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Es gäbe solche Zeiten, hatte Ginos Mutter geseufzt. Ginos Mutter war über den Balkon ins Zimmer zurückgekommen und hatte zugehört gehabt. Von draußen. Ginos Mutter rauchte. Heimlich. Vielleicht aber hatte sie gehofft, Gino würde ihr etwas erzählen. Gino könnte sich erinnern, während ihr Ingo die Erinnerungen abwehrte. Gino hatte dann fernsehen wollen. Wenn er am nächsten Morgen bei der Operation abkratze, hatte er gesagt. Dann wolle er wenigstens diese Folge von» Germany’s Next Top Model «nicht versäumt haben. Er liebe Heidi Klum. Er verehre Heidi Klum. Wenn er noch einmal auf die Welt käme, dann wolle er von Heidi Klum erzogen werden. Er hatte seine Mutter angegrinst. Sollten sie nicht Amy da einschleusen. Die wäre mit 24 zwar recht alt. Aber man sollte nichts unversucht lassen. Er würde Amy da casten lassen, und er würde die weiteren Folgen übernehmen. Er. Er würde die Allerbeste und Allerfieseste sein. Ihm könnten es gar nicht genug Ratten sein, die über sein Dekolleté tapsen sollten. Im Gegenteil. Er würde noch ganz andere Tiere ertragen. Heidi. Sie würde ihn dann so anschauen. Anschauen müssen. Er machte es nach. Ein streng prüfender Blick. Offen und leer. Ein kurzes Schmelzen in Lieblichkeit.»Well done. «Die erlösende Nachricht.»Du bist weiter. «Ach. Das wolle er erleben. Ein solche Erlösung. Er habe hier nur diesen Professor Christian. Der schaue zwar auch so prüfend. Aber er beherrsche dieses liebliche Lächeln nicht. Gar nicht. Obwohl. Er könne sich wiederum auch vorstellen, einer dieser Assistenzärzte zu sein. Und wenn er so überlege. Eigentlich sei er ja doch in so einen beauty contest geraten. Der eine Assistent. Ein schlanker Dunkelhaariger. So eine strenge Dame. Der war für eine Dauervernagelung seines Knies. Der andere Assistent. Der große Sportliche. Der offen Naive. Der den Professor offen anhimmelte. Der war für Verdrahtungen, die wieder entfernt werden sollten. Er. Gino. Er war für die strenge Dame. Natürlich. Aber der Professor Christian. Der bevorzugte den Sportlichen. Er würde verdrahtet werden. Es war aber auch ein Kompliment. Das hieß ja, dass sie ihn wiedersehen wollten.

Gino. Sie bemerkte die Träne erst, als sich ihr Kinn nass anfühlte. Rechts. Eine Träne. Aus dem rechten Auge. Sie fuhr sich mit dem Handrücken über die Wange. Das Brötchen stand vor ihr. Durchgeschnitten. Die Butter daneben. Sie nahm das Messer. Strich die Buttersemmel. Streute Salz auf die Butter. Klappte die Semmel zu. Schaute die Semmel an. Sie konnte nichts essen. Sie konnte nichts in den Mund tun. Der Mund wie gefüllt. Vollgestopft. Verschwollen. Nichts passte hinein. Sie nahm Servietten aus dem Serviettenspender auf dem Tisch. Sie breitete die kleinen Servietten so übereinander, dass sie die Semmel einpacken konnte. Sie wickelte die Semmel ein. Steckte sie in ihre Tasche.

Ginos Mutter zahlte dann. Sie sollten hinausgehen und spazieren. Hinter dem Klinikum. Da gäbe es Wiesen. Ob sie lieber allein sein wolle, fragte sie. Ginos Mutter schaute in ihre Geldbörse. Wie sie darauf kommen könne. Nein. Im Gegenteil. Sie wäre sehr froh, nicht allein warten zu müssen. Wie überhaupt. Die Frau hob die Schultern. Hielt die Luft an. Ließ die Schultern fallen. Atmete aus. Fuhr mit der Hand durch die Luft. Dass Ingo in ihrem Leben zurück sei. Die Frau schaute sie an. Presste die Lippen zusammen. Sie gab der Kellnerin 10 Euro. Die Kellnerin solle den Rest behalten. Die Kellnerin steckte das Geld ein.»Vielen Dank und alles Gute. «sagte sie.

Sie gingen in die Halle hinaus. Das Bistro nun voll besetzt. Patienten in den Anstaltsmänteln in den bayrischen Landesfarben. Angehörige. Alle redeten. Es lachte niemand. Sie schaute sich um. Alle ernsthaft und fragend. Sorgenvoll. Die Köpfe gebeugt. Schicksal.

