer da aussteigen würde. Den Krankentransporten zusehen. In die Halle fahren. Mit den Schlaflosen da. Auf einer Bank sitzen. Hinausgehen. Die Abendluft. An den Rauchern vorbei in den Garten. Tief atmen. Die Abende waren schon wieder kühl.
Aber es war nicht möglich. Sie konnte die Nachtschwestern nicht anklingeln, und sie konnte hier nicht auf und ab gehen. Sie war zu laut dafür. Warum hatte sie nicht irgendwelche sneakers angezogen. Warum hatte sie diese pumps an. Tante Trude freute sich, wenn sie hübsch aussah. Aber es war ihr jetzt. Jetzt war es ihr gleichgültig. Sie konnte es nicht einmal sehen. Wenn sie einen ansah. Sie dachte, dass der Tante Trude schwindelig sein musste. Dass es sie im Kopf herumdrehte. So wie sie einen ansah. So bemüht, einen zu fixieren. Sie streckte den Kopf vor, genauer zu sehen, wer da war, und ließ sich auf die Pölster zurückfallen. Erschöpft und verwirrt. Das wäre mehr die Wirkung der Chemotherapie. Der Onkel Schottola wiederholte ihr das, was die Ärzte ihm gesagt hatten. Er sagte es ihr beschwörend. Es ihr zu sagen machte es ihm glaubhafter. Aber.
Sie konnte das nicht glauben. Sie konnte nur sehen, dass die Tante Trude gequält war. Gequält wurde. Dass sie alles verloren hatte, was ihr wichtig gewesen war. Klarheit. Übersicht. Ruhe. Die Tante Trude. Sie war ja auch fahrig geworden. Ängstlich. Weinerlich. Verändert. Vollkommen verändert. Das konnten sie gar nicht besprechen. Der Onkel und sie. Wie verloren sie war. Wie jeder Souveränität beraubt. Wie sich alles verkehrt hatte. Wie sie alles zurückgeben mussten, was sie von der Tante Trude bekommen hatten. Es war, als sammelte sie alles wieder ein. Sie musste das als ein Privileg ansehen. Sie musste das als Geschenk nehmen. Dass sie zurückgeben durfte, was sie bekommen hatte. Aber sie hätte schreien können. Sie hatte nichts herzugeben. Sie fand gar nichts. Sie war entsetzt. Sie war entsetzt, weil sie so leer war. Leer und trocken. Sie musste die Liebe spielen. Sie trat als ihre eigene Schauspielerin auf. Sie hätte darüber laut brüllend heulen können. Sie hatte keine Gefühle für diese Frau. Für die ihr liebste Person. Die in Not war. Und sie war nur trocken und leer. Sie bekam nicht einmal feuchte Augen, wenn sie an das Bett trat. Die gelbgraue Haut. Das verschrumpelte Gesichtchen. Die dünnen Härchen. Die winzigen Händchen. Der Geruch. Ihr wurde nur der Hals trocken, und sie verschluckte sich an der Trockenheit tief im Rachen. Sie war eine schreckliche Person. Dabei hätte sie diese Personen. Die Tante Trude und den Onkel Schottola. Sie hätte diese Personen so gerne geliebt. Umfangen und geliebt. Gerettet. Sie hätte sie einsammeln wollen und wegführen. Wegfahren. Auf eine griechische Insel. Eine Insel schien ihr der richtige Ort. Vom Meer umspült und sicher. Auf eine Insel gerettet. Aber die griechischen Inseln waren von Erdbeben bedroht und glühend heiß. In den Norden. Das wäre besser gewesen.