Amy, sagte sie sich. Amy. Wenn du Führungsqualitäten an den Tag legen willst. Bei dem Wort» Führungsqualitäten «hätte sie gerne nach dem Wodka gegriffen. Überhaupt hätte sie gerne diese flask. Diesen Flachmann in der Hand gehalten. So wie andere mit Zigaretten hantierten. Aufschrauben und wieder zuschrauben. Gedankenverloren schwenken und ansehen. Amy, jetzt solltest du die Angelegenheit an dich reißen. Jetzt war der Augenblick für einen Auftritt. Die Frage war ja nur, wie ging man da mit Cindy um. Cindy musste benutzt werden. Denn. Cindy hatte gewonnen. Diesen Teil der Sitzung hatte Cindy gewonnen. Cindy hatte es erreicht, dass alle still blieben, solange sie so brütend dasaß. Aber. Cindy hatte die Führung so gebündelt, dass man sie ihr aus der Hand nehmen konnte.
Sie beugte sich vor.»Ist genügend Repräsentanz vor Ort?«, fragte sie. Wäre denn jemand von der Firma für Grotowski da, und würde die rechtliche Vertretung von Grotowski wirklich von den Besten wahrgenommen. In jedem Fall sollte zumindest ein britischer Anwalt die rechtliche Vertretung organisieren.
Alle wandten sich ihr zu. Gregory rasch. Anton und Heinz sahen einander an und drehten sich dann zu ihr. Der Mann am oberen Ende des Tischs schaute von seinen Papieren auf. Cindy stand auf und ging zum Fenster. Das wäre doch alles gleichgültig, sagte sie. Es wüssten doch alle, wie gleichgültig eine solche Vertretung wäre. Und alle hier im Raum wüssten, dass es gleichgültig wäre. Jeder wüsste, was in den ersten 3 Tagen mit einem Verhafteten passierte. Das machten sie schließlich als Beruf, und hier ginge es um Korruption. Ob es jemanden gäbe, der sich in dem Dschungel von Korruption da auskennte und die richtigen Leute bezahlen könnte. Die richtigen. Wohlgemerkt. Cindy drehte sich herum und schaute zu Anton und Heinz. Die schauten auf die Papiere vor sich. Anton ließ die Schultern hängen. Heinz setzte sich auf und straffte die Schultern. Er nickte und drehte sich zu Anton. Cindy ging an das flipchart und schaute auf das leere Blatt. Alle schauten wieder auf sie. Sie stand. Dann wandte sie sich in einer schnellen Drehung dem Tisch zu. Sie stand vorgebeugt und sah jedem der Männer ins Gesicht. Einzeln. Und jeder sah ihr ins Gesicht zurück. Sie konnte den Blick von jedem einzelnen Mann halten. Anton und Heinz sowieso. Aber auch Gregory war von ihr gefangen, und die Männer am anderen Ende des Tischs drehten ihre Köpfe zu ihr. Das wäre also die Reaktion, wenn einer von ihnen in Gefahr geraten wäre. In richtige und wirkliche Gefahr. Cindy richtete sich aus ihrer lauernden Haltung auf und ging an das Fenster zurück. Sie lehnte sich an das Fensterkreuz und hielt sich am Fensterbrett fest. Gegen das blendende Weiß von draußen war sie ein dunkler Umriss. Ihre blondierten Haare eine dünne Wolke um den Kopf. Cindy ließ den Kopf hängen. Wenn es nach ihr ginge. Sie schien zu ihren Schuhen zu sprechen. Wenn es nach ihr ginge. Sie würde alles mobilisieren. Und am besten bräche sie jetzt gleich auf. Sie bräuchte ein ordentliches briefing von Gregory. Sie hob den Kopf und sagte noch einmal» ordentliches briefing.«»A solid and full briefing about every little detail concerning this arrest. «Alle weiteren Informationen könnten ihr ja dann an Ort und Stelle übergeben werden. Gregory lehnte sich zurück. Ob sie in Betracht zöge, dass sie als Frau für so eine Mission nicht in Frage käme. Wenn jemand da hingeschickt würde, dann sicherlich keine Frau, mit der niemand überhaupt reden würde. Cindy lächelte Gregory arrogant an. Es gäbe immer noch Kontakte da, die sich daran erinnern könnten, dass Frauen Menschen seien. Es käme nicht in Frage, sagte Gregory. Er wiederholte es auf Englisch.»Under no circumstances. «Das Auftauchen einer renegaten Kommunistin würde die Sicherheit von Grotowski noch mehr desavouieren. Es wäre wahrscheinlich sogar günstig, Grotowskis Biographie zu unterdrücken. Wenn die afghanischen Behörden herausfänden, dass Grotowski als Vopo in der DDR begonnen hätte, dann würde ihm ohnehin gleich die Gurgel durchgeschnitten. Nein. Nein. Grotowski wäre der Angestellte der Allsecura. Das wäre ein britisches Unternehmen. Grotowski wäre damit als britischer Staatsangehöriger anzusehen. Das wäre für Grotowski einmal die beste Situation. Den Fotos nach ginge es ihm ja halbwegs. Ja. Im Internet gäbe es Fotos von Grotowski in Gefängniskleidung. Immerhin habe er Birkenstocksandalen an. Es könne also nicht so schlimm sein. Ja. Al-Jazeera habe berichtet. Das wäre die beste Nachricht. Grotowski könne nicht mehr so einfach verschwinden, wenn einmal über seine Verhaftung berichtet worden wäre. Es würde Geld kosten. Das koste eben immer Geld. Aber er habe immer und immer wieder gesehen, wie Angestellte einfach verschwanden. Wie sie hinter den Mauern von Gefängnissen oder irgendwelchen Sicherheitseinrichtungen der befreundeten Nationen verschwanden und niemand etwas tun konnte. So gesehen, habe Grotowski ohnehin die besten Karten. Und könne man jetzt zur Tagesordnung zurückkehren.