Sie gingen weiter. Durch den Haupteingang zum Parkplatz hinaus. Sie entschuldigte sich und ging zum Auto. Legte ihre Tasche ins Auto. Verschloss das Auto. Folgte Ginos Mutter. Die wanderte um die Gebäude. Sie wolle dahin, wo man von Ingos Zimmer aus hinsehen könne, sagte sie, als sie ihr nachgekommen war. Sie fanden diese Buchenallee aber nicht. Zuerst wurden sie durch Zäune aufgehalten. Dann hatten sie eine Ausfahrt nach hinten gefunden und waren hinausgelangt. Dann aber wurden sie von einem kleinen Bach aufgehalten. Sie mussten die Straße entlanggehen. Sie konnten beide nicht mehr sagen, wo Ginos Zimmer sein hätte können. Sie gingen hintereinanderher. Ginos Mutter voraus. Die Autos knapp an ihnen vorbei. Erst nach langem Gehen kamen sie an einen Feldweg, und sie konnten ungehindert nebeneinandergehen. Sie gerieten zwischen Wiesen und leere Felder. Trockene Erde. Sie gingen auf die Berge zu. Aber die Berge hier im Bogen um das Tal. Die Himmelsrichtung. Sie dachte, dass sie eher nach Osten gegangen waren. Sie war aber nicht sicher. Die Sonne so steil über ihnen. Die Straße verlief sich dann. Getrocknete Fahrspuren. Dann niedergetrampelte Erde. Reifenspuren in alle Richtungen. Ein Bauzaun quer. Wenn Ingo nicht mit der Polizei reden wollte, dann würden sie die Unterstützung von den Opferhilfen nicht bekommen können. Keine Aussage. Kein Opfer. Keine Opferhilfe. Ginos Mutter hatte die Hände am Rücken ineinandergelegt. Sie schaute auf den Boden. Das mache ihr große Sorgen. Könne sie, Amy, nicht mit Ingo reden. Sie gingen zur Straße zurück. Schwiegen.

Das handy von Ginos Mutter muhte. Ginos Mutter fühlte sich als Münchnerin dazu verpflichtet. Das Muhen von Kühen als Klingelton. Das handy muhte aus der Handtasche von Ginos Mutter. Die hörte es nicht gleich. Dann wühlte sie aufgeregt nach dem handy in der Handtasche und fand es lange nicht. Sie stand daneben. Sie hätte der Frau die Tasche aus der Hand reißen wollen. Das handy herausfischen. Sie biss sich auf die Lippen. Schaute zu den Bergspitzen hinauf. Ginos Mutter sprach ins handy. Sie wurde wütend. Fragte immer wieder.»Hallo. «und» Wer ist da.«.»Wer spricht denn. So sagen Sie doch etwas. «Dann hielt sie das Telefon weit weg. Blinzelte. Drückte herum. Richtete sich auf.»Es ist alles in Ordnung. Er ist im Aufwachraum, und ich kann in einer halben Stunde zu ihm.«

Ginos Mutter lief zum Klinikum zurück. Sie lächelte. Sie schwenkte die Tasche und lachte sie an. Sie wolle in seinem Zimmer warten. Sie müsse den Vater anrufen. Sie zog wieder die Schultern hoch. Das wäre leider notwendig. Aber er zahle dazu. Das Einzelzimmer. Die Frau seufzte.

Sie waren rasch zurück. Auf dem Parkplatz. Ginos Mutter hatte das handy am Ohr. Sie winkte ihr. Deutete ihr, dass sie mit dem Auto wegfahre, aber wiederkäme. Gegen Abend. Ginos Mutter beendete die Verbindung. Sie habe Amy nicht vertreiben wollen. Aber ins Aufwachzimmer. Da durfte immer nur ein Angehöriger hinein. Hygienevorschriften. Überall. Sie habe jetzt genügend Erfahrung mit Aufwachzimmern. Sie kenne sich jetzt genau aus. Die Frau sah verloren um sich. Was solle Amy machen. Der Ingo wäre sicher erst am Nachmittag wieder in seinem Zimmer.

Sie umarmte Ginos Mutter. Sie solle ihrem Ingo einen Kuss von ihr geben. Ihren Ingo von ihr grüßen. Sie käme dann am Nachmittag. Am Abend. Bis Gino wieder lustiger wäre. Sie freue sich, dass das jetzt einmal vorbei wäre. Sie melde sich. Ginos Mutter habe ja ihre Handynummer. Sie solle es gut machen. Ginos Mutter hielt sie fest. Kurz. Dann ging sie durch den Eingang davon. Sie schaute schon wieder auf ihr Telefon und hielt es dann ans Ohr.

Im Auto war es heiß. Sie schob ihre Tasche auf den Beifahrersitz und ließ sich fallen. Wie fuhr sie jetzt am besten nach Kötzting. Über München. Wahrscheinlich über München. Von hier aus Murnau gab es keinen anderen Weg. Die Berge versperrten alle anderen Richtungen. Wahrscheinlich konnte sie über Bad Tölz auf die Autobahn nach Salzburg und von da nach Passau. Aber das war wahrscheinlich ein Umweg. Der Range Rover hatte kein GPS. Sie konnte den Weg auf ihrem iPhone finden. Aber sie war zu ungeduldig, da herumzusuchen. München. Das würde angeschrieben sein. Sie wollte Schilder. Große, riesige Schilder. Autobahnbreite Schilder, denen sie folgen konnte. München. München Flughafen. Landshut. Deggendorf. Regen. Von da an fand sie den Weg selber. Sie startete. Benzin. Sie musste tanken. Die Tankanzeige. Der Zeiger begann sich zu bewegen. Sie musste auf dieser Autobahn München — Deggendorf tanken. Auf dieser Autobahn. Da war das Fahren so langweilig, dass Tanken sowieso als Unterhaltung gelten konnte. Sie fuhr an. Sie war froh, den Range Rover vom Onkel Schottola zu haben. Sie saß so hoch oben. Sah die Welt ausgebreitet vor sich. Saß nicht so tief am Grund der Straße wie mit dem Kia.