«Du kennst das ja. «sagte sie. Sie trat vom Fenster zurück. Schaute hinaus.»Du kennst das ja. Das ist allein schon eine Katastrophe. Ich wusste aber gar nicht, dass ich ein Kind bekomme. Wenn ich das gewusst hätte. Vielleicht hätte es keine Fehlgeburt gegeben. Vielleicht hätte ich das verhindern können. Aber was hätte ich gemacht, wenn ich dieses Kind bekommen hätte. Ich wäre zu euch geflüchtet. Ich hätte nicht mit diesem Mann in London gegessen und wäre nicht auf die Idee gekommen, dass er. Dann hätte ich ein Kind, von dem ich nichts wüsste. Ich wüsste nicht einmal, wie es zustande gekommen war. War ich einverstanden. War ich dagegen. Ich war wahrscheinlich so besoffen, dass man mit mir machen konnte, was man wollte. Ein bisschen Dormalon. Dormikum. Eatan. Imeson. Novanox. Oder so. Das Pflaster von der Injektion hatte ich ja noch in der Armbeuge. Aber ich hätte es dann genauso gemacht wie meine Mutter. Es hätte zumindest genauso ausgesehen. Das macht mich mehr fertig als alles andere. Diese Frage. Am Ende steigt einem dann auch noch die Sorge auf, dass dieser Mann der unbekannte Vater sein könnte. Der von mir. Das immerhin nicht. Das wissen wir jetzt genau. Das wäre dann so schlimm gewesen. Das kann ich mir gar nicht vorstellen. Aber die Angst. Die hatte ich schon.«
Sie lehnte mit dem Rücken gegen das Fenster. Sie hatte geschwitzt. Trotz der Klimaanlage. Die Scheibe drückte den feuchten Stoff ihres Sommerkleids gegen die Haut. Sie ging zur Tür. Stand da. Horchte. Stille. Sehr weit weg Geräusche. Aber ungenau. Nur die Welt.
Sie setzte sich wieder. Der Widerschein von draußen. Die Gestalt der Frau im Bett schattig. Sie atmete leiser. Sie dachte, die Tante Trude atmete leiser. Selbstverständlicher. Sie beugte sich vor.
«Das Schönste war das Nachhausefahren. Wenn du dann wieder da warst und wieder geredet wurde. Der Onkel. Der hat ja nichts gesagt. Wenn du weg warst. Dann ist der verstummt. Wir sind da gegangen und haben nichts geredet. Das war auch schön. Versteh mich richtig. Es gab nur so ein Gegrunze. Ein Grunzer, und wir wussten, dass wir eine Pause machen sollten. Jausnen. Und ein Grunzer, wenn es weitergehen sollte. Weißt du, du kannst nicht aufgeben. Der Onkel kann ja nur reden, wenn du dabei bist. Er hat zu reden begonnen, wenn er dich angerufen hat. Und wenn du dann gekommen bist und uns abgeholt hast. Dazwischen war es, als könnte er gar nicht sprechen. Für mich war das sehr gut. Ich muss so etwas wie ein kleines Hündchen gewesen sein. Am Anfang. Ein kleiner Hund, dem man Vertrauen beibringen muss. Ich durfte ja die Richtung bestimmen. Den ersten Schritt durfte ja ich bestimmen, und danach bin ich hinter dem Onkel hergelaufen. Trotzig. Immer trotzig. Bis der Trotz vor Müdigkeit vom Gehen keinen Platz mehr hatte. Und dann kamst du, und das war wie eine Erlösung. Reden und lachen und essen.«
Die Stimme erstarb ihr. Sie hätte weinen können. Sie setzte sich auf. Sie hätte um sich geweint. Um die Person, die hinter diesem Pflegevater hinterhergetrottet war. Die alles gehasst hatte. Damals. Die nicht erwachsen werden hatte wollen, und warum auch. Sie hatte es der Tante Trude sehr schwergemacht.
Sie stand auf. Holte das Mineralwasser vom Fensterbrett. Hielt die Flasche. Setzte sich wieder. Stand auf. Ging an die Tür. Singen. Sie hatte ein Bedürfnis zu singen. Sie hätte gerne etwas Beruhigendes gesungen. Es war ein schönes Bedürfnis. Sie setzte sich. Sie stellte die Flasche unter das Bett. Nahm die Hand der Tante und stellte sich vor zu singen. Ein Schlaflied. Ein Kinderlied.
Musik. Das war nun auch ein Versäumnis. Die Umstände und das, was sie aus den Umständen mit sich machen hatte lassen. Es hatte nie zu regelmäßigen Klavierstunden geführt. Sie war eingeschrieben gewesen. In der Musikschule Stockerau. Sie hatte begonnen. Die Schottolas hatten ein Klavier ausgeborgt. Das Klavier war in das Wohnzimmer gestopft worden. Aber sie hatte nicht geübt. Warum hatte sie nicht geübt. Was war das gewesen. Sie hatte spielen können wollen. Es war auch klar gewesen, dass man dazu üben musste. Dass dieses komplizierte Ding gelernt werden musste. Sie hatte es sich sogar sehr gewünscht. Aber sie hatte nicht geübt. Sie war vor dem Klavier gesessen. Aber sie hatte nicht geübt. Was hatte sie davon abgehalten. Warum hatte sie sich um dieses Vergnügen gebracht. Um dieses Können. Nichts als Verschwendung. Und wie lange ging das noch. Wie lange musste sie nun vor den Klavieren sitzen und ihrer Behinderung zusehen. Ihrer Hemmung. Ihrem Nichtkönnen. Ihrer Leblosigkeit.
Sie zog den Sessel hinauf. Näher zum Kopfende des Betts. Sie lehnte sich im Sessel zurück. Hielt die Hand der Tante. Schaute zum Fenster hinaus. So war das also. Sie war müde. Ausgelaugt. Das war das richtige Wort. Ausgelaugt. Es war nichts in ihr drinnen als so eine Blässe. Eine nebelig schmutzige Blässe. Draußen. Am Himmel. Ganz weit am Ende im Westen. Ein dünner heller Streifen. Allerletzte Reste von Sonne. Sie blieb sitzen. Die zwei Schritte ans Fenster hätten sie nicht näher gebracht. Wenn man rechtzeitig wegfuhr. Mit dem Auto. Mit dem Auto von Wien weg. Wenn man schnell vorankam. Dann konnte man dem Sonnenuntergang nachfahren. Bis München ging das gut. In München erreichte einen dann die Nacht ja doch. Aber der Streifen am Himmel vorne. Der war die ganze Zeit gleich breit. Eine Jagd nach dem Sonnenuntergang war das. Im Flugzeug ging das nicht. Da saß sie ja nicht im Cockpit. Seit sie nur noch Gangplätze vertrug, konnte sie im Flugzeug gar nichts mehr sehen.
Sie schloss die Augen. Hielt die Hand. So war das alles. Weißtrübe Flecken. Dann Dunkelheit. Das Summen all der Maschinen rundherum. Ein vielstimmiges feines Gesumme rundherum. Das Atmen der Kranken. Ihr eigenes Atmen. Es passte sich dem Atem der Kranken an. Sie fand sich tief Luft holen. Die Helligkeit im Kopf verschwommener. Leichter. Die Hand in ihrer. Wenn es so sein musste. Sie war gekommen. Sie hatte die Tante erreicht. Das war das Wichtigste. Die Umstände. Darüber konnte sie sich später Gedanken machen. Erstaunlich war, dass sie das konnte. So einfach. Dass sie keinen Augenblick überlegen hatte müssen. Sie hätte gedacht, dass sie Ausflüchte finden würde. Dass sich ihr Ausflüchte anbiedern würden. Andere Verpflichtungen. Der Kurs in Nottingham. Die Marina in London. Sie hätte von sich gedacht, dass sie vor dem Sterben einer Person davonlaufen würde. Müsste. Dass sie dieses Leid vermeiden würde. Aber es war keinen Augenblick eine Frage gewesen. Ja. Sie dachte jetzt erst darüber nach. Sie öffnete die Augen. Schüttelte den Kopf. Die psychologische Evaluation. Ihre eigene psychologische Evaluation war nicht richtig gewesen. Sie schloss die Augen wieder. Das kam alles, weil sie keinen Grundkurs besucht hatte. Das kam alles davon, dass sie eine Surfermentalität hatte. Zu individualistisch. Die Ausbildner nannten es wahrscheinlich faul. Faulheit. Faul. Lazy. Sie war lieber lazy als faul. Lazy. Mit dem Wort. Da saß sie schon am Strand. Der heiße Sand oben. Das Hinterteil in die feuchte Kühle darunter eingegraben. Und hinausschauen. Die Wellen anschauen. Sich bei jeder Welle vorstellen, wie sie zu surfen wäre. Sie war eine Conceptsurferin. Sie stellte sich das mehr vor. Die anderen da. Die nannten sie auch lazy. Aber die konnten nicht wissen, dass sie selbst vom Meer nichts erwartete. Die waren alle so sicher, dass das Meer ihnen zu Verfügung sein musste. Dass es eine Welle gab, die ihnen gehörte. Das konnte sie sich nicht vorstellen. Deshalb ließ sie so viele aus. Aber deshalb konnte sie hier sitzen und musste nicht in Cape St. Francis abhängen. Oder in Jeffreys Bay. Mit Nadja und Emilio. Oder mit Mort.
Fit wäre sie ja gewesen. Das immerhin. Sie musste laufen gehen. Am besten noch in der Nacht. Wenn der Onkel sie abgelöst hatte. In Wien konnte man in der Nacht laufen gehen. Das ging sonst nirgends. Sie konnte nach dem Laufen nicht schlafen. Aber sie war allein in der Wohnung. Der Onkel übernachtete manchmal da. Die Studenten waren alle irgendwo. Bei den Eltern. In Praktika. Ferien. Die Wohnung roch schon nicht mehr nach ihnen. Der Turnschuhgeruch weg. Im Auto. Hatte sie nicht Laufschuhe im Auto. Der Onkel meinte, sie solle das Auto noch mindestens ein Jahr fahren. So lange würde es halten. Ohne große Reparaturen. Abwarten, hatte er gesagt. Sie solle abwarten, was die Autoindustrie sich ausdenken würde. Wegen der Benzinkosten. Sie solle froh sein, ein kleines Auto zu fahren. Er. Mit diesem Range Rover. Den niemand haben wolle. Er könne sich das nicht mehr leisten. Was das Benzin koste. Aber jetzt einmal. Jetzt könne er so etwas nicht regeln. Und die Tante Trude. Die wolle sicherlich mit dem Range Rover nach Hause gebracht werden. Sie konnte sich das nicht vorstellen. Dass die Tante Trude wieder aufstehen konnte. Aber sie war eine Hysterikerin. Sie stellte sich gerne das Schlimmste vor. Sie musste sich das Schlimmste vorstellen und dann Weinkrämpfe haben. Fieber und Weinkrämpfe. Sie nahm die Dinge zu ernst. Zu einseitig. Sie musste das lernen. Obwohl das auch eine Fähigkeit war. Für die Planung der Sicherheit von einem Forschungslabor. Da war das ein Plus, sich das Schlimmste vorstellen zu können. Für Einsparungen in Gefängnisräumlichkeiten. Da war das nicht so brauchbar. Da war ihre Einfindung in die Situation kontraproduktiv gewesen. Sie hatte sich Einzelhaft nicht vorstellen wollen und die facilities dafür nicht vorgesehen. Verdrängt. Die Seminararbeit ein C minus. Bad. Aber auch gleichgültig. Jetzt musste die Tante Trude gesund werden. Besser. Irgendwie. Dann würde man schon weitersehen. Am Ende. Ein surfshop irgendwo. Das würde ihr Schicksal sein. Am Rand stehen und zuschauen. Nur am Rand. Dazugehören. Das mit dem Dazugehören. Das passierte irgendwie anders. Früher. Das lernten die Dominik Ebners. Sollte sie so jemanden heiraten. Das gab es ja auch noch. Aber jetzt einmal nicht. Jetzt ging es von Tag zu Tag. Die Nächte. Jetzt einmal. Sie konnte gar nichts planen. Hatte es nicht in der Hand. Sie konnte nur die Hand halten. Und wie hielt man Augenblicke fest.