Cindy stand einen Augenblick. Gregory hatte nur zu ihr gesprochen. Sie sah weiter auf ihre Schuhe. Gregory beobachtete Cindy. Lange. Dann wandte er sich der Runde zu.
Sein Blick fiel gleich auf sie, und sie musste auf den Tisch vor sich schauen. Sie musste grinsen und konnte es nicht unterdrücken. Der Wodka macht sich lustig über ihn, dachte sie und musste das Lachen unterdrücken. Gregory hatte wieder die Kontrolle, aber er hatte schwer arbeiten müssen. Gegen Cindy und die Kameradschaft. Die kannten einander alle schon ewig. Die hatten alle die Ausbildung zusammen gemacht. Die wussten, wie das da war. Wann man angeschnauzt wurde. Wann man essen durfte. Wie das Essen geschmeckt hatte. Wie die Decken in die Matratzen gesteckt werden mussten und wie man am Tag lieber neben dem Bett auf dem Boden saß, als noch einmal die Decken festzuziehen, weil man darauf gesessen war. Die mussten nicht einmal im gleichen Alter sein. Cindy schien viel jünger zu sein als Anton. Heinz war ja schon 10 Jahre jünger. Amy, sagte sie zu sich. Amy, wirst du jetzt wirklich ehrgeizig.
«Amy. «sagte Gregory, und sie musste die Fäuste ballen, damit sie nicht laut herauslachte. Amy habe auf jeden Fall die richtigen Fragen gestellt, und er könne auf Amys Fragen nur bejahend antworten. Es sei alles Notwendige aufgereiht. An Ort und Stelle würden alle Maßnahmen getroffen, und man habe das Wohl des Mannes im Auge und nicht die Erfüllung von Rachewünschen oder Rettungsphantasien.
Sie dachte, er hatte jetzt den Weg gefunden, mit Cindy richtig fertig zu werden. Die Lacherei in ihr quoll kurz auf. Dann konnte sie wieder normal dasitzen und auf ihre Hände schauen. Sie ließ die Fäuste langsam entspannen. Wenn sie die Fäuste einfach aufmachte und die Hände locker hinlegte. Das machte auf die Fäuste aufmerksam. Alle rundherum lauerten auf solche Symptome und redeten dann stundenlang in der Kritikphase der Gruppenarbeit darüber. Sie schaute Gregory beim Reden zu und ließ ihre Fäuste erst erschlaffen. Dann setzte sie sich auf und legte die Hände übereinander. Sie war ein bisschen müde und nebelig im Kopf. Essen. Sie sollte etwas essen. Aber nicht das Kantinenessen hier. Ein einfaches Butterbrot vom Mammerl. Ein Evi-Brot vom Auerbäcker und dick Butter darauf und ein bisschen Salz. Ganz wenig Salz, und das Mammerl hätte so getan, als würde sie ganz viel Salz auf die Butter streuen, und gesagt, dass das ein Zaubersalz wäre und nur für ihr Almtscherl. Aber es ging nicht um das Mammerl. Sie hätte diese Butter auf diesem Brot haben wollen und einen Tee dazu trinken. Sie stützte die Hände auf und legte das Kinn auf die Hände. Es war alles umsonst gewesen. Es würde keine Gruppenarbeit geben. Dieser Vorfall. Sie hätte nichts trinken müssen. Sie hätte normal frühstücken können. Sie könnte durch das Fenster hinaussehen, ohne gleich Kopfschmerzen von der Helligkeit zu bekommen. Sie hätte die anderen Stiefel anziehen sollen und hinausgehen und im Schnee spazieren. Sie war wütend auf diesen Grotowski. Sie konnte sich den schon vorstellen. Der war wahrscheinlich wie Heinz. Einer, der nur so dasaß und schaute. Der nie etwas sagte und immer nur hinausging, und wenn er zurückkam, nickte er dem Anton zu, und es war etwas geschehen. Es war etwas erledigt, und sie wusste nicht, was. Sie würden ihr das nicht sagen. Sie war immer nur in diesem Sitzungssaal oder im Büro am Computer. Sie war nie nach hinten gekommen in diesen Barackenwirrwarr, und Gregory fragte sie immer nur nach den Handbüchern aus. Die Litanei vorhin war ja auch aus dem Handbuch. Es war das Konzerncredo über die Arbeit in nichtverbündeten Staaten. Sie hatte das Credo aufgesagt. Aber es ging um den Zeitpunkt. Man musste so ein Credo setzen. Man musste den genau richtigen Zeitpunkt finden. Erwischen, dachte sie. To catch the moment. Aber erwischen war netter. Ein schönes Wort. Erwischen. Sie fühlte sich mit langen Schritten durch die Luft eilen und nach etwas greifen und es dann erwischen